Spruch
L506 2303467-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Margit GABRIEL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Pakistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein pakistanischer Staatsangehöriger, wurde am XXXX von Beamten der PI XXXX beim Versuch, vier indische Staatsangehörige ohne Dokumente von Italien über die Schweiz durch Österreich nach Deutschland zu schleppen, festgenommen.
1.2. Der BF wurde am XXXX in die JA XXXX eingeliefert.
1.3. Über den Beschwerdeführer wurde mit Beschluss des LG XXXX vom XXXX , GZ. XXXX , wegen des dringenden Verdachts des Verbrechens der Schlepperei gem. § 114 Abs. 3 FPG die Untersuchungshaft verhängt.
2.1. Am XXXX wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eine Anfrage an die italienischen Behörden zum Aufenthaltsstatus des BF in Italien und ein Ersuchen auf Rückübernahme gestellt.
2.2. Am XXXX teilte die italienischen Behörde mit, dass der BF im Besitz eines Aufenthaltstitels, Permesso di Soggiorno Nr. XXXX , gültig von XXXX bis XXXX sei.
3. Am XXXX , rk am XXXX , wurde der BF mit Urteil des LG XXXX , GZ. XXXX , wegen des Verbrechens der Schlepperei nach §§ 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 2 und Abs. 4 FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
4. Am XXXX teilte das Ministero dell‘Interno, Direzione Centrale dell’Immigrazione e della Polizia delle Frontiere dem BMI mit, dass der BF aufgrund seines Aufenthaltstitels in Italien formlos von Österreich nach Italien überstellt werden könne.
5. Am XXXX , RK XXXX , wurde mit Bescheid des BFA vom XXXX eine Anordnung zur Außerlandesbringung - Rückübernahme gemäß § 61 Abs. 1 Z 3 FPG erlassen.
6. Mit Beschluss des LG XXXX vom 09.09.2024, Zl. XXXX , wurde dem BF die bedingte Entlassung aus der Strafhaft am XXXX nach Verbüßung von 2/3 der Freiheitsstrafe gewährt.
7.1. Am XXXX stellte das BFA - mit Voravisierung der Rücküberstellung am XXXX ein neuerliches Ersuchen um Rückübernahme an Italien.
7.2. Am XXXX wurde von der italienischen Behörde mitgeteilt, dass der BF keinen gültigen Aufenthaltstitel in Italien mehr habe, da der aus Arbeitsgründen erlassene Aufenthaltstitel im März XXXX abgelaufen und nicht verlängert worden sei. Eine Rückübernahme des BF werde abgelehnt, da der BF nie über internationalen oder subsidiären Schutz in Italien verfügt habe.
8.1. Am XXXX zeigte sich der BF in einem fakultativem Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 1 BFA-VG rückkehrwillig in Hinblick auf Italien und beantragte Unterstützungsleistungen (Deckung der Heimreisekosten) für seine Rückkehr.
8.2. Mit Erledigung des BFA vom XXXX wurde der Antrag des BF auf unterstützte freiwillige Rückkehr aufgrund der Schwere der Verurteilung abgelehnt.
9. Am XXXX wurde der BF durch einen Organwalter des BFA niederschriftlich einvernommen. Der BF wurde darüber informiert, dass aufgrund seiner Straffälligkeit beabsichtigt sei, gegen ihn eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen.
Der BF gab dabei an, gesund und arbeitsfähig zu sein. In Italien würde sich seine Familie (Eltern und jüngere Geschwister) aufhalten und er wolle nach Italien zurückkehren. Er habe sich in Italien seit seinem XXXX . Lebensjahr aufgehalten, habe dort eine Schule besucht, jedoch nicht abgeschlossen, und sei als Kellner und Dolmetscher erwerbstätig gewesen. In Pakistan habe er die Schule besucht und er verfüge dort über Großeltern und weitere Verwandte und Freunde, mit denen er in Kontakt stehe. Zu Österreich habe er außerhalb der Haftanstalt keine Anknüpfungspunkte, spreche aber Deutsch zumindest auf A2-Niveau.
10. Mit dem gegenständlich angefochten Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem BF eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.). Gem. § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gem. § 46 nach Pakistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 8 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. (Spruchpunkt IV.) Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt. (Spruchpunkt V.) Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG wurde einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.)
10.1. Es wurden Feststellungen zur Person des BF, zu seinem Aufenthalt in Österreich, zu seinem Privat- und Familienleben, zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbotes, für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und die Nichterteilung einer Frist zur freiwilligen Ausreise sowie länderkundliche Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen.
10.2. Beweiswürdigend wurde ua. dargelegt, dass der BF aufgrund der von ihm begangenen Verbrechen nach dem FPG eine gegenwärtige und schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle.
10.3. Rechtlich führte das BFA aus, dass die Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG vorliegen würden. Schon aufgrund der Verurteilung des BF wäre die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes möglich gewesen und seien zudem in der JA gegen den BF 10 Ordnungsstrafen erlassen worden, doch sei vom BFA aufgrund der persönlichen Situation des BF die Verhängung eines Einreiseverbotes im Ausmaß von 8 Jahren zur Erwirkung eines Sinneswandels als ausreichend erachtet worden. Die sofortige Ausreise des BF sei aber im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich, weshalb die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und die Versagung der Frist für eine freiwillige Ausreise unabdinglich seien.
11. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde über den BF gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG im Anschluss an seine Haftstrafe die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Sicherung der Abschiebung angeordnet.
12.1. Am XXXX wurde der BF über seine bevorstehende Abschiebung am XXXX in Kenntnis gesetzt.
12.2. Von der geplanten Abschiebung wurde aufgrund der Beschwerde des BF (Punkt 14.) Abstand genommen.
13. Mit E-Mail vom XXXX teilte die Rechtsvertretung des BF mit, dass der BF nunmehr aufgrund der nachträglichen Verlängerung über einen provisorischen Aufenthaltstitel in Italien verfüge.
14. Gegen den oa. Bescheid des BFA erhob der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung fristgerecht mit Schriftsatz vom XXXX Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (nachfolgend: BVwG). Zu deren Inhalt im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen (zur Zulässigkeit dieser Vorgangsweise: VwGH 16.12.1999, 99/20/0524).
14.1. Nach kurzen Ausführungen zur Rechtzeitigkeit der Beschwerde wurde dargelegt, dass sich der gesamte Lebensmittelpunkt des BF in Italien befinde. In Pakistan habe er kaum Anknüpfungspunkte und wäre er auch nicht selbsterhaltungsfähig. Zudem bestehe ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem BF und seiner Familie in Italien, da der Vater des BF altersbedingt nicht mehr arbeitsfähig und die Mutter Hausfrau sei, die beiden jüngeren Geschwister seien noch minderjährig, weshalb er den Lebensunterhalt für die Familie verdienen müsse.
14.2. Der BF monierte, dass sich im gegenständlichen Bescheid keine nachvollziehbare Begründung für die Erlassung des Einreiseverbotes und insbesondere für dessen Dauer finde und lediglich mit der Strafakte des BF begründet worden sei. Auch habe es das BFA unterlassen, in Hinblick auf das Privat- und Familienleben des BF die Situation im EU- bzw. Schengenraum zu berücksichtigen. Ebenso sei die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung lediglich mit der Straffälligkeit des BF begründet worden, doch sei der BF vor Begehung seiner Straftat strafgerichtlich unbescholten gewesen und stelle keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.
14.3. Es wurden die Anträge gestellt, das BVwG möge
-) eine mündliche Verhandlung zur Klärung des maßgeblichen Sachverhalts anberaumen;
-) allfällige zu Lasten des BF gehenden Rechtswidrigkeiten des angefochtenen Bescheides amtswegig aufgreifen;
-) den angefochtenen Bescheid zur Gänze beheben bzw. dahingehend abändern, dass die Rückkehrentscheidung für unzulässig erklärt werde;
in eventu:
-) das Einreiseverbot beheben bzw. zumindest die Dauer des Einreiseverbotes verkürzen;
in eventu:
-) den angefochtenen Bescheid ersatzlos beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückverweisen;
-) die ordentliche Revision zulassen.
14.4. Der Beschwerde wurden eine Vollmacht, ein Arbeitsvertrag des BF in Italien, ein italienischer Führerschein des BF, ein italienisches Identitätsdokument des BF, die „Verlängerung“ des italienischen Aufenthaltstitels und italienische Identitätsdokumente der Familie des BF beigeschlossen.
15. Die gegenständliche Beschwerde langte samt den Bezug habenden Verwaltungsakten am XXXX beim BVwG ein.
16. Am 29.11.2024 langte beim BVwG das angeforderte Urteils des LG XXXX vom 14.12.2022, Zl. XXXX , ein.
17. Mit hg. Beschluss vom XXXX , L506 XXXX wurde der Beschwerde gem. § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
18. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, zu der die Verfahrensparteien geladen wurden.
19. Hinsichtlich des Verfahrensganges und des Parteivorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger von Pakistan; seine Identität steht fest.
Der BF ist ledig, gesund und arbeitsfähig.
1.1.2. Der BF ist am XXXX in XXXX , Pakistan, geboren und hat dort die Schule (High School, Senior School) bis zur Ausreise im Jahr XXXX besucht. Er verließ XXXX mit seiner Mutter und seinen Geschwistern sein Heimatland und hielt sich seitdem in XXXX /Italien auf, wo sein Vater bereits seit etwa XXXX lebt. Er spricht Urdu auf muttersprachlichem Niveau und Italienisch, aber auch Panjabi, Hindi, Englisch und Deutsch.
Dem BF wurde in Italien eine „permesso di soggiorno“ erteilt, welche bis XXXX befristet war. Der BF hat einen Verlängerungsantrag gestellt und erhielt von den italienischen Behörden aktuell die Bestätigung, dass das Dokument (Aufenthaltsbestätigung) bei der Fremdenpolizei in XXXX zur Abholung bereit liege.
Die italienischen Behörden beauskunfteten am XXXX die Anfrage der österreichischen Behörde dahingehend, dass der BF im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels, Permesso di Soggiorno Nr. XXXX , ausgestellt am XXXX durch die Questura in XXXX , gültig bis XXXX , sei und am XXXX , dass der BF über keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr verfüge und der aus Arbeitsgründen erlassene Aufenthaltstitel im März XXXX abgelaufen und nicht verlängert worden sei.
Der BF war in Italien in verschiedenen Branchen (Verkauf, Gastronomie) und als Dolmetscher tätig.
1.1.3. In Österreich verfügt der BF - mit Ausnahme der in der Haft geknüpften Kontakte - über keine privaten oder familiären Anknüpfungspunkte. Er spricht Deutsch auf unbestimmten Niveau.
Die Familienangehörigen des BF (Eltern und Geschwister) sind in Italien aufhältig.
Der BF verfügt - mit Ausnahme seiner Familie in Italien - im Schengenraum über keine näheren Verwandten.
Der BF ging im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt einer angemeldeten Erwerbstätigkeit nach und war abgesehen von den Zeiten seiner Anhaltung in Untersuchungs- sowie Strafhaft bzw. Schubhaft in österreichischen Justizanstalten seit XXXX nie aufrecht gemeldet.
1.1.4. In seinem Herkunftsland verfügt der BF über Verwandte (Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins) und einen Freundeskreis; er steht in Kontakt mit ihnen.
Die Familie des BF besitzt in Pakistan ein Haus und Grundstücke.
Dem BF ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens in Pakistan möglich und zumutbar.
1.1.5. Zur Straffälligkeit des BF:
Der BF wurde am XXXX von Beamten der PI XXXX beim Versuch, vier indische Staatsangehörige ohne Dokumente von Italien über die Schweiz durch Österreich nach Deutschland zu schleppen, festgenommen und am XXXX in die JA XXXX eingeliefert. Mit Beschluss des LG XXXX vom XXXX , GZ. XXXX , wurde über den BF die Untersuchungshaft verhängt.
Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX , rk am XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens der Schlepperei nach §§ 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 2 und Abs. 4 FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dem Urteil lag zugrunde, dass der BF als Mitglied einer kriminellen Vereinigung die rechtswidrige Durchreise Fremder, nämlich von vier indischen Staatsangehörigen, mit dem Vorsatz förderte, sich und die weiteren Mitglieder der Schlepperorganisation durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, indem er sie mit seinem PKW von Italien durch die Schweiz über den Grenzübergang Oberriet/Meiningen nach Österreich brachte und in XXXX nach Deutschland auszureisen versuchte, wofür die Geschleppten der Organisation ein Gesamtentgelt in Höhe von umgerechnet EUR 16.000,-- zu bezahlen hatten.
Der BF zeigte sich in der strafgerichtlichen Verhandlung teilweise geständig.
Als strafmildernd wurden vom Strafgericht das Geständnis des BF bezüglich dem Grunddelikt sowie der Qualifikation nach § 114 Abs. 3 Z 2 FPG, die Konfiskation des Fahrzeuges samt Schlüssel und Zulassung sowie sein bisher ordentlicher Lebenswandel und dass die Tat damit in auffallendem Widerspruch steht, gewertet. Erschwerend war die doppelte Qualifikation, also zusätzlich § 114 Abs. 3 Z 2 FPG neben § 114 Abs. 4 FPG, des Verbrechens der Schlepperei.
Der BF befand sich seit XXXX in Anhaltung bzw. Untersuchungs- und Strafhaft. Er wurde am XXXX aus der Strafhaft entlassen und in Schubhaft genommen.
Während seiner Strafhaft wurden über den BF 10 Ordnungsstrafen verhängt. Diesen Ordnungsstrafen lagen ein Streit mit einem Mithäftling, unerlaubter Medikamentenbesitz, Verstöße gegen die Hausordnung, unerlaubter Gewahrsam eines USB-Sticks, eine positive Harnprobe und eine sonstige Pflichtverletzung zugrunde und wurden mit Verweis, Entziehung des Fernsehrechts für 3 Tage, Abmahnungen, Geldbußen und einer Geldstrafe geahndet.
1.1.6. Der BF stellt aufgrund seines strafbaren Verhaltens eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Gemeinschaft dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Eine positive Zukunftsprognose bezüglich seines Verhaltens konnte nicht erstellt werden.
1.1.7. Es können keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, in Pakistan einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Pakistan in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würde oder als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen Konfliktes ausgesetzt wäre.
Zum Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in seinem Herkunftsstaat festgestellt werden.
Es konnten keine Umstände festgestellt werden, dass die Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat Pakistan gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.
1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat wird festgestellt:
Covid-19
COVID-19 wurde in Pakistan erstmals im Februar 2020 festgestellt. Mit 23. März 2020 wurden Eindämmungsmaßnahmen beschlossen, die selektive Quarantänen, Grenzschließungen, Reisebeschränkungen, Verbot öffentlicher Veranstaltungen, soziale Distanzierungsmaßnahmen und die Schließung von Bildungseinrichtungen beinhalteten. Nach einem Höhepunkt Mitte Juni 2020 sanken die Zahlen wieder. Nachdem in der ersten Welle strenge Lockdown-Maßnahmen eingesetzt und diese ab April 2020 schrittweise gelockert worden waren, wurden in der zweiten Welle Ende des Jahres 2020 zeitlich begrenzte, „smarte“ Lockdown-Maßnahmen eingesetzt (IMF 2.7.2021). Dabei wurden lokale Lockdowns in Gegenden eingesetzt, wo Ausbrüche festgestellt worden waren (BS 25.2.2022). Auch in der dritten Welle im März und April 2021 wurde so verfahren (IMF 2.7.2021). Mit 16. März 2022 wurden alle Maßnahmen aufgehoben (WSTO16.3.2022). Im Allgemeinen kam Pakistan besser durch die COVID-19-Pandemie als seine Nachbarländer (BS 25.2.2022).
Insgesamt sind in Pakistan bis zum 10. März 2023 1.577.411 COVID-19-Infektionen und 30.644 damit verbundene Todesfälle registriert worden (JHU 21.3.2023). Laut Gesundheitsministeriumwurden 31.572.211 Tests durchgeführt (NHM 31.3.2023a)
Die Impfkampagne wird von der COVAX, der Weltbank und der Asian Development Bank unterstützt (IMF 2.7.2021). Mit Stand 31. März 2023 sind laut offiziellen Angaben des Gesundheitsministers 139.756.271 Menschen teilweise sowie 132.537.362 Menschen vollständig immunisiert worden und 50.523.363 Menschen haben zusätzlich eine Booster-Impfung erhalten. Insgesamt wurden 304.345.598 Dosen verimpft (NHM 31.3.2023b).
[Zu Wirtschaftsdaten, sozialen Folgen und Maßnahmen siehe Kapitel Versorgungslage].
Quellen: BS - Bertelsmann Stiftung (25.2.2022): Bertelsmann Transformation Index, Pakistan Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/PAK#pos13, Zugriff 18.3.2023 IMF - International Monetary Fund (2.7.2021): Policy Responses to COVID-19, Pakistan, https: //www.imf.org/en/Topics/imf-and-covid19/Policy-Responses-to-COVID-19#P, Zugriff 18.3.2023 JHU - Johns-Hopkins-University (21.3.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://gisanddata.maps.ar cgis.com/apps/dashboards/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6, Zugriff 31.3.2023 NHM - Ministry of National Health Services Regulations Coordination [Pakistan] (31.3.2023a): COVID-19 Situation, https://covid.gov.pk/, Zugriff 31.3.2023 NHM - Ministry of National Health Services Regulations Coordination [Pakistan] (31.3.2023b): Vaccine Stats,https://covid.gov.pk/vaccine-details, Zugriff 31.3.2023 WSTO - Wallstreet-Online (16.3.2022): Pakistan hebt Corona-Maßnahmen auf, https://www.wallst reet-online.de/nachricht/15190818-pakistan-hebt-corona-massnahmen, Zugriff 21.3.2023
Politische Lage
Allgemeine Strukturen
Pakistan ist ein Bundesstaat mit den vier Provinzen Punjab, Sindh, Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa sowie dem Hauptstadtterritorium Islamabad (AA 27.10.2023). Die Stammesgebiete im Nordwesten des Landes, die ehemaligen Federally Administered Tribal Areas bzw. Stammesgebiete unter Bundesverwaltung und Provincially Administered Tribal Areas bzw. Stammesgebiete unter Provinzverwaltung, wurden nach einer Verfassungsänderung 2018 in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert und damit die nationalen und verfassungsmäßigen Rechte auf diese Gebiete ausgedehnt (ICG 14.2.2022). Pakistan kontrolliert außerdem die Gebiete Gilgit-Baltistan sowie Azad Jammu und Kaschmir auf der pakistanisch verwalteten Seite von Kaschmir (AA 27.10.2023).
Pakistan ist eine föderale parlamentarische Republik (USDOS 20.3.2023). Es werden regelmäßig Wahlen im Wettbewerb eines Mehrparteiensystems abgehalten (FH 2023). Die Nationalversammlung besteht aus 342 Abgeordneten, die für fünf Jahre gewählt werden. Zehn der Sitze sind für Nicht-Muslime reserviert, 60 für Frauen. Der Senat hat 100 Mitglieder. Der Premierminister wird für fünf Jahre durch die Nationalversammlung gewählt (EB 19.1.2024). Der Präsident hat eher eine symbolische Funktion und wird ebenfalls für fünf Jahre durch ein Wahlkollegium aus den beiden Häusern des Parlaments und den Provinzversammlungen gewählt (FH 2023; vgl. EB 19.1.2024).
Trotz der Existenz formaler demokratischer Institutionen übt das mächtige militärische Establishment de facto einen starken Einfluss aus. Dies hemmt die Entwicklung der demokratischen Institutionen (BS 23.2.2022). Eine lange Reihe an politischen Domänen wird dem Militär überlassen - von der nationalen Sicherheitspolitik bis zur Außenpolitik. Dem Militär wird auch immer wieder vorgeworfen, sich in den Wahlprozess einzumischen (BS 23.2.2022; vgl. FH 2023). Auch Gruppen, die ökonomische Eliten vertreten, haben oft enge Verbindungen zum Staat. Ebenso profitieren religiöse Gruppen vom Zurückgreifen des Staates auf den Islam als ideologische Legitimation. Zwar gab es Fortschritte in einigen Bereichen, doch vieles in der Politik des Landes ist weiterhin an klientelistischen Diensten orientiert und von traditionellen Eliten aus den vermögenden Klassen dominiert (BS 23.2.2022).
Wahlen 2018 und PTI-Regierung
Die Aufdeckung der Übersee-Konten des zu diesem Zeitpunkt amtierenden Premierministers Nawaz Sharif und seiner Familie im Zuge von internationalen Ermittlungen von Journalisten, den „Panama Papers“, führte zu einer gerichtlichen Verurteilung und dessen Amtsenthebung (ICIJ 3.4.2023). Bei den folgenden Parlamentswahlen 2018 gewann die Partei Pakistan Tehreeke-Insaf (PTI) die meisten Sitze in der Nationalversammlung, und der Parteivorsitzende, Imran Khan, wurde Premierminister. Während unabhängige Beobachter einerseits technische Verbesserungen in der Durchführung des Wahlprozesses festgestellt haben, äußerten Beobachter, zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien Bedenken hinsichtlich Einflussnahmen durch Militär und Geheimdienst im Vorfeld der Wahlen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 2022a). So dokumentierten Beobachter konzertierte Anstrengungen von Teilen des militärischen und richterlichen Establishments, die Pakistan Muslim League-Nawaz (PML-N) des abgesetzten Premierministers Nawaz Sharif zu behindern (FH 2022a; vgl. BS 25.2.2022). Dies beinhaltete Strafverfahren u.a. in Bezug auf Korruption und Terrorismus sowie die Ablehnung von Entlassungen gegen Kaution bis nach den Wahlen. Außerdem berichteten Beobachter von Druck und Einflussnahme auf die Medien durch den Sicherheitsapparat, der zu einer gedämpften Berichterstattung über den Wahlkampf der PML-N geführt hat (FH 2022a). Imran Khan wurde, Berichten zufolge, damals vom Militär gestützt (Guardian 24.5.2023; vgl. SZ 13.6.2023, BS 23.2.2022, FH 2022a, Guardian/Khokhar 24.5.2023).
Khan hatte die Korruptionsbekämpfung zu seiner politischen Botschaft erhoben. Doch nach seinem Sieg konzentrierte sich die folgende Korruptionsbekämpfung auf die vorangegangenen Regierungsparteien Pakistan Peoples Party (PPP) und PML-N bzw. die sie dominierenden Familiendynastien (DIP 9.10.2021; vgl. ICIJ 3.10.2021, BS 23.2.2022). Die Korruptionsermittlungen gegen führende Mitglieder und Parlamentarier der großen Oppositionsparteien und der Unwillen, sie hinzuzuziehen, führten zu einer Hemmung der parlamentarischen Arbeit und der Gesetzgebung (DAWN 17.3.2022).
Im Oktober 2020 gelang es den beiden Großparteien PPP und PML-N, sich unter dem Namen Pakistan Democratic Movement zu einer Allianz aus insgesamt elf Oppositionsparteien zu vereinen und zu breiten Demonstrationen zu mobilisieren (BS 23.2.2022; vgl. FH 2022a).
Die starke politische Polarisierung erhöhte außerdem den Einfluss des militärischen Establishments weiter. Gleichzeitig war die PTI-Regierung auch selbst in der Umsetzung ihrer Politik durch dieselben Hindernisse gehemmt wie frühere Regierungen. Der Großteil der Abgeordneten der PTI setzte sich aus den traditionellen politischen und ökonomischen Eliten zusammen, die als Hemmschuh für Änderungen agieren, die ihre Interessen gefährden (BS 23.2.2022). Im Oktober 2021 wurden so auch Verstrickungen von Mitgliedern bzw. Geldgebern des PTI-Kabinetts, aber auch hoher Militärs, in illegale Geldgeschäfte durch die internationalen Ermittlungen der „Pandora Papers“ aufgedeckt (DIP 9.10.2021; vgl. ICIJ 3.10.2021).
Misstrauensvotum und folgende politische Krise
Im März 2022 kam es schließlich erstmals zu Gewalt von protestierenden Anhängern und Abgeordneten der Regierungspartei PTI, die versuchten, das „Sindh House“, die Vertretung des Sindh in Islamabad, zu stürmen. Dorthin hatten sich abtrünnige Abgeordnete der eigenen Partei in Sicherheit gebracht, nachdem sie angedeutet hatten, einen geplanten Misstrauensantrag der geeinten Opposition gegen Premierminister Khan zu unterstützen (GeoNews 18.3.2022). Zwei Minister hatten zuvor Gewalt andeutende Drohungen gegen ebenjene Abgeordneten ausgesprochen (HRW 16.3.2022).
Ein für 3. April 2022 angesetztes Misstrauensvotum gegen den damaligen Premierminister Khan wurde mit dem Argument, es sei von den USA initiiert und damit die Einflussnahme eines fremden Staates unter Verweis auf Artikel 5 der Verfassung, der alle Bürger zur Loyalität dem Staat gegenüber verpflichtet, untersagt (ExT 3.4.2022a). Mit demselben Argument wurde die Nationalversammlung vom Präsidenten auf Bitte des Premierministers aufgelöst und Neuwahlen angekündigt (ExT 3.4.2022b; vgl. Zeit online 3.4.2022). Der Supreme Court erklärte jedoch vier Tage später dieses Vorgehen für verfassungswidrig und ordnete die Wiedereinsetzung der Nationalversammlung sowie der ausgesetzten Abstimmung an (ExT 7.4.2022). Es folgte die Absetzung Khans im Misstrauensvotum und die Wahl des Oppositionsführers Shabaz Sharif, Vorsitzender der PML-N, zum neuen Premierminister durch die Nationalversammlung (Zeit online 11.4.2022).
Aus Protest zog der Abgesetzte mitsamt seiner Partei aus der Nationalversammlung aus (ExT 14.4.2022) und initiierte eine dauerhafte, landesweite Kampagne von Demonstrationen (DAWN 20.4.2022; vgl. CNN 1.4.2023). Mit der Verlegung der Oppositionsarbeit vom Parlament auf die Straße versuchte Khan vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen und dafür auch das Militär zu gewinnen (ICG 27.12.2022).
Zu einer ersten Zuspitzung der Lage führte ein Attentat am 3. November 2022, bei dem Khan im Zuge eines „Marsches nach Islamabad“ angeschossen wurde. Es kam zu Demonstrationen vor Militäreinrichtungen (AI 27.3.2022). Khan beschuldigt Premierminister, Innenminister und Geheimdienstchef, Drahtzieher gewesen zu sein (ICG 27.12.2022).
Als weitere Entwicklung trugen die politischen Kräfte ihre Kämpfe verstärkt vor die Gerichte (CNN 1.4.2023). Um allgemeine Neuwahlen zu erzwingen, veranlasste die PTI im Jänner 2023 die Auflösung der Parlamente der beiden Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Punjab und beeinspruchte eine Verschiebung der diesbezüglichen Wahlen vor Gericht (AJ 4.4.2023). Gleichzeitig laufen gegen den ehemaligen Premierminister mehrere Strafverfahren (BAMF 20.3.2023; vgl. CNN 1.4.2023). In einem der Verfahren wurde Khan durch die Wahlkommission der Korruption für schuldig befunden (AJ 21.10.2022; vgl. TNI 21.10.2022, ICG 27.12.2022). Khan leitete daraufhin selbst ein Verfahren gegen die Wahlkommission ein (TI 31.1.2023).
Ausbrüche von Unruhen
Nachdem Khan in einem seiner Verfahren nicht vor Gericht erschienen war, brachen beim Versuch seiner Festnahme im März 2023 schließlich schwere gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen seinen Anhängern und der Polizei aus (REU 20.3.2023; vgl. ExT 14.3.2023). Seine Unterstützer widersetzten sich vor seinem Haus in Lahore mit Steinen und Brandbomben den Polizisten (BAMF 20.3.2023; vgl. CNN 15.3.2023). Der Haftbefehl wurde schließlich per Anordnung des Gerichts aus Sicherheitsgründen ausgesetzt (CNN 15.3.2023). Bei Khans selbstständigem Erscheinen vor Gericht in Islamabad kam es erneut zu schweren Zusammenstößen, bei denen auch ein Polizeiposten in Brand geriet (Guardian 18.3.2023; vgl. HRW 21.3.2023). Unter verschiedenen Vorwürfen in Bezug auf die Gewaltvorfälle, unter anderem Terrorismus, wurden 125 PTI-Anhänger in Lahore und 198 in Islamabad bei Razzien und Hausdurchsuchungen verhaftet (REU 20.3.2023). Human Rights Watch kritisierte die Anwendung der Terrorismus-Paragrafen (HRW 21.3.2023).
Die versuchte Verhaftung sowie Schikanen gegen Khan hatten allerdings seine Unterstützung unter der jungen Bevölkerung erhöht. Seit dem Misstrauensvotum gelang es ihm, seine Popularität auf ein davor unerreichtes Ausmaß auszubauen (Guardian 24.5.2023).
Im Mai 2023 brachen schließlich als Folge der tatsächlichen Verhaftung Khans landesweite Unruhen aus (Guardian 11.5.2023). Khans Partei rief seine Anhänger dazu auf, Pakistan „stillzulegen“ und „für Khan aufzustehen“. Die Unterstützer Khans gingen dabei so weit, dass sie Militäreinrichtungen belagerten oder stürmten (CBS 9.5.2023), darunter das in Rawalpindi gelegene Hauptquartier des Militärs (CBS 10.5.2023). Militäreinrichtungen in Peschawar, Lahore und Karatschi sowie der Stützpunkt der Air Force in Mianwali (TrI 23.5.2023; vgl. REU 26.6.2023), aber auch Regierungsgebäude und andere staatliche Einrichtungen wurden von Demonstranten angegriffen (Guardian/Khokhar 24.5.2023). Über 20 staatliche und militärische Einrichtungen wurden dabei in Brand gesetzt oder beschädigt (India Today 23.6.2023), ebenso wie einrückende Polizeieinsatzfahrzeuge. Truppen der Armee kamen im Punjab, in Islamabad und in Khyber Pakhtunkhwa zur Wahrung der Sicherheit zum Einsatz (Guardian 11.5.2023).Allerdings wurden auch Soldaten und Truppenfahrzeuge attackiert (CBS 10.5.2023).
Je nach Quelle wurden zwischen fünf (Guardian 11.5.2023) und zehn Personen bei den gewalttätigen Ausschreitungen getötet (RFE/RL 12.5.2023). Der Supreme Court erklärte am 12. Mai die Festnahme Khans für unrechtmäßig und verfügte die Entlassung auf Kaution (Guardian 15.5.2023).
Den Ausschreitungen ist ein hartes Durchgreifen gefolgt (Siasat 23.5.2023). Das Militär hatte nach den Ausschreitungen angekündigt, alle an den Angriffen auf Militäreinrichtungen Beteiligte vor Militärgerichte zu stellen (REU 16.5.2023). In der Aufbereitung der Gewalt fertigte die Polizei anhand von Videos und Social Media-Nachrichten eine Liste von 25.000 als Verantwortliche bezeichneten Personen an. Mit Stand 19.5.2023 kündigte der Informationsminister an, 800 der bereits Verhafteten würden vor einem Militärgericht oder einem Anti-Terrorgericht angeklagt (Guardian 19.5.2023). Im Juni berichtete der Innenminister von beinahe 5.000 Verhafteten (REU 6.6.2023). Khan (Profil 5.7.2023) und indische Medien sprechen von 10.000 Verhafteten (India Today 23.6.2023). Die meisten Verhafteten wurden seitdem wieder freigelassen (REU 26.6.2023; vgl. India Today 23.6.2023, AJ 26.6.2023).
Führungspersonen der PTI wurden reihenweise unter dem Vorwurf verhaftet, die Gewalt orchestriert zu haben (Guardian 19.5.2023). Einzelne von ihnen verurteilten im Anschluss an die Ausschreitungen die Gewalt und das Vorgehen der Partei und verließen diese (AJ 1.6.2023). Die meisten allerdings, die dies nicht taten, wurden verhaftet bzw. in Haft behalten, darunter mehrere ehemalige Minister (Guardian 3.6.2023; vgl. AJ 1.6.2023). Selbst wenn verhaftete Parlamentarier bzw. Führungspersonen vor Gericht eine Freilassung auf Kaution erlangten, wurden sie erneut verhaftet, mitunter wiederholte sich dieser Vorgang mehrmals. Laut PTI befand sich zeitweise die gesamte Führungsriege in Haft und wurden auch Familien bedroht. Alle Freigelassenen distanzierten sich von Khan und zogen sich aus der Partei oder ganz aus der Politik zurück (REU 6.6.2023).
Indische Quellen sprechen davon, dass bei den Stürmungen der Militäreinrichtungen durch die Demonstranten die Wachleute nicht eingegriffen haben (TrI 23.5.2023) bzw. dass Sympathisanten Khans in der Armee, inklusive Generäle, dabei eine Zurückdrängung unterlassen (OF 19.5.2023; vgl. Siasat 23.5.2023) oder gar Informationen zur Orientierung weitergegeben hätten (OF 19.5.2023). Verschiedene Quellen berichten, dass Khan im Militär bis in die höchsten Ränge hinauf Unterstützung genoss (USIP 11.5.2023; vgl. RFE/RL 12.5.2023, OF 19.5.2023).
Nach offiziellen Angaben des Militärs wurden drei hochrangige Angehörige entlassen, gegen 15 - darunter Generalmajore - wurden disziplinäre Maßnahmen ergriffen. Über 100 Personen sind bereits vor Militärgerichten angeklagt. Hierzu gibt es keine Angaben, wie viele davon Zivilisten sind. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Anwendung der Militärgerichtsbarkeit auf Zivilisten (AJ 26.6.2023; vgl. REU 26.6.2023). Der Supreme Court wurde diesbezüglich angerufen (DAWN 18.7.2023). Ein erstes Urteil des Supreme Courts, wonach eine Verhandlung von Zivilisten vor einem Militärgericht verfassungswidrig wäre, wurde von einem größeren Gremium desselben Gerichts aufgehoben. Der Spruch wurde sowohl in Justizkreisen als auch von Menschenrechtsorganisationen breit kritisiert (HRCP 11.1.2024).
Anstehende Wahlen
Drei Tage vor demAblauf der regulären Legislaturperiode löste Premierminister Shabaz Sharif im August 2023 die Nationalversammlung auf, wodurch verfassungsmäßig 90 Tage für die Wahlen vorgesehen sind, anstatt der 60 Tage bei deren vollständiger Ableistung. Allerdings wurde auch ein Wahltermin nach 90 Tagen als unrealistisch bezeichnet. Einer der genannten Gründe ist, dass die Ergebnisse der aktuellen Volkszählung eine Neueinteilung der Wahlkreise verlangten (AJ 10.8.2023). Am 16. August wurde die verfassungsmäßig vorgesehene Übergangsregierung angelobt (REU 17.8.2023).
Außerdem wurde im August Imran Khan der Unterschlagung schuldig befunden und in Haft genommen. Die Verurteilung hätte eine Kandidatur Khans bei den Wahlen verhindert. Nach dem großen Aufruhr vom Mai blieben die diesbezüglichen Proteste auf den Straßen begrenzt und ruhig (REU 5.8.2023). Zwischenzeitlich wurde das erste Urteil vom Höchstgericht Islamabad ausgesetzt, er verblieb in Haft aufgrund einer weiteren Anklage (AJ 27.9.2023).
Die allgemeinen Wahlen wurden für 8. Februar angesetzt. Das Umfeld der Wahlen wird allerdings Berichten zu Folge in einer Weise gestaltet, welche die PTI ins Abseits stellt. Imran Khan ist weiterhin in Haft. Seine Nominierung wurde von der Wahlkommission abgelehnt, wie auch die anderer PTI-Kandidaten (TIME 17.1.2024; vgl. AJ 12.1.2024, HRCP 11.1.2024, VOA 4.1.2024). Verhaftungen - wenn auch vorübergehend - und Verhöre von Führungspersonen der PTI halten an. Berichtet wird auch von der Vernichtung von Antragspapieren oder Entführungen. In der Medienberichterstattung ist Khan mit einer Art Bann belegt (HRCP 11.1.2024; vgl. TIME 17.1.2024). Der PTI wurde die Verwendung ihres Parteisymbols, einem Cricketschläger, auf den Wahlkarten gerichtlich untersagt. In einem Land mit 40 Prozent Analphabeten unter der wahlberechtigten Bevölkerung ist das Parteisymbol ein wichtiger Wiedererkennungsfaktor. Mehr noch, ist noch nicht gesichert, ob die PTI-Kandidaten überhaupt unter dem Namen der Partei antreten können oder als Unabhängige kandidieren müssen. Konträr dazu wurden die gerichtliche Verurteilung von Khans Vorgänger als Premierminister, dem aus dem Exil zurückgekehrten Nawaz Sharif, ebenso wie dessen lebenslanges Politikverbot aufgehoben, sodass er seine Wahlkampagne eröffnen konnte. Laut Meinungsumfragen genießt Khan allerdings weiterhin hohe Popularität (TIME 17.1.2024; vgl. AJ 12.1.2024). Ende Jänner 2024 wurde Khan nochmals der Unterschlagung für schuldig gesprochen und mit einem 10-jährigen Politikverbot belegt. Einspruch wurde eingelegt (GeoNews 31.1.2024).
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Sicherheitslage
Allgemeine Entwicklungen im Bereich Terrorismus
Pakistan konnte ab 2014 bedeutenden Erfolg in seiner Terrorbekämpfung aufweisen. Sie führten zu einer verbesserten allgemeinen Sicherheitslage, die allerdings aktuell wieder vor Herausforderungen steht (PIPS 10.1.2024).
Konstante Einsatz- und Überwachungskampagnen der Sicherheitskräfte und polizeilichen AntiTerrorabteilungen, darunter die groß angelegten Militäroperationen Zarb-e-Azb, Khyber I-IV und Radd-ul-Fasaad sowie einige Anti-Extremismusmaßnahmen im Rahmen des Nationalen Aktionsplans, NAP, trugen zu einem kontinuierlichen Rückgang terroristischer Anschläge von 2009 bis 2020 - mit Ausnahme des Jahres 2013 - bei (PIPS 15.6.2021).
Die Operation Zarb-e-Azb 2014 war in erster Linie auf die Provinz Khyber Pakhtunkhwa und die damaligen Federal Administered Tribal Areas, FATA, ausgerichtet, um Terrorgruppen in Nord-Waziristan zu bekämpfen. Aus den meisten Gebieten konnten die militanten Extremisten vertrieben werden. Unter den Militäroperationen litt allerdings auch die Zivilbevölkerung vor Ort, eine hohe Anzahl an Personen wurde zu intern Vertriebenen. Die darauf folgende Operation Radd-ul-Fasaad involviert auch zivile Einsatzkräfte und konzentrierte sich auf geheimdienstliche Operationen im gesamten Land, um Schläferzellen und Verstecke militanter Extremisten auszuheben (EASO 10.2021).
Auch wurden signifikante Maßnahmen zur Bekämpfung der Terrorfinanzierung unternommen (FES 12.2020; vgl. PIPS 24.2.2023). Bei der Bekämpfung des Extremismus hat der NAP allerdings nur geringe Erfolge erzielt. Die Verbreitung extremistischer Literatur, extremistische Kundgebungen und die Verherrlichung von Terroristen hielten an (FES 12.2020). Ebenso zeigten sich wenige Fortschritte bei der Regulierung von Madrassen oder des Internets, um dem Extremismus entgegenzutreten (PIPS 18.2.2022).
Ab Mitte 2020 kam es zu einem Wiederaufleben jihadistischer militanter Gruppen in Gebieten wie Nord-Waziristan und Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa (FES 12.2020). Der Regimewechsel in Afghanistan hat diese Gruppen bekräftigt. Dies wird besonders in Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan sichtbar (PIPS 4.1.2022; vgl. CRSS 19.5.2023).
Trendumkehr bei den Anschlagszahlen seit 2021
Bereits das Jahr 2021 war von einem 42-prozentigen Anstieg der Zahl an Anschlägen im Vergleich zum Jahr 2020 auf 207 Terrorakte gekennzeichnet (PIPS 4.1.2022). Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Anschläge wiederum um 27 Prozent auf 262 Terrorakte. Diese forderten zusammen 419 Menschenleben, ein Anstieg von 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ungefähr die Hälfte der Todesopfer 2022, 206, waren - laut Daten des Analyseinstituts Pak Institute for Peace Studies, PIPS, - Mitglieder der Sicherheitskräfte bzw. Exekutivbehörden, 152 waren Zivilisten und 61 Terroristen (PIPS 24.2.2023).
Das Jahr 2023 verzeichnete als drittes Jahr in Folge einen neuerlichen Anstieg in den Erhebungen von PIPS: um 17 Prozent in der Zahl der Anschläge auf 306; und um 65 Prozent in der Zahl der Todesopfer auf 693. Von den Todesopfern waren 330 - erneut beinahe die Hälfte Sicherheitskräfte, 260 Zivilisten und 103 Terroristen (PIPS 10.1.2024).
Das Center for Research and Security Studies, CRSS, als Vergleichsquelle, verzeichnet in einer ersten Gesamtauswertung für das Jahr 2023 586 terroristische Anschläge mit 986 Toten (CRSS 31.12.2023). In der vertieftenAuswertung für 2022 waren es 378Anschläge mit 602 Todesopfern, davon 291 Mitglieder der Sicherheitskräfte, 297 Zivilisten und 14 Terroristen (CRSS 19.5.2023).
Für das Jahr 2021 verzeichnete es 403 Terrorakte mit 555 Toten, davon 330 Zivilisten (CRSS 3.1.2022).
Eine spezifische Analyse des PIPS verdeutlicht konkret, dass im Zeitraum der 21 Monate zwischen der Machtübernahme der Taliban in Kabul vom August 2021 bis zum Stand der Auswertung im April 2023 im Vergleich zu den 21 Monaten davor eine Steigerung der Anschläge um 73 Prozent festgestellt werden kann, während die Todeszahlen eine Steigerung um 138 Prozent erfuhren. In diesem Vergleich zeigt sich allerdings auch eine starke Konzentration. Während Khyber Pakhtunkhwa einen Anstieg an Anschlägen um 92 Prozent in diesem Zeitraum erfuhr und Belutschistan um 81 Prozent, gingen die Anschläge im Punjab, Islamabad und Sindh im selben Zeitraum zurück (PIPS 30.5.2023).
Quelle: PIPS 10.1.2024; Entwicklung der Anschlagszahlen und Todesopfer
Regionale Konzentration der Anschläge
Seit vielen Jahren ist sichtbar, dass die terroristische Gewalt hauptsächlich auf Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa konzentriert bleibt (PIPS 4.1.2022). Regional aufgeschlüsselt betrafen im Jahr 2023 93 Prozent aller Anschläge in Pakistan diese beiden Provinzen. Wie zuvor entfiel die Mehrheit - konkret 174 der 306 landesweiten Anschläge und damit 57 Prozent auf Khyber Pakhtunkhwa. 422 der landesweit 693 Todesopfer entfielen auf die Provinz. Belutschistan verzeichnete 110 der Anschläge mit 229 Todesopfern (PIPS 10.1.2024).
Im Vorjahr, 2022, entfielen 95 Prozent aller Anschläge auf diese beiden Provinzen und hier wiederum allein 64 Prozent - beinahe zwei Drittel - auf Khyber Pakhtunkhwa mit 169 Anschlägen. Hier waren auch 294 der 419 Todesopfer des Jahres 2022 zu beklagen. Mehr noch ließ sich der Gesamtanstieg der Anschlagszahlen 2022 allein auf einen Anstieg der Anschläge um 52 Prozent in dieser Provinz zurückführen. In den übrigen Provinzen gingen 2022 die Anschläge zurück oder blieben auf gleichem Niveau. In Belutschistan, das von der zweithöchsten Zahl an Anschlägen betroffen war, wurden im Jahr 2022 79 Anschläge durchgeführt - im Vergleich zu 81 des Vorjahres. Dabei wurden 106 Menschen getötet (PIPS 24.2.2023). In der Auswertung von CRSS betrafen 303 von 378 Anschlägen im Jahr 2022 allein diese beiden Provinzen (CRSS 19.5.2023).
Im Jahr 2021 trafen 93 Prozent der gesamten von PIPS erfassten Anschläge die beiden Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan zusammengenommen, die meisten mit 111 von insgesamt 207 Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 4.1.2022).
Quelle: PIPS 10.1.2024
Quelle: PIPS 24.2.2023; Terroranschläge 2022 nach Provinz
In seiner vertieften Jahresauswertung weist CRSS für 2022 folgende regionale Aufschlüsselung der Anschlagszahlen und Todesopfer aufgrund terroristischer Akte aus:
Quelle: CRSS 19.5.2023; Terroranschläge 2022 nach Provinz
Regionale Auswertung aller Anschläge pro Monat und Provinz 2023 nach Daten von PIPS
Hauptakteure
Mehr als 20 terroristische Gruppierungen waren 2023 aktiv, allerdings lassen sich 78 Prozent aller Anschläge sowie 82 Prozent der Todesopfer drei Gruppen zuschreiben: den pakistanischen Taliban - Tehrik-e Taliban Pakistan, TTP, inklusive ihrer Untergruppen, dem Islamic State Khorasan Province, ISKP, und der Belutschistan Liberation Army, BLA. Letztere konzentrierte ihre Anschläge hauptsächlich in Belutschistan, der ISKP war in Teilen Khyber Pakhtunkhwas und Belutschistans aktiv und die TTP überwiegend in Khyber Pakhtunkhwa, wobei sie allerdings auch in den anderen Provinzen Anschläge durchführte. Hauptakteur der Gewalt ist dabei die TTP, auf die - mit 151 an der Zahl und 281 Todesopfern - beinahe die Hälfte aller Anschläge in Pakistan zurückgehen (PIPS 10.1.2024).
Der TTP gelang es ab 2020, sich neu zu formieren - verstärkt seit der Machtübernahme der afghanischen Taliban in Kabul (PIPS 10.1.2024). Sie hat von allen ausländischen Gruppierungen am meisten vom Abzug der internationalen Truppen in Afghanistan profitiert (PIPS 24.2.2023). Ihre dortige Präsenz nutzt sie, um Operationen in Pakistan durchzuführen (UNSC 25.7.2023). In der Folge haben sich ihre Anschläge in Pakistan sprunghaft erhöht (UNSC 13.2.2023). Trotz gegenteiliger Versprechungen ziehen die afghanischen Taliban nicht ernsthaft in Erwägung, gegen die pakistanischen Taliban auf afghanischem Gebiet vorzugehen (PIPS 4.1.2022; vgl. PIPS 10.1.2024). Einen unter der Vermittlung des Islamischen Emirates von Afghanistan im Mai 2022 eingesetzten Waffenstillstand inklusive Verhandlungen zwischen Vertretern der TTP und des pakistanischen Staats in Kabul kündigte die TTP im November 2022 auf (PIPS 24.2.2023; vgl. PIPS 10.1.2024).
Der ISKP konnte ebenfalls die Zahl seiner Anschläge steigern (PIPS 30.5.2023). Die 17 Anschläge der Gruppierung verursachten mit 155 Toten die zweithöchsten Opferzahlen im Jahr 2023. Die hohe Opferzahl unterstreicht auch ihre Kapazität Großanschläge durchzuführen (PIPS 10.1.2024). Auch den belutschischen und Sindhi-nationalistischen Gruppierungen gelangen seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan größere Anschläge als zuvor - in ihrem Fall auf Sicherheitskräfte und chinesische Interessen (PIPS 30.5.2023).
Hauptsächliche Zielsetzungen
Verbunden mit ihrem Wiedererstarken sind auch bedeutende Änderungen von Strategie und Modus Operandi der TTP erkennbar. Die hohen Opferzahlen unter Zivilisten bei früheren Selbstmordattentaten hatten einen Verlust der Unterstützung in der Bevölkerung - aber auch unter Jihadisten - und umgekehrt eine breite Befürwortung der Militäroperationen zur Folge, was einen der Gründe für ihre Zurückdrängung in Pakistan im Zeitraum 2014 bis 2016 darstellte. In der neuen Strategie der TTP steht die Zielsetzung auf Sicherheitskräfte im Vordergrund - bei einer deutlichen Reduzierung der zivilen Opfer (CTC Sentinel 5.2023).
Auch im Jahr 2023 stellten die Sicherheitskräfte das Hauptziel von Anschlägen dar. 205 an der Zahl und damit 67 Prozent aller Terroranschläge waren spezifisch gegen sie gerichtet (PIPS 10.1.2024). 2022 waren es 180, also 69 Prozent, das entspricht auch ungefähr deren gesamtem Anteil an den Todesopfern, wo ungefähr die Hälfte unter den Sicherheitskräften auszumachen war (PIPS 24.2.2023). 2021 zielten 66 Prozent der Anschläge gegen die Sicherheitskräfte, 177 der 335 Todesopfer waren analog dazu Mitglieder der Sicherheits- oder Strafverfolgungsbehörden (PIPS 4.1.2022).
Unter den weiteren öfters ins Visier geratenen Gruppen waren 2023 regierungsfreundliche Stammesältere mit vier Anschlägen und insgesamt fünf Todesopfer, Staatsbedienstete bzw. staatliche Einrichtungen mit neun Anschlägen und zwei Toten sowie vermutete Spione mit neun Anschlägen und 12 Toten. 19 Anschläge mit 32 Opfern richteten sich 2023 undifferenziert gegen Zivilisten (PIPS 10.1.2024).
2022 zielten 14 Anschläge undifferenziert gegen Zivilisten, weitere 14 gegen regierungsfreundliche Stammesführer oder Mitglieder von Friedenskomitees, acht gegen politische Führungspersonen oder Aktivisten (PIPS 24.2.2023).
Gezielte Anschläge gegen Minderheitenangehörige
• Im März 2023 starb ein Sikh bei einem gezielten terroristischen Anschlag durch den ISKP in Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 5.4.2023);
• im April ein Christ bei einem gezielten Anschlag durch den ISKP ebenfalls in Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 6.5.2023);
• im Mai ein Sikh im Punjab bei einem gezielten Anschlag ungeklärter Täterschaft (PIPS 8.6.2023);
• im Juni ein Sikh bei einem gezielten Anschlag durch den ISKP in Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 5.7.2023);
• im Juli ein Angehöriger der schiitischen Minderheit bei einem mutmaßlichen gezielten Anschlag in Sindh (PIPS 4.8.2023);
• im August eine lokale Führungsperson der PPP bei einem gezielten Anschlag aufgrund seines schiitischen Glaubens im Sindh (PIPS 6.9.2023).
• Im Oktober tötete ein Anschlag auf die schiitische Gemeinde in Khyber Pakhtunkhwa vier Menschen (PIPS 7.11.2023).
• Im Dezember wurden zehn Menschen bei einem gegen Schiiten gerichteten Anschlag der Lashkar-e-Jhangvi auf einen Bus in Gilgit-Baltistan getötet (PIPS 8.1.2024).
• Außerdem eröffnete im Mai ein dort zur Sicherheit abgestellter Polizist im Swat in Khyber Pakhtunkhwa das Feuer auf den Schulbus einer christlichen Mädchenschule, wobei zwei Mädchen getötet wurden. Es wurde als Tat einer psychischen Erkrankung, nicht als Terrorakt eingestuft (BW 1.6.2023).
Allerdings waren auch religiöse Führer bzw. Gemeindemitglieder des sunnitischen Glaubens in acht Anschlägen mit neun Toten ein spezifisches Ziel (PIPS 10.1.2024).
2022 zielten zwei Anschläge gegen Schiiten, darunter ein Großanschlag gegen eine schiitische Moschee in Peschawar mit 68 Toten, ein Anschlag gegen Sunniten, zwei gegen die christliche Gemeinde mit insgesamt zwei Toten und einer gegen die Sikh-Gemeinde, der zwei Menschenleben forderte (PIPS 24.2.2023).
Wahl der Mittel
In Bezug auf die Wahl der Mittel setzten Terroristen bei 160 Anschlägen im Jahr 2023 Direktbeschuss ein, improvisierte Sprengsätze (IEDs) in 65 und Handgranaten in 38 Fällen. 12Anschläge wiesen einen koordinierten Schusswaffen- und Sprengeinsatz auf. Unter den weniger häufig eingesetzten Mitteln stechen drei Raketenangriffe hervor. Es zeigt sich außerdem eine signifikante Erhöhung der Selbstmordanschläge von 14 im Jahr 2022 auf 23 im Jahr 2023 (PIPS 10.1.2024), wobei bereits jene des Jahres 2022 einen starken Anstieg von den fünf des Jahres 2021 demonstrierten (PIPS 24.2.2023).
Der überproportional hohe Anstieg - um 65 Prozent - in der Zahl der Todesopfer bei um 17 Prozent gestiegenenAnschlägen verdeutlicht, dass es den Terrorgruppen gelang, vermehrt auch Großanschläge durchzuführen. Dabei gehen die Anschläge mit besonders hohen Opferzahlen allesamt auf Selbstmordattentäter der TTP oder des ISKP zurück. Insgesamt forderten die 23 Selbstmordanschläge des Jahres 315 Menschenleben (PIPS 10.1.2024).
Die erhöhten technischen Kapazitäten der TTP und ihrer Verbündeten lassen sich - neben ihren Möglichkeiten des Unterschlupfs und der Nutzung von Trainingsbasen in Afghanistan - auch auf ihren Zugang zu dem in Afghanistan zurückgelassenen modernen Equipment der abgezogenen US-Truppen zurückführen, u. a. Nachtsicht-Heckenschützengewehre und gepanzerte Fahrzeuge (PIPS 10.1.2024).
Durchführung Großanschläge 2023
• Im Jänner 2023 gelang ein Großanschlag auf eine Moschee in einem Polizeiareal in Peschawar, Khyber Pakhtunkhwa. Es starben 97 Polizisten und 3 Zivilsten. Zu Beginn bekannte sich die TTP zu dem Selbstmordanschlag (PIPS 20.2.2023).
• Im Juli starben bei einem Großanschlag auf eine Wahlveranstaltung der Jamiat Ulema-i-Islam-Fazl (JUI-F) im Bajaur Tribal District in Khyber Pakhtunkhwa mindestens 54 Menschen (PIPS 4.8.2023). Der ISKP bekannte sich zum Selbstmordanschlag. Die Partei JUI-F tritt selbst für die Umsetzung der Scharia ein und steht mutmaßlich den afghanischen und pakistanischen Taliban nahe, welche der ISKP ablehnt (CSIS 3.8.2023).
• Im September starben 55 Menschen bei einem Anschlag auf muslimische Feierlichkeiten zu Ehren Mohammeds Geburtstag in Mastung, Belutschistan. Keine Gruppierung bekannte sich dazu. In der Gegend ist der ISKP besonders aktiv (PIPS 4.10.2023; vgl. AJ 29.9.2023, BBC 29.9.2023). Feiern zu Ehren Mohammeds Geburtstag werden von einigen muslimischen Strömungen als ketzerisch verurteilt (AJ 29.9.2023; vgl. BBC 29.9.2023).
Reaktion der Sicherheitskräfte
Auf den Anstieg der terroristischen Gewalt reagierten die Streitkräfte mit geheimdienstlichen Operationen, der Fortführung der Operation Radd-ul-Fasaad und in den Grenzregionen mit der Stationierung regulärer Armeetruppen (EASO 10.2021).
Die Sicherheitskräfte führten im Jahr 2023 129 Anti-Terror-Operationen in 31 Distrikten des Landes durch. Bei diesen starben - laut den Erhebungen von PIPS - 373 Terroristen, 50 Sicherheitskräfte und zwei Zivilisten. Zusätzlich kam es zu 24 bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Terroristen, bei denen 37 Terroristen und 18 Mitglieder der Sicherheitskräfte starben. 21 dieser Auseinandersetzungen betrafen Khyber Pakhtunkhwa. Außerdem nahmen die Sicherheitskräfte bei 87 Suchoperationen im gesamten Land 377 des Terrorismus Verdächtigte bzw. Mitglieder militanter Gruppen fest. Diese Zahl umfasst keine Personen, die nach ersten Untersuchungen wieder freigelassen wurden (PIPS 10.1.2024).
Im Vergleich wurden 2022 87 Anti-Terror-Operationen in 25 Distrikten durchgeführt. Diese forderten 327 Tote, laut Daten von PIPS 302 Terroristen, 24 Sicherheitskräfte und ein Zivilist. 57 der Sicherheitsoperationen des Jahres 2022 wurden in Khyber Pakhtunkhwa durchgeführt, 28 in Belutschistan. In 66 Suchoperationen wurden im Rahmen der Operation Radd-ul-Fasaad laut PIPS 129 des Terrorismus Verdächtigte festgenommen. Außerdem kam es zu elf bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Militanten/Terroristen in Khyber Pakhtunkhwa mit 25 Toten, davon 13 Terroristen und zwölf Soldaten. Für das Jahr 2021 wurden sechs derartige Zusammenstöße und 63 Anti-Terror-Operationen aufgezeichnet (PIPS 24.2.2023).
CRSS berichtet von 197 Operationen gegen Militante und Aufständische durch die Sicherheitskräfte im Jahr 2023 mit 537 Toten (CRSS 31.12.2023).
Für das Jahr 2022 zählte CRSS 128 Operationen, bei denen 368 Menschen getötet und 102 mutmaßliche Terroristen verhaftet worden sind. Die Mehrheit der Sicherheitsoperationen zeichnete CRSS in Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan auf (CRSS 19.5.2023). Für das Jahr 2021 registrierte CRSS 146 Sicherheitsoperationen (CRSS 3.1.2022).
In den letzten Jahren hat Pakistan außerdem mehrere rechtliche, administrative und operative Maßnahmen gegen Terrorfinanzierung gesetzt und 26 der 27 Bedingungen des Aktionsplanes der Financial Action Task Force, einer internationalen Organisation gegen Terrorismusfinanzierung, erfüllt (PIPS 24.2.2023).
Kommunale Gewalt aufgrund religiösen Fundamentalismus’
Weiters zeigt sich, dass der religiöse Extremismus, auch abseits der Terrorgruppen, eine große Herausforderung darstellt. Zum einen ist dies in den Gewalttaten von aufgestachelten Menschenmengen, sogenannten Mobs, erkennbar [Anm. siehe dazu auch Kap. Religionsfreiheit]. Zum anderen manifestiert sich dies in den gewalttätigen Protesten der politisch-religiösen Bewegung Tehreek-e-Labbaik Pakistan, TLP. Die Gewalt der TLP erreichte 2021 einen Höhepunkt, als bei Demonstrationen in den Städten des Punjab 24 Menschen ums Leben kamen, 10 davon Polizisten, und eine Polizeistation gestürmt und besetzt wurde. Sie wurden erst beigelegt, nachdem die Regierung dem Druck nachgab, den Anführer freiließ und das Verbot der Gruppe aufhob (PIPS 4.1.2022). Für 2022 zählte das Sicherheitsanalyseinstitut PIPS zwei Gewaltvorfälle auf, in denen Anhänger der TLP involviert waren und bei denen jeweils eine Person getötet wurde (PIPS 24.2.2023). 2023 war die TLP in zwei Gewaltakte durch aufgehetzte Menschenmengen gegen Minderheiten involviert (PIPS 10.1.2024).
Für das Jahr 2023 verzeichnete PIPS folgende Vorfälle kommunaler religiös-motivierter Gewaltausbrüche, also Gewalt durch religiös motiviert aufgehetzte Menschenmengen:
• Im Februar stürmte im Punjab eine aufgebrachte Menschenmenge einen Polizeiposten und tötete einen inhaftierten Blasphemiebeschuldigten (AJ 16.8.2023; vgl. PIPS 8.3.2023).
Ein weiterer Mob verwüstete im Sindh eine Glaubensstätte der Ahmadi in Karatschi (PIPS 8.3.2023).
• Im März attackierten Anhänger einer islamistischen Partei Hindu-Studenten an einer Universität im Punjab bei einem religiösen Fest und verletzten 15 von ihnen (WION 7.3.2023; vgl. PIPS 5.4.2023).
• Im Mai wurde eine Person nach angeblicher Blasphemie durch eine Menschenmenge in Khyber Pakhtunkhwa getötet (PIPS 8.6.2023).
• Im August verzeichnete PIPS zwei Mob-Vorfälle mit einem Toten (PIPS 6.9.2023): Im Punjab randalierte ein aufgebrachter Mob nach Blasphemievorwürfen in einem christlichen Viertel und setzte dabei auch Kirchen und Häuser in Brand. Die Rangers wurden herangezogen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen (AJ 16.8.2023; vgl. Lowy Inst 21.9.2023, HRW 22.8.2023). In Belutschistan wurde eine Woche zuvor ein Lehrer nach Blasphemievorwürfen getötet (DAWN 7.8.2023; vgl. Lowy Inst 21.9.2023, AJ 16.8.2023).
• Im September randalierten in drei Vorfällen kommunaler Gewalt aufgebrachte Menschenmengen in Glaubensstätten von Christen und Ahmadis, ein christlicher Pfarrer wurde im Punjab in Folge angeschossen und verletzt (PIPS 4.10.2023).
• Für April (PIPS 6.5.2023), Juni (PIPS 5.7.2023, Juli (PIPS 4.8.2023) und November (PIPS 7.12.2023) zeichnete PIPS keine Vorfälle von religiös motivierter Mob-Gewalt auf; für Jänner 2023 zwar einen Vorfall, allerdings ohne Tote oder Verletzte (PIPS 20.2.2023).
• Für Oktober wurde zwar kein derartiger Vorfall aufgezeichnet, allerdings kam es drei Mal im Kurram Tribal District von Khyber Pakhtunkhwa zu Zusammenstößen zwischen schiitischen und sunnitischen Stämmen, die zu 16 Todesopfern führten (PIPS 7.11.2023).
Für 2022 zeichnete PIPS acht Vorfälle kommunaler religiöser Gewalt auf, bei drei davon handelte es sich um Mobs aufgrund von Blasphemievorwürfen. Bei den Vorfällen wurden fünf Menschen getötet - drei Ahmadis und zwei der Blasphemie Beschuldigte - sowie ein Hindu-Tempel beschädigt (PIPS 24.2.2023).
Grenzübergriffe
Im Nordwesten Pakistans wurde 2017 mit dem Bau eines Grenzzaunes entlang der 2.611 Kilometer langen Durand-Linie genannten Grenze zu Afghanistan begonnen. Dies sollte den Bewegungen von Militanten und Schmugglern sowie illegalen Grenzübertritten Einhalt gebieten.
Anfang Juli 2021 war laut pakistanischen Angaben der Bau des Zauns auf 91 Prozent der Strecke abgeschlossen (AP 13.7.2021). Der Bau des Grenzzauns wird allerdings vom nunmehrigen Taliban-Regime in Afghanistan zurückgewiesen, insbesondere aufgrund des Verlaufs an der Durand-Linie, auf deren definitive Grenzsetzung Pakistan aus Sicht der Taliban keinen rechtlichen Anspruch hat (PIPS 4.1.2022; vgl. DAWN 14.1.2022). Im Jänner 2022 sicherte Pakistan zu, die verbliebenen 21 Kilometer für einen vollständigen Grenzzaun in diplomatischer Übereinkunft mit Afghanistan errichten zu wollen (DAWN 14.1.2022). Im April 2023 berichteten Medien, dass laut pakistanischen Behördenangaben 98 Prozent des Grenzzaunbaus abgeschlossen sind, während die afghanische De-facto-Regierung den Bau weiterhin ablehnt (KP 27.4.2023; vgl. TN 26.4.2023).
Es zeigt sich, dass die Taliban eine striktere Reaktion in Bezug auf den Bau des pakistanischen Grenzzauns übernommen haben als die Vorgängerregierung, wobei sich ihr Widerstand gegen den Grenzzaun auch in Gewalt äußerte (PIPS 30.5.2023).
So war 2022 der Grenzzaun Hauptgrund für eine Eskalation der Grenzzusammenstöße zwischen pakistanischen Sicherheitskräften und afghanischen Kämpfern. Verschiedenen Schusswechseln fielen auch Zivilisten zum Opfer, außerdem führten sie immer wieder auch zur Schließung des Grenzübergangs Chaman (DAWN 14.12.2022). PIPS zählte im Jahr 2022 13 Grenzübergriffe zwischen Afghanistan und Pakistan in den Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan, bei denen 34 Menschen starben (PIPS 24.2.2023).
Auch im Jahr 2023 führten im Februar (AJ 25.2.2023; vgl. PIPS 8.3.2023) und im September Schusswechsel zur vorübergehenden Grenzschließung bei Torkham (AN 12.9.2023; vgl. RFE/RL 12.9.2023). Insgesamt kam es im Jahr 2023 laut der Datenbank von PIPS zu vier Zusammenstößen pakistanischer Sicherheitskräfte oder Zivilisten mit afghanischen Grenzwächtern, wobei zwei Zivilisten getötet wurden, sowie zu drei grenzüberschreitenden Zusammenstößen pakistanischer Sicherheitskräfte mit militanten Gruppen, die drei Tote innerhalb der pakistanischen Armee sowie sechs unter militanten Gruppen forderten (PIPS 19.1.2024a).
Seit sich Indien und Pakistan im Februar 2021 gegenseitig die Absicht erklärten, das Waffenstillstandsabkommen von 2003 verstärkt zu respektieren, hat sich andererseits die Lage an der Grenze mit diesem Nachbarn signifikant verbessert. Insgesamt ging damit im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Übergriffe an allen Grenzen des Landes um weitere 35 Prozent auf 15 zurück. So fand nur ein Grenzübergriff zwischen Indien und Pakistan 2022 statt - ohne Opfer oder Schaden, und einer zwischen Iran und Pakistan (PIPS 24.2.2023).
Für 2023 registrierte PIPS vier Übergriffe an der Grenze zu Indien, nach pakistanischenAngaben ausgehend von indischen Grenzpatrouillen mit acht toten Zivilisten. An der Grenze zum Iran verzeichnete PIPS 2023 einen territorialen Übergriff, bei dem vier Soldaten starben, allerdings durch eine militant-nationalistische Gruppierung (PIPS 19.1.2024a).
Im Jänner 2024 verursachten territoriale Verletzungen an der Grenze zwischen Iran und Pakistan eine diplomatische Krise. Iran hatte einen Raketenangriff auf pakistanisches Gebiet in Belutschistan durchgeführt, und als Ziel eine in Iran aktive, separatistische Terrorgruppe genannt. Pakistan, das angibt, es seien dabei auch zwei Kinder getötet worden, führte seinerseits daraufhin eine Reihe von Militärschlägen gegen proklamiert terroristische Ziele auf iranischem Gebiet durch (Tagesschau 18.1.2024).
Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Gewaltvorfälle
Zusammen genommen registrierte PIPS für das Jahr 2023 498 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 1.232 Toten. Neben den bereits behandelten, waren dies u.a. jeweils zwei Vorfälle ethno-politischer Gewalt und Auseinandersetzungen unter Stämmen sowie ein Kampf unter verschiedenen militanten Gruppen (PIPS 10.1.2024).
Das Jahr 2022 schlug sich laut PIPS mit 398 Fällen sicherheitsrelevanter Gewalt mit insgesamt 832 Toten zu Buche (PIPS 24.2.2023); 2021 mit 326 sicherheitsrelevanten Vorfällen und 609 darauf resultierenden Todesopfern (PIPS 4.1.2022).
CRSS berichtet in seiner Auswertung von 1524 Toten in 789 Vorfällen sicherheitsrelevanter Gewalt im Jahr 2023. Von den Todesopfern waren demnach 479 Zivilisten, 545 Terroristen und 500 Sicherheitskräfte (CRSS 31.12.2023). Für das Jahr 2022 zeichnete es 512 Vorfälle mit 980 Toten auf (CRSS 19.5.2023).
In der quartalsmäßigen Entwicklung zeigt sich für Gesamt-Pakistan auch eine Steigerung innerhalb des Jahres. Nachdem vom ersten ins zweite Quartal die Zahl der Toten bei Gewaltvorfällen um 21 Prozent zurückging (CRSS 11.7.2023), stieg sie um 57 Prozent für das dritte Quartal.
Dabei stieg die Gewalt allerdings in Belutschistan um 131 Prozent, während sie im Punjab um 67 Prozent zurückging (CRSS 30.9.2023).
Aus den Datensätzen des Armed Conflict Location Event Data Project, ACLED, ergeben sich für das Jahr 2022 765 Vorfälle mit 1.783 Toten (ACLED o.D.).
Quelle: Darstellung der STDOK nach Daten vonACLED o.D.
Anmerkung: ACLED erfasst sicherheitsrelevante Vorfälle unter Verwendung festgelegter Kriterien und Methodologien mittels Medienbeobachtung. Sind die Angaben zu den Todesopfern in den Quellen ungenau (z. B. „zahlreiche Tote“) oder unbekannt, so codiert ACLED automatisch zehn Todesopfer - oder drei Todesopfer, sofern bekannt ist, dass es sich um weniger als zehn Todesopfer handelt (ACLED 2020).
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Belutschistan
Hintergrund
Die Provinz Belutschistan ist mit Stand Dezember 2023 in 36 Distrikte eingeteilt (ECPAK 13.12.2023). Die letzte Volkszählung von 2023 - die erste digitale - weist eine Einwohnerzahl von rund 14,9 Millionen aus (PAKBS 5.8.2023). Die zwei größten Bevölkerungsgruppen sind Belutschen und Paschtunen (EB 21.12.2023a). Belutschen besiedeln dabei eher den Süden, Paschtunen den Norden der Provinz (Pakistan Today 7.8.2022). Außerdem findet sich eine signifikante Gemeinschaft der ethnischen Minderheit der Hazara in Belutschistan (EB 21.12.2023b).
Belutschistan ist zwar die größte Provinz, hat aber die geringste Bevölkerungszahl und -dichte (UNDP 9.11.2023). Es nimmt 44 Prozent der Fläche des Landes ein, stellt aber nur um die 5 Prozent der Bevölkerung (UNDP 12.2022). Außerdem weist es - gemeinsam mit den neu eingegliederten Distrikten Khyber Pakhtunkhwas [der ehemaligen FATA] - die mit Abstand höchste Armutsrate Pakistans auf (UNDP 24.7.2023). Die Ausstattung mit Infrastruktur, inklusive Trinkwasserversorgung (Policy Watcher 11.6.2023) und staatlichen Dienstleistungen ist mangelhaft. Dabei ist Belutschistan reich an Bodenschätzen (UNDP 9.11.2023). Unterschiedliche nationalistische Gruppen klagen über eine unfaire Verteilung der Gewinne aus dem Ressourcenabbau (EASO 10.2021). Verschiedene belutschisch-nationalistische Rebellengruppen verüben Anschläge und konzentrieren sich dabei regional überwiegend auf Belutschistan. Am aktivsten ist darunter die Belutschische Befreiungsarmee - Balochistan Liberation Army, BLA - mit Abstand gefolgt von der Belutschischen Befreiungsfront - Baloch Liberation Front, BLF (PIPS 24.2.2023).
Als weiterer Auslöser für Konflikte kommt die chinesische Präsenz im Rahmen des China Pakistan Economic Corridor (CPEC) und der Einsatz des Militärs zu deren Schutz hinzu (AA 21.9.2023). So verüben bewaffnete belutschische Gruppen auch eine Reihe von gewaltsamen Angriffen auf chinesische Interessen in der Region (EASO 10.2021; vgl. PIPS 24.2.2023; SRIL Guardian 7.11.2023). Neben der separatistischen Gewalt ist die Provinz auch mit konfessionell motivierter extremistischer Gewalt und islamistischen Anschlägen konfrontiert (EASO 10.2021; vgl. PIPS 24.2.2023).
Ein extensives Vorgehen der Sicherheitskräfte hatte die aufständischen Gruppen geschwächt, wobei allerdings Berichten zufolge auch zu Mitteln wie erzwungenem Verschwindenlassen gegriffen wurde (EASO 10.2021) [vgl. dazu die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Belutschen]. Der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan und der Zusammenbruch der dortigen Regierung 2021 hatten allerdings u.a. zur Folge, dass Terroristen befreit wurden, und vermehrt auch grenzübergreifend Waffen im Umlauf sind. Zunehmend deutlich zeigen sich außerdem Anzeichen für eine Kooperation zwischen derTTP und belutschischen Separatisten (AA 21.9.2023). Auch in Belutschistan hat sich die Sicherheitslage in der Folge verschlechtert. Mehr noch, zeigt sich nun auch ein starker Anstieg an jihadistischen Aktivitäten in den paschtunischen Regionen Belutschistans (JF 8.9.2023). Diese galten bisher als vergleichsweise friedlich (Pakistan Today 7.8.2022).
So nehmen die Anschläge islamistisch orientierter Gruppen, allen voran TTP und ISKP, in der Provinz zu. Die TTP ist dabei vor allem in den paschtunischen Regionen aktiv (PIPS 10.1.2024).
Im nationalen Aktionsplan gegen Terrorismus ist ein Zugehen auf die belutschischen separatistischen Anführer, um den Konflikt zu beenden, festgehalten. In diese Richtung wurde wenig unternommen. Statt auf einem effektiven Versöhnungsprozess bleibt der Fokus auf dem Peaceful Balochistan Programme. Dieses sieht finanzielle Unterstützung und Rehabilitation für belutschische Aufständische, die sich ergeben, vor (PIPS 4.1.2022). Auch 2023 (PIPS 10.1.2024) und 2022 war keine Versöhnungspolitik mit den Anführern der belutschischen Gruppen erkennbar, der Fokus lag auf Militäroperationen (PIPS 24.2.2023; vgl. JF 8.9.2023). Das Thema „Verschwindenlassen“ gießt darüber hinaus Öl ins Feuer. Die Situation begünstigt die Rekrutierung der Jugend für Terrorgruppen und bringt die moderaten politischen belutschischen Kräfte unter Druck (PIPS 10.1.2024).
Belutschistan bleibt damit einer der großen Unruheherde Pakistans (AA 21.9.2023). Es war im Jahr 2023 ebenso wie in den Jahren davor die nach Khyber Pakhtunkhwa am stärksten von Terroranschlägen betroffene Provinz (vgl. PIPS 10.1.2024, PIPS 24.2.2023; PIPS 4.1.2022, PIPS 15.6.2021). Außerdem finden sich Teile Belutschistans nicht gänzlich unter staatlicher Kontrolle (AA 21.9.2023).
Entwicklungen in den Anschlagszahlen
Im Jahr 2023 wurden laut den Erhebungen von PIPS 110 Anschläge mit 229 Todesopfern verübt - im Vergleich zu 79 Anschlägen mit 106 Toten im Vorjahr (PIPS 10.1.2024). Im Jahresvergleich verbuchte das Jahr 2022 allerdings einen Rückgang der Anschläge und Opferzahlen (PIPS 24.2.2023). 2021 wurden insgesamt 81 Anschläge mit 136 Toten verzeichnet, was seinerseits wiederum einen Anstieg der Terroranschläge um 93 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2020, und der Zahl der Todesopfer um 43 Prozent dargestellt hatte (PIPS 4.1.2022).
Eine signifikante Entwicklung zeigen außerdem die Anschläge islamistisch geprägter Terrorgruppen. Ihre Anzahl stieg in der Provinz von sieben in 2022 auf 29 für das Jahr 2023, die Zahl der Todesopfer stieg dabei sogar auf 139 (PIPS 10.1.2024) von 17 im Vorjahr (PIPS 24.2.2023). Verschiedene nationalistische belutschische Terrorgruppen, hauptsächlich die BLA und die BLF, verübten hingegen 78 Anschläge mit 86 Todesopfern (PIPS 10.1.2024). Im Vorjahr verbuchten derartige Gruppen, überwiegend ebenfalls BLA und die BLF, 71 Anschläge mit gleichsam 86 Toten (PIPS 24.2.2023).
60 Prozent der 110 Anschläge des Jahres 2023 zielten auf Sicherheitskräfte und Strafverfolgungsbehörden (PIPS 10.1.2024). 2022 zielten 53 Prozent aller Anschläge und damit 42 gegen Sicherheitskräfte (PIPS 24.2.2023).
Aufgeschlüsselt nach ideologischem Hintergrund zielten 42 der 78 Anschläge der nationalistischbelutschischen Gruppierungen mit 44 Toten auf Sicherheitskräfte. Im Fokus der Anschläge dieser Gruppierungen waren außerdem nicht-belutschische Arbeiter und Siedler, mutmaßliche Spione, Staatsdiener und -einrichtungen sowie Infrastruktur. Die Anschläge der TTP zielten in Belutschistan ausschließlich auf Sicherheitskräfte, während ISKP verschiedene Zielsetzungen verfolgte, u. a. auch politische und religiöse Versammlungen. Die Anschläge des ISKP erwiesen sich dabei als die tödlichsten in der Provinz (PIPS 10.1.2024).
So geht ein Großanschlag des Jahres 2023, bei dem 63 Menschen bei muslimischen Feierlichkeiten zu Ehren Mohammeds Geburtstag in Mastung Belutschistan starben, auf den ISKP zurück (PIPS 10.1.2024; vgl PIPS 4.10.2023, AJ 29.9.2023).
Im Hinblick auf die regionale Ausbreitung waren 2023 insgesamt 26 Distrikte von Anschlägen betroffen, am meisten darunter Quetta mit 23 Toten in 23 Anschlägen, Kech mit 20 Toten in 12 Anschlägen und Mastung mit 69 Toten in neun Anschlägen (PIPS 10.1.2024).
2022 waren 22 Distrikte von Anschlägen betroffen, die Hauptstadt Quetta mit 16 Anschlägen wiederum am stärksten, die anderen betroffenen Distrikte mit bis zu sechs (PIPS 24.2.2023). 2021 waren 18 Distrikte betroffen (PIPS 4.1.2022).
CRSS, als Vergleich herangezogen, berichtet in einer ersten Auswertung für 2023 von zusammen 205 Sicherheitsoperationen und Terrorakten mit 399 Toten in Belutschistan (CRSS 31.12.2023). In seiner vertieften Auswertung für 2022 registrierte es 82 Anschläge mit 130 Todesopfern sowie 28 Sicherheitsoperationen mit 124 Toten in der Provinz. Demnach waren 25 Distrikte von Anschlägen betroffen: Quetta am stärksten mit 25 Toten, gefolgt vom Distrikt Kech mit 22 Toten (CRSS 19.5.2023).
Das Sicherheitsanalyseinstitut Pakistan Institute for Conflict and Security Studies registrierte für 2023 170 Terrorakte mit 285 Todesopfern, davon 151 Zivilisten, 114 Sicherheitskräfte und 20 Terroristen. Damit zeichnet es einen Anstieg um 65 Prozent in seinen Daten zu den Anschlagszahlen des Vorjahres nach (PICSS 1.1.2024).
Das Home and Tribal Affairs Department der Provinzregierung berichtet insgesamt von 290 Vorfällen in Bezug auf die Sicherheitslage im Jahr 2022, bei denen 140 Personen getötet wurden, darunter auch Angriffe auf Lager der Armee und des Frontier Corps. Die Hauptlast der Angriffe trug das Frontier Corps. Die Medien sind für zuverlässige Zahlen sowohl zu Angriffen auf diese sowie Verlusten unter diesen, ebenso wie zur Durchführung von Sicherheitsoperationen auf das belutschische Innenministerium angewiesen. Doch werden diese Zahlen nicht geteilt. Zuverlässige Informationen, wie hoch die tatsächlichen Verluste unter den Sicherheitskräften sind, sind somit für Belutschistan nicht vorhanden [Anm.: Zur Einschränkung der Medienberichterstattung in Teilen Belutschistans siehe Kap. Meinungs- und Pressefreiheit] (PIPS 24.2.2023). Eine unabhängige Verifizierung der Intensität und Opferzahl von Anschlägen ist daher schwierig (JF 8.9.2023).
Anschläge auf Minderheiten
Im August 2023 töteten zwei Anschläge mit Schusswaffen in Quetta insgesamt drei Mitglieder der Sicherheitskräfte, die der schiitischen Minderheit der Hazara angehörten (PIPS 6.9.2023; vgl. PIPS 17.12.2023). Auch ein versuchter Anschlag auf den stellvertretenden Assistant Commissioner von Mastung mit einem Todesopfer dürfte laut PIPS gegen Schiiten gerichtet gewesen sein (PIPS 10.1.2024).
Im Jahr 2022 kostete ein Anschlag des ISKP auf die christliche Gemeinde in Mastung zwei Menschenleben. Ein weiterer Anschlag des Jahres war möglicherweise konfessionell-extremistisch gegen Hazara gerichtet. Dabei wurden drei Menschen getötet, darunter ein Hazara und ein Polizist, wobei nicht zuordenbar ist, ob der Anschlag gegen die Polizei oder die Hazara-Minderheit gerichtet war (PIPS 24.2.2023).
Die schiitische Hazara-Gemeinde in Belutschistan war jahrelang in besonderem Maße Opfer anti-schiitischer Anschläge. Bei dem letzten größeren gegen Hazara gerichteten Anschlag im Jänner 2021 wurden 11 Minenarbeiter durch den ISKP getötet. In der Summe liegt das GewaltNiveau gegen Hazara heute jedoch deutlich niedriger als vor 2015 [vgl. dazu Kap. Hazara] (AA 21.9.2023).
Massenproteste 2022/23
Bereits 2021 war Belutschistan Schauplatz massiver Proteste. Diese thematisierten das Verschwindenlassen, Opfer von Operationen der Sicherheitskräfte sowie das Gesundheitssystem. Die chinesischen Bauprojekte des China-Pakistan Economic Corridor, das illegale Abfischen der Küsten durch chinesische Reedereien sowie gravierende Probleme in der Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur, lösten schließlich Massenproteste aus. Diese Massenproteste ebbten zwar vorübergehend ab (HRCP 2022) - Ende 2022 gewannen sie nach der Räumung eines Protestcamps in der Region Gwadar und Verhaftungen allerdings an Intensität und schlugen in Unruhen mit Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten und Demonstrantinnen um (DIP 7.1.2023; vgl. SRIL Guardian 7.11.2023). Kleinere Proteste hielten sich Anfang des Jahres 2023 (Crisis 24 16.3.2023), nach der Freilassung des Anführers ebbten die Aktivitäten der Bewegung ab (SRIL Guardian 7.11.2023).
Ab November 2023 formierte sich ein Massenprotest gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte im Namen der Terrorbekämpfung in der Region Kech, ausgehend von einem Fall mutmaßlicher außergerichtlicher Tötung. Die Proteste werden in erster Linie von Frauen angeführt, die das Verschwindenlassen ihrer männlichen Familienmitglieder beklagen (DIP 19.12.2023; vgl.VOA 20.12.2023). Nachdem ihr Protestmarsch in Islamabad von der Polizei niedergeschlagen wurde (BBC 21.12.2023), kam es Ende Dezember 2023 zu breiten Protesten, Straßenblockaden und Streiks quer durch die belutschische Provinz (DAWN 24.12.2023).
Quellen AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21/9/2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2097816/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_de r_Islamischen_Republik_Pakistan_%2C_21.09.2023.pdf, Zugriff 13.10.2023 [Login erforderlich]; AJ - Al Jazeera (29/9/2023): Blast at Pakistan procession to mark prophet’s birthday kills at least 52, https://www.aljazeera.com/news/2023/9/29/blast-at-rally-to-mark-prophet-birthday-in-pakista n-kills-many-injures-dozens, Zugriff 19.10.2023; BBC - British Broadcasting Corporation (21/12/2023): Pakistan: Hundreds arrested, tear gas fired as female-led protests reach capital, https://www.bbc.co.uk/news/world-asia-67783499, Zugriff 27.12.2023; CRSS - Center for Research and Security Studies (31/12/2023): Pakistan’s Violence-Related Fatalities Mark A Record 6-Year High, 56% Surge In Violence Recorded In 2023: CRSS Annual Security Report , https://crss.pk/pakistans-violence-related-fatalities-mark-a-record-6-year-high-56-surge-in-violence-recorded-in-2023-crss-annual-security-report, Zugriff 11.1.2024; CRSS - Center for Research and Security Studies (2/8/2023): Annual Security Report 2022 Re-Emergence Of Proxy Terrorism - 3, https://crss.pk/annual-security-report-2022-3, Zugriff 18.10.2023; Crisis 24 - Crisis24 (16/3/2023): Protests likely in Gwadar, Pakistan, through at least late March. Increased security likely., https://crisis24.garda.com/alerts/2023/03/pakistan-protests-likely-in-g wadar-balochistan-province-through-at-least-late-march-update-1, Zugriff 27.12.2023; DAWN - DAWN Newspaper (24/12/2023): Balochistan gripped by protests, https://www.dawn.com /news/1800336, Zugriff 27.12.2023; DIP - Diplomat, The (19/12/2023): Women Are Leading an Unprecedented Protest Movement in Balochistan, https://thediplomat.com/2023/12/women-are-leading-an-unprecedented-protest-mov ement-in-balochistan, Zugriff 27.12.2023; DIP - Diplomat, The (7/1/2023): Pakistan’s Port City Gwadar in Chaos, https://thediplomat.com/20 23/01/pakistans-port-city-gwadar-in-chaos/, Zugriff 23.1.2024; EASO - European Asylum Support Office (10.2021): EASO Pakistan Security situation Country of Origin Information Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Repo rt_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 5.10.2023; EB - Encyclopaedia Britannica (21/12/2023a): Balochistan - Pakistan, Map, Capital, Facts, https: //www.britannica.com/place/Balochistan, Zugriff 22.12.2023; EB - Encyclopaedia Britannica (21/12/2023b): Hazara People, https://www.britannica.com/topic/H azara, Zugriff 22.12.2023; ECPAK - Election Commission of Pakistan [Pakistan] (13/12/2023): District Wise Voters’ Statistics as on 13 December 2023, https://ecp.gov.pk/storage/files/3/District%20Wise%20Voters%20Statis tics%20as%20on%2013%20December%202023.pdf, Zugriff 22.12.2023; HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 23.1.2024; JF - Jamestown Foundation, The (8/9/2023): Two Years on, State of Pakistani Security Continues to Deteriorate After Taliban Seizure of Afghanistan, https://jamestown.org/program/two-years-on-s tate-of-pakistani-security-continues-to-deteriorate-after-taliban-seizure-of-afghanistan, Zugriff 27.12.2023; PAKBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (5/8/2023): Announcement of Results of 7th Population and Housing Census-2023, The Digital Census , https://www.pbs.gov.pk/sites/default/f iles/population/2023/Press%20Release.pdf, Zugriff 22.12.2023; PICSS - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies (1/1/2024): 2023 ends with 70 % Increase in Militant Attacks, 81% Rise in Deaths: PICSS Report - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies, https://www.picss.net/featured/2023-ends-with-70-increase-in-militant-attacks-8 1-rise-in-deaths-picss-report, Zugriff 2.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (10/1/2024): Pakistan Security Report 2023, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2024/01/Security_Report_2023.pdf, Zugriff 11.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (17/12/2023): PIPS Security Database, https://pakpips.com/ app/database/submit_reports.php?category=cas_report, Zugriff 17.12.2023 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (4/10/2023): Pakistan Monthly Security Report: September
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Khyber Pakhtunkhwa (inklusive Tribal Districts - ehemalige FATA)
Hintergrund
Die Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) ist mit Stand 13.12.2023 in 36 Distrikte unterteilt (ECPAK 13.12.2023; vgl. Khyber NC 1.12.2023). Die ehemaligen Agencies der vormals Federally Administered Tribal Areas, FATA, genannten Stammesgebiete wurden 2018 in Distrikte von Khyber Pakhtunkhwa umstrukturiert und werden jetzt als Khyber Pakhtunkhwa Tribal Districts, KPTDs (EASO 10.2021), oder auch als Newly Merged Districts, NMDs, bezeichnet (HRCP 28.12.2023).
Die Frontier Regions der Stammesgebiete wurden in die angrenzenden bereits bestehenden Distrikte der Provinz eingegliedert (Nation 16.12.2022).
Der Eingliederungsprozess der ehemaligen Stammesgebiete in die gesamtstaatliche Struktur geht nur sehr langsam voran (PIPS 15.6.2021; vgl. HRCP 28.12.2023). Berichten zufolge sind die zugesagten finanziellen Mittel zur Entwicklung und Integration der Region nur in Bruchteilen angekommen (HRCP 28.12.2023; vgl. Nation 16.12.2022, TFT 11.9.2023, Nation 1.9.2023, Pakistan Today 16.11.2023). Die Stammesdistrikte weisen - zusammen mit Belutschistan - die weitaus höchste Armutsrate Pakistans auf (UNDP 24.7.2023).
Bereits seit 2020 kommt es zu Protesten aufgrund des schleppenden Eingliederungsprozesses (PIPS 15.6.2021). Auch eine Zunahme an Grundstücksstreitigkeiten in den KPTDs wird mit dem langsamen Reformprozess verbunden (PIPS 4.1.2022; vgl. HRCP 28.12.2023). Die angekündigte Beschleunigung der Integration ist noch nicht gelungen [Anm.: vgl. dazu Sicherheitsbehörden]. Dies führte zu Forderungen der Rücknahme der Zusammenlegung vonseiten lokaler Gruppen. Die pakistanischen Taliban griffen die Forderung auf und erkoren sie zu einem zentralen Punkt ihrer Verhandlungen mit der Regierung (PIPS 24.2.2023).Auch die fehlende Deckung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung, wie Wasser-, Gas- und Elektrizitätsinfrastruktur sowie den Mangel an staatlichen Dienstleistungen und Möglichkeiten für die Menschen der vernachlässigten Region greift die neue Führung der pakistanischen Taliban in ihrer Propaganda auf (AJ 2.2.2023; vgl. Nation 1.9.2023, AA 21.9.2023).
Einige der Distrikte der ehemaligen FATA hatten lange Zeit Kämpfer von al-Qaida sowie pakistanische und afghanische Taliban beherbergt. Das Militär brauchte mehr als ein Jahrzehnt und mehrere Offensiven, um die Kontrolle über die Region - wenn auch nicht gänzlich - zurückzugewinnen (AA 8.8.2022). Ab dem Jahr 2020 verschlechtere sich die Sicherheitslage in einigen der KPTDs und eine Zunahme an Aktivitäten von Aufständischen und den daraus resultierenden Opfern konnte beobachtet werden (FRC 7.1.2021).
Entwicklung der Anschlagszahlen
Khyber Pakhtunkhwa war in den letzten Jahren die am stärksten von Terroranschlägen betroffene Region Pakistans (PIPS 24.2.2023; vgl. PIPS 15.6.2021, PIPS 4.1.2022). Das Gebiet der ehemaligen Stammesgebiete, besonders Nord-Waziristan, stellt dabei einen der beiden größten Unruheherde Pakistans dar (AA 21.9.2023).
Für das Jahr 2023 verzeichnete PIPS in der Provinz 174 Anschläge und damit 57 Prozent der landesweiten Anschläge sowie 422 Todesopfer bei diesen (PIPS 10.1.2024). 2022 waren es 169 Terrorakte mit 294 Todesopfern (PIPS 24.2.2023). Es zeigt sich damit im Jahresvergleich, dass bei einem nur leichten Anstieg der Anschlagszahlen um drei Prozent eine überproportional gestiegene Zahl an Todesopfern erfasst werden musste. Den militanten Gruppen gelang es somit, vermehrt größere Anschläge durchzuführen (PIPS 10.1.2024).
So verzeichnete Khyber Pakhtunkhwa mit dem Großanschlag vom Jänner 2023 auf eine Moschee in einem Polizeiareal in Peschawar durch einen Selbstmordattentäter (PIPS 20.2.2023) den tödlichsten Anschlag in Pakistan der letzten Jahre (AJ 2.2.2023). Auch ein weiterer Großanschlag im Juli im KPTD Bajaur betraf die Provinz (PIPS 4.8.2023).
Bereits die Zahlen von 2022 repräsentierten allerdings einen Anstieg um 52 Prozent gegenüber 2021 bei Anschlägen, während die Todesopfer von 169 auf 294 im selben Zeitraum stiegen (PIPS 24.2.2023). Schon 2021 waren die Anschlagszahlen und die Zahl der Todesopfer nach langen Jahren des kontinuierlichen Rückgangs gestiegen (PIPS 4.1.2022).
Das Sicherheitsanalyseinstitut PICSS, Pakistan Institute for Conflict and Security Studies - als Vergleichsquelle - verzeichnete in Khyber Pakhtunkhwa für das Jahr 2023 423 Terrorakte mit 621 Todesopfern. Demnach waren die KPTDs von einen 60-prozentigen Anstieg und die länger bestehenden Distrikte KPs von einem 85-prozentigen Anstieg bei den Anschlagszahlen im Vergleich zu den Daten des Instituts vom Vorjahr betroffen (PICSS 1.1.2024).
Der Anstieg der Gewalt verdeutlicht die Rückkehr und die Neuformierung der TTP in den ehemaligen Stammesgebieten, insbesondere in Nord- und Süd-Waziristan (FRC 7.1.2021; PIPS 10.1.2024). Da sie sich unter anderem durch Erpressung und Entführungen gegen Lösegeld finanzieren, haben auch solche Vorfälle in den KPTDs wieder zugenommen (FRC 7.1.2021). Berichte über Schutzgeld-Erpressungen weiteten sich aus und reichen bis zur Erpressung von Personen in hohen politischen Ämtern. Dies führte zur Einrichtung einer eigenen Spezialeinheit der Polizei (HRCP 28.12.2023).
Regionale Konzentration und spezielle Entwicklungen in den KPTDs
In 22 Bezirken der Provinz wurden im Jahr 2023 Terroranschläge verzeichnet. Dabei konzentrierte sich der Großteil der terroristischenAktivitäten auf zwei Regionen, zum einen auf die südlichen Distrikte, darunter Nord- und Süd-Waziristan, und zum anderen auf die Provinzhauptstadt Peschawar und deren benachbarten Distrikt Khyber. Konkret betrafen 82 Prozent der Anschläge diese beiden Regionen, in denen hauptsächlich die TTP und andere lokale Talibangruppen aktiv sind. Auf Nord-Waziristan entfielen dabei 23 Anschläge mit 53 Toten, auf Peschawar 22 Anschläge mit 100 Todesopfern. Ein weiterer Brennpunkt blieb der KPTD Bajaur, auf den sich der ISKP fokussiert (PIPS 10.1.2024).
Im Jahresvergleich waren 2022 21 Distrikte von Anschlägen betroffen, hauptsächlich - wie die Jahre davor - Nord-Waziristan mit 30 Anschlägen und 64 Toten. Die Hauptstadt Peschawar folgte 2022 mit 17 Anschlägen und 74 Toten (PIPS 24.2.2023). 2021 entfielen mit 37 an der Zahl 33 Prozent aller Anschläge der Provinz allein auf Nord-Waziristan. Insgesamt waren 20 Distrikte von Anschlägen betroffen, mit acht war ebenfalls der Distrikt Peschawar im damaligen Vergleich von einer höheren Anzahl an Anschlägen betroffen (PIPS 4.1.2022).
Quelle: PIPS 10.1.2024; distriktweise Auswertung der Anschläge KP 2023
[Anm.: Die Distrikte Khyber, Mohmand, Bajaur, North Waziristan, South Waziristan, Orakzai und Kurram sind ehemalige Agencies, die in Tribal Districts umstrukturiert wurden. Bestehende Distrikte-KPs, in welche die jeweils angrenzenden ehemaligen Frontier Regions als Sub-Divisionen direkt eingegliedert wurden, sind Peschawar, Kohat, Tank, Bannu, DI Khan und Lakki Marwat siehe z. B.: Nation 16.12.2022].
Quelle: FRC 7.1.2021, geografische Einordnung der ehemaligen Agencies
Zielsetzungen der Anschläge
Ungefähr 75 Prozent der Anschläge des Jahres 2023 in Khyber Pakhtunkhwa, 130 an der Zahl, zielten gegen Sicherheitskräfte und Exekutivorgane bzw. deren Infrastruktur. Diese gezielten Anschläge kosteten insgesamt 296 Menschenleben, davon 217 Sicherheitskräfte bzw. Exekutivorgane, 20 Zivilisten und 59 Mitglieder der Terrorgruppen. Zusammen sechs Anschläge richteten sich gegen politische Führer oder Stammesältere und zehn mit 19 Toten zielten allgemein auf Zivilsten (PIPS 10.1.2024).
Im Jahr 2022 richtete sich mit 77 Prozent der Anschläge ein ähnlicher Anteil - ebenfalls 130 an der Zahl - gegen Sicherheitskräfte und Exekutivorgane bzw. deren Infrastruktur (PIPS 24.2.2023). 2021 waren es 71 Prozent und damit 79 (PIPS 4.1.2022).
Auch bei der Aufstellung der Vergleichquelle PICSS für das Jahr 2023 zeigt sich, dass mit 307 Toten die überwiegende Mehrheit der Opfer derAnschläge in der Provinz Sicherheitskräfte waren. 222 waren demnach Zivilisten, 92 Tote forderten die Anschläge unter den Terrororganisationen selbst (PICSS 1.1.2024).
Der Rückgang an undifferenzierten Anschlägen auf Zivilisten spiegelt die Änderung der Taktik der Gruppen wider, während sich diese verstärkt auf Sicherheitskräfte, regierungsfreundliche Stammesführer und politische Führungspersonen fokussieren (PIPS 10.1.2024).
Im Hinblick auf die Lage der Minderheiten zielte 2023 ein Terrorakt gegen die schiitische Religionsgemeinschaft mit vier Toten. Ein Christ und zwei Sikhs starben bei jeweils gegen sie gerichteten, gezielten Anschlägen (PIPS 10.1.2024). 2022 richtete sich ebenfalls ein Terrorakt gegen die schiitische Religionsgemeinschaft in Khyber Pakhtunkhwa, dabei handelt es sich allerdings um einen Großanschlag mit 65 Toten. Die christliche und die Sikh-Gemeinde waren von jeweils einem gezielten Anschlag betroffen, die einen bzw. zwei Tote forderten (PIPS 24.2.2023).
Quelle: PIPS 10.1.2024
Wahl der Mittel
Überwiegend greifen die terroristischen Gruppen auf Schusswaffen zurück, 2023 war dies bei 102 der 174 Anschlägen der Fall, gefolgt von improvisierten Sprengstoffen (IEDs). Selbstmordanschläge inkludiert, kamen diese in 50 Attentaten zum Einsatz. Auffällig waren mehrere Fälle der Stürmung von Polizeistationen mithilfe moderner Ausrüstung, wie Nachtsichtgeräten, wobei die meisten zügig zurückgedrängt wurden (PIPS 10.1.2024).
2022 wurden die Terrorakte ebenfalls überwiegend mit Schusswaffen - in 104 Fällen - oder mit improvisierten Sprengsätzen - in 22 Anschlägen - durchgeführt. Bereits 2022 konnten häufiger als zuvor Großanschläge umgesetzt und vereinzelt direkt Polizeistationen angegriffen werden (PIPS 24.2.2023).
Außerdem zeigt sich unter den Anschlagstatistiken eine starke Zunahme an Selbstmordattentaten. PIPS verzeichnete für das Jahr 2023 18 Selbstmordanschläge in Khyber Pakhtunkhwa, die 236 Tote forderten. Im Vergleich dazu fielen im Jahr zuvor 89 Personen Selbstmordanschlägen zum Opfer (PIPS 10.1.2024). PICSS registrierte 23 Selbstmordattentate mit 254 Toten für das Jahr 2023 (PICSS 27.12.2023).
Reaktion der Sicherheitskräfte
In Bezug auf die Terrorismusbekämpfung wurden 2023 97 Anti-Terroroperationen der Sicherheitskräfte in Khyber Pakhtunkhwa durchgeführt, die 314 Todesopfer forderten (PIPS 2.1.2024a), hauptsächlich unter den militanten Extremisten (PIPS 10.1.2024). Zusätzlich wurden 21 Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und militanten Extremisten mit 52 Todesopfern aufgezeichnet (PIPS 2.1.2024a). Mit 21 entfielen dabei die meisten Sicherheitsoperationen auf Nord-Waziristan, hier kam es auch zu fünf Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und militanten Gruppen (PIPS 2.1.2024b). Für das Jahr 2022 wurden 57 Anti-Terror-Operationen registriert, 24 davon in Nord-Waziristan (PIPS 24.2.2023).
Zusammenfassung Gewaltvorfälle
Insgesamt zeichnete PIPS 2023 für die Provinz 313 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 830 Toten auf, neben den oben angeführten, u.a. sechs Auseinandersetzungen an der Grenze zu Afghanistan, vier Auseinandersetzungen zwischen Stämmen unterschiedlicher Konfession, zwei sonstige Zusammenstöße zwischen Stämmen und eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Terrorgruppen (PIPS 17.1.2024). 2022 waren es 258 Vorfälle mit 551 Toten (PIPS 24.2.2023).
CRSS - als Vergleichsquelle - berichtet in seiner ersten Auswertung für 2023 von 458 Vorfällen sicherheitsrelevanter Gewalt und dabei 979 Todesopfern in der Provinz (CRSS 31.12.2023). Im Jahr 2022 registrierte es in seiner vertieften Auswertung insgesamt 633 Todesopfer bei 313 sicherheitsrelevanten Vorfällen - davon 221 Terrorakte mit 394 Toten sowie 88 Anti-Terror- oder Sicherheitsoperationen (CRSS 19.5.2023).
Proteste
In den betroffenen Gebieten Khyber Pakhtunkhwas, hauptsächlich in den Stammesgebieten, wurden bereits 2022 größere Protestdemonstrationen gegen die zunehmenden Aktivitäten Militanter und das Wiedererstarken des Terrorismus abgehalten. Daran waren auch unterschiedliche Parteien sowie Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligt (PIPS 24.2.2023). Nach dem Großanschlag auf die Moschee im Polizeiareal in Peschawar im Jänner 2023 demonstrierten Tausende auch in den Städten gegen Terrorismus und für eine bessere Ausstattung der Polizei (Siasat 4.2.2023). Mehrmals kam es 2023 zu Demonstrationen gegen das Wiederaufleben der Terrorgruppen (PIPS 10.1.2024).
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Punjab und Islamabad
Punjab
Die Provinz Punjab ist mit Stand Dezember 2023 in 40 Distrikte unterteilt (ECPAK 13.12.2023).
Sie beherbergt laut dem digitalen Zensus von 2023 eine Einwohnerzahl von knapp 128 Millionen (PAKBS 5.8.2023). Punjab ist damit die am stärksten besiedelte Provinz, flächenmäßig ist sie die zweitgrößte (EASO 10.2021).
Seit vielen Jahren ist sichtbar, dass die terroristische Gewalt hauptsächlich auf Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa konzentriert bleibt, doch auch Sindh und Punjab sporadisch trifft (PIPS 4.1.2022).
2023 verzeichnete Punjab einen Anstieg auf sechs Anschläge mit 16 Toten. Allerdings war mit elf Toten die überwiegende Mehrheit der Todesopfer unter den Terroristen auszumachen. Das geht unter anderem darauf zurück, dass Angriffe auf Militäreinrichtungen abgewehrt werden konnten. Drei Mitglieder der Sicherheitskräfte und eine Zivilistin fielen 2023 Anschlägen zum Opfer sowie ein Sikh einem gegen diese Minderheit gerichteten Schusswaffenattentat (PIPS 10.1.2024).
Im Jahresvergleich verzeichnete PIPS für den Punjab 2022 drei Anschläge, die sechs Menschenleben forderten (PIPS 24.2.2023), 2021 fünf Anschläge mit 14 Toten. Ein Anschlag 2021 war konfessionell motiviert und richtete sich gegen Schiiten während einer Ashura-Prozession (PIPS 4.1.2022).
Das Pakistan Institute for Conflict and Security Studies, PICSS, als Vergleichsquelle, zählte für den Punjab 2023 14 Anschläge mit 20 Toten, davon ebenfalls überwiegend Terroristen mit 14, vier Sicherheitskräfte und zwei Zivilisten (PICSS 1.1.2024).
Quelle: PIPS 10.1.2024; distriktweise Auswertung Anschläge Punjab 2023
Kommunale religiöse Gewalt
Im Zuge kommunaler religiöser Gewalt wurde im Punjab ein Todesopfer für das Jahr 2023 verzeichnet, als eine aufgebrachte Menschenmenge im Februar einen Polizeiposten stürmte und einen dort inhaftierten Blasphemiebeschuldigten tötete (AJ 16.8.2023; vgl. PIPS 8.3.2023). Ebenfalls nach Blasphemieanschuldigungen setzte im August ein aufgebrachter, randalierender Mob in einem christlichen Viertel im Distrikt Faisalabad Kirchen und Häuser in Brand (AJ 16.8.2023; vgl. Lowy Inst 21.9.2023, HRW 22.8.2023). Außerdem wurde ein christlicher Pfarrer im Distrikt Faisalabad in Folge eines Vandalenaktes gegen eine Kirche angeschossen und verletzt (PIPS 4.10.2023). Außerdem wurden 15 Hindus verletzt, als im März Anhänger einer islamistischen Partei Hindu-Studenten an einer Universität im Punjab bei einem religiösen Fest attackierten (WION 7.3.2023; vgl. PIPS 5.4.2023).
2022 verzeichnete PIPS fünf Vorfälle gesellschaftlicher religiöser Gewalt, in Form von Übergriffen gewalttätiger Menschenmengen. Drei der Vorfälle betrafen Blasphemieanschuldigungen, wobei in einem Fall der Beschuldigte vom Mob getötet wurde, in den anderen Fällen von der Polizei geschützt werden konnte. In weiteren zwei Vorfällen wurde jeweils ein Ahmadi getötet (PIPS 24.2.2023). Im Jahr 2021 wurden wie 2022 fünf Vorfälle von Mob-Gewalt aus religiösen Motiven gezählt. Diese kosteten zwei Menschenleben (PIPS 4.1.2022).
Islamabad
Die pakistanische Hauptstadt ist ethnisch divers und hat auch einen vergleichsweise hohen Anteil an religiösen Minderheiten, indem geschätzt 10 Prozent der Bevölkerung der Stadt keine Muslime sind (EASO 10.2021). Laut dem letzten Zensus 2023 weist das Hauptstadtterritorium eine Einwohnerzahl von 2,36 Millionen auf (PAKBS 5.8.2023).
2023 verzeichnete PIPS keinen Anschlag in Islamabad (PIPS 10.1.2024; vgl. PIPS 18.1.2024a). Für 2022 verzeichnete das Institut zwei Anschläge, beide gegen Sicherheitskräfte, in denen zwei von diesen sowie drei Terroristen getötet wurden (PIPS 24.2.2023). Im Jahr 2021 war Islamabad ebenfalls von zwei Terroranschlägen betroffen, drei Menschenleben fielen diesen zum Opfer (PIPS 4.1.2022).
CRSS berichtet in einer ersten Auswertung fünf Sicherheitsvorfälle [Anm.: Sicherheitsoperationen oder Terroranschläge] in Islamabad 2023 ohne Tote (CRSS 31.12.2023). In seiner vertiefenden Auswertung für das Jahr 2022 registrierte es für Islamabad sieben Anschläge mit fünf Toten (CRSS 19.5.2023). PICSS zeichnete für Islamabad einen Anschlag auf (PICSS 1.1.2024).
Quellen AJ - Al Jazeera (16/8/2023): Mobs burn Christian churches, homes in Pakistan after blasphemy allegations, https://www.aljazeera.com/news/2023/8/16/angry-mobs-burn-christian-churches-in-p akistan-after-blasphemy-allegations, Zugriff 12.10.2023; CRSS - Center for Research and Security Studies (31/12/2023): Pakistan’s Violence-Related Fatalities Mark A Record 6-Year High, 56% Surge In Violence Recorded In 2023: CRSS Annual Security Report , https://crss.pk/pakistans-violence-related-fatalities-mark-a-record-6-year-high-56-surge-in-violence-recorded-in-2023-crss-annual-security-report, Zugriff 11.1.2024; CRSS - Center for Research and Security Studies (2/8/2023): Annual Security Report 2022 Re-Emergence Of Proxy Terrorism - 3, https://crss.pk/annual-security-report-2022-3, Zugriff 18.10.2023; EASO - European Asylum Support Office (10.2021): EASO Pakistan Security situation Country of Origin Information Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Repo rt_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 5.10.2023; ECPAK - Election Commission of Pakistan [Pakistan] (13/12/2023): District Wise Voters’ Statistics as on 13 December 2023, https://ecp.gov.pk/storage/files/3/District%20Wise%20Voters%20Statis tics%20as%20on%2013%20December%202023.pdf, Zugriff 22.12.2023; HRW - Human Rights Watch (22/8/2023): Pakistan: Mob Attacks Christian Settlement, https://www.hrw.org/news/2023/08/22/pakistan-mob-attacks-christian-settlement, Zugriff 12.10.2023; Lowy Inst - Lowy Institute (21/9/2023): Pakistan at a crossroads on blasphemy , https://www.lowy institute.org/the-interpreter/pakistan-crossroads-blasphemy, Zugriff 12.10.2023; PAKBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (5/8/2023): Announcement of Results of 7th Population and Housing Census-2023, The Digital Census , https://www.pbs.gov.pk/sites/default/f iles/population/2023/Press%20Release.pdf, Zugriff 22.12.2023; PICSS - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies (1/1/2024): 2023 ends with 70 % Increase in Militant Attacks, 81% Rise in Deaths: PICSS Report - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies, https://www.picss.net/featured/2023-ends-with-70-increase-in-militant-attacks-8 1-rise-in-deaths-picss-report, Zugriff 2.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (18/1/2024a): PIPS Database, Islamabad, Overall distribution of attacks/clashes, From January 1, 2023 To December 31, 2023, https://pakpips.com/app/data base/submit_reports.php?category=distribution_attacks, Zugriff 18.1.2024 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (10/1/2024): Pakistan Security Report 2023, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2024/01/Security_Report_2023.pdf, Zugriff 11.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (4/10/2023): Pakistan Monthly Security Report: September 2023, https://pakpips.com/app/reports/1465, Zugriff 11.10.2023 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (5/4/2023): Pakistan Monthly Security Report: March 2023, https://pakpips.com/app/reports/1365, Zugriff 12.10.2023 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (8/3/2023): Pakistan Monthly Security Report: February 2023, https://pakpips.com/app/reports/1349, Zugriff 12.10.2023 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (24/2/2023): Pakistan Security Report 2022, https://www. pakpips.com/web/wp-content/uploads/2023/02/SecReport_2022.pdf, Zugriff 5.10.2023; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (4/1/2022): Pakistan Security Report 2021, https://www.ec oi.net/de/dokument/2077139.html, Zugriff 16.12.2022 [Login erforderlich]; WION - World Is One News (7/3/2023): Pakistan: Hindu students attacked for celebrating Holi in a Punjab law college, https://www.wionews.com/south-asia/15-students-from-hindu-community-att acked-for-celebrating-holi-in-pakistan-569352, Zugriff 18.10.2023;
Sindh
Die Provinz Sindh ist mit Stand Dezember 2023 in 30 Distrikte unterteilt (ECPAK 13.12.2023).
Gemäß der letzten Volkszählung von 2023 beträgt die Bevölkerung des Sindh knapp 56 Millionen (PAKBS 5.8.2023). Die Provinzhauptstadt Karatschi ist gleichzeitig mit etwa 15 bis 25 Millionen Einwohnern die größte Stadt Pakistans. Karatschi ist von verschiedenen Arten der Gewalt betroffen, die TTP sind hier ebenso aktiv wie konfessionell-extremistisch motivierte Gruppen, bewaffnete Flügel von ethnopolitischen Parteien und organisierte kriminelle Banden. Sicherheitsoperationen werden im Sindh durchgeführt und konzentrieren sich dabei hauptsächlich auf Karatschi (EASO 10.2021).
2023 wurden laut Auswertung von PIPS 15 Anschläge im Sindh durchgeführt, die 16 Tote forderten. 14 der Anschläge betrafen die Hauptstadt Karatschi, einer den Inneren Sindh. Sechs der Anschläge wurden von belutschischen oder Sindhi-nationalistischen Gruppen durchgeführt, einer von der TTP und sieben waren extremistisch-konfessionell motiviert, wobei sich fünf gegen sunnitische und zwei gegen schiitische Gemeindemitglieder richteten. Von den fünf Opfern der sunnitischen Glaubensgemeinde waren vier Mitglieder der verbotenen extremistischen Organisation Ahle Sunnat Wal Jamaat, früher Sipah-e-Sahaba Pakistan, SSP, benannt (PIPS 10.1.2024).
2022 wurden laut dem Analyseinstitut PIPS acht Terroranschläge im Sindh verübt, davon sechs in Karatschi und zwei im Inneren Sindh. Dabei wurden acht Menschen getötet. SiebenAnschläge wurden durch Sindhi-nationalistische oder belutschische Gruppierungen und einer durch die TTP verübt PIPS 24.2.2023). 2021 wurden ebenso acht Anschläge im Sindh durchgeführt, fünf davon in Karatschi und zwei im Inneren Sindh (PIPS 4.1.2022).
Das Sicherheitsanalyseinstitut PICCS, Pakistan Institute for Conflict and Security Studies - als Vergleichsquelle - registrierte 35 Anschläge und damit einen Anstieg um 40 Prozent zu seinen Daten des Vorjahres in der Provinz. Demnach gab es 39 Todesopfer bei diesen, davon 22 Zivilisten, elf Sicherheitskräfte und sechs Terroristen (PICSS 1.1.2024).
An kommunaler, religiös motivierter Gewalt zählt PIPS zwei Demontagen von Glaubenstätten der Ahmadis auf (PIPS 18.1.2024b). Im Jahr 2022 wurde eine Verwüstung eines Hindutempels durch Vandalen registriert.Außerdem kam es im Juli zu ethnischen Spannungen: Nachdem ein Afghane des Mordes an einem Sindhi verdächtigt worden war, wurden Geschäfte und Hotels von Paschtunen in einigen Städten im Sindh attackiert (PIPS 24.2.2023). Verschiedene Führer ethnischer Parteien riefen zur Beruhigung der Lage auf. Es wurden Verletzte gemeldet, allerdings keine Toten (DAWN 15.7.2022).
Insgesamt registrierte PIPS 2023 für den Sindh 23 Vorfälle an sicherheitsrelevanter Gewalt mit 19 Toten (PIPS 19.1.2024b).
Quellen DAWN - DAWN Newspaper (15/7/2022): Calls for calm as ethnic strife threatens peace in Sindh, https://www.dawn.com/news/1699697/calls-for-calm-as-ethnic-strife-threatens-peace-in-sindh, Zugriff 19.1.2024; EASO - European Asylum Support Office (10.2021): EASO Pakistan Security situation Country of Origin Information Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Repo rt_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 5.10.2023; ECPAK - Election Commission of Pakistan [Pakistan] (13/12/2023): District Wise Voters’ Statistics as on 13 December 2023, https://ecp.gov.pk/storage/files/3/District%20Wise%20Voters%20Statis tics%20as%20on%2013%20December%202023.pdf, Zugriff 22.12.2023; PAKBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (5/8/2023): Announcement of Results of 7th Population and Housing Census-2023, The Digital Census , https://www.pbs.gov.pk/sites/default/f iles/population/2023/Press%20Release.pdf, Zugriff 22.12.2023; PICSS - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies (1/1/2024): 2023 ends with 70 % Increase in Militant Attacks, 81% Rise in Deaths: PICSS Report - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies, https://www.picss.net/featured/2023-ends-with-70-increase-in-militant-attacks-8 1-rise-in-deaths-picss-report, Zugriff 2.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (19/1/2024b): PIPS Database, Sindh, Overall distribution of attacks/clashes, December 31, 2022 To: December 31, 2023 , https://pakpips.com/app/databa se/submit_reports.php?category=distribution_attacks, Zugriff 19.1.2024 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (18/1/2024b): PIPS Database, Sindh, Communal/faith-based violence, From 01 -01-2023 To 31-12 -2023, https://pakpips.com/app/database/report.php?srtid= rzhaq, Zugriff 18.1.2024 [kostenpflichtig, Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (10/1/2024): Pakistan Security Report 2023, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2024/01/Security_Report_2023.pdf, Zugriff 11.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (24/2/2023): Pakistan Security Report 2022, https://www. pakpips.com/web/wp-content/uploads/2023/02/SecReport_2022.pdf, Zugriff 5.10.2023; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (4/1/2022): Pakistan Security Report 2021, https://www.ec oi.net/de/dokument/2077139.html, Zugriff 16.12.2022 [Login erforderlich];
Kaschmir: Gilgit-Baltistan und Azad Jammu Kaschmir
Line of Control
Die mehrheitlich muslimische Region Kaschmir ist ein zwischen Indien und Pakistan umstrittenes Gebiet. Die nördlichen und westlichen Teile werden von Pakistan verwaltet und umfassen die pakistanischen Verwaltungseinheiten Azad Jammu Kaschmir und Gilgit-Baltistan. Der südliche und südöstliche Teil, Jammu und Kaschmir sowie Ladakh, werden von Indien verwaltet. China kontrolliert mit Teilen von Ladakh den östlichsten Teil der Region. Die von Indien und Pakistan verwalteten Teile sind durch eine Waffenstillstandslinie getrennt - die Line of Control, LoC. Keines der beiden Länder erkennt sie allerdings als internationale Grenze an (EB 13.1.2024). Beide erheben territorialen Anspruch auf die Region in ihrer Gesamtheit (REU 8.9.2023). Die LoC gilt als eine der am stärksten militarisierten Grenzen der Welt (EASO 10.2021; vgl. AAA 10.11.2023).
Indien wirft Pakistan seit Jahrzehnten vor, islamistische Terrororganisationen zu unterstützen, die für eine Unabhängigkeit des indischen Kaschmirs kämpfen. Pakistan bestreitet dies und beschuldigt umgekehrt Indien, separatistische Rebellen zu unterstützen (REU 8.9.2023).
Im Februar 2021 verständigten sich die beiden Länder auf eine verstärkte Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens von 2003 sowie aller Vereinbarungen, Absprachen und Waffenstillstände entlang der LoC (FRL 27.10.2023). Während es in den Monaten unmittelbar davor zu einer Eskalation mit fast täglichen Schusswechseln gekommen ist, die auf beiden Seiten zahlreiche Todesopfer forderten (AAA 10.11.2023), hatten allerdings auch in den Jahren zuvor sporadische Schusswechsel zivile Opfer und Vertreibungen verursacht. Die Erneuerung des Waffenstillstandsabkommens erlaubte eine signifikante Normalisierung des zivilen Lebens in den Gebieten an der LoC (FH 2022b). Unerwartet erfolgreich hat das erneuerte Abkommen seitdem, abgesehen von einigen wenigen Verstößen, den Grenzbewohnern auf beiden Seiten Erleichterung gebracht (FRL 27.10.2023). Mit vier Grenzübergriffen und acht toten Zivilisten im Jahr 2023 an der LoC gestaltete sich das Jahr 2023 allerdings etwas weniger ruhig als die vorhergehende Zeit seit dem Abkommen (PIPS 10.1.2024).
Anschlagszahlen
In Gilgit-Baltistan wurde im Jahr 2023 ein Terrorakt durchgeführt: Im Dezember wurden bei einem extremistisch-konfessionell motivierten Anschlag, der sich gegen schiitische Reisende und die sie schützenden Armeeangehörigen richtete, zehn Menschen getötet. Für Azad Jammu Kaschmir zeichnete PIPS keinen Anschlag auf (PIPS 10.1.2024). Das Sicherheitsanalyseinstitut Pakistan Institute for Conflict and Security Studies registrierte ebenfalls einen Anschlag in Gilgit-Baltistan für 2023, allerdings auch einen in Azad Jammu Kaschmir (PICSS 1.1.2024). CRSS registrierte in seiner ersten Auswertung für das Jahr 2023 17 Tote bei sechs sicherheitsrelevanten Vorfällen [Sicherheitsoperationen und Terrorakte] in Gilgit-Baltistan und einen Vorfall ohne Verletzte in Azad Jammu Kaschmir (CRSS 31.12.2023).
Für das Jahr 2022 listet PIPS ebenfalls keine Anschläge für Azad Jammu Kaschmir sowie einen Anschlag in Gilgit-Baltistan auf, bei dem eine Mädchenschule in Brand gesetzt, allerdings niemand verletzt wurde. Außerdem kam es bei schiitischen Trauerfeierlichkeiten zu Muharram zu einem interkonfessionellen Zusammenstoß, bei dem zwei Schiiten getötet wurden (PIPS 24.2.2023): Ein sunnitischer Mob hatte eine Gruppe Schiiten bei einer schiitischen Zeremonie attackiert (BW 8.8.2022). Das Sicherheitsanalyseinstitut CRSS listete weder für Azad Jammu Kaschmir noch für Gilgit-Baltistan Anschläge im Jahr 2022 auf (CRSS 19.5.2023).
In den Jahren 2020 und 2021 wurden weder für Gilgit-Baltistan noch für Azad Jammu Kaschmir terroristische Anschläge durch PIPS verzeichnet (vgl. PIPS 15.6.2021, PIPS 4.1.2022).
Quellen AAA - Asharq Al-Awsat (10/11/2023): Indian and Pakistani Soldiers Trade Fire in Disputed Kashmir, Killing 1 Indian Soldier, https://english.aawsat.com/world/4659561-indian-and-pakistani-soldiers-t rade-fire-disputed-kashmir-killing-1-indian-soldier, Zugriff 19.1.2024; BW - Bitter Winter (8/8/2022): Pakistan: Shiites Killed in Gilgit-Baltistan, https://bitterwinter.org/pak istan-shiites-killed-in-gilgit-baltistan, Zugriff 20.1.2024; CRSS - Center for Research and Security Studies (31/12/2023): Pakistan’s Violence-Related Fatalities Mark A Record 6-Year High, 56% Surge In Violence Recorded In 2023: CRSS Annual Security Report , https://crss.pk/pakistans-violence-related-fatalities-mark-a-record-6-year-high-56-surge-in-violence-recorded-in-2023-crss-annual-security-report, Zugriff 11.1.2024; CRSS - Center for Research and Security Studies (2/8/2023): Annual Security Report 2022 Re-Emergence Of Proxy Terrorism - 3, https://crss.pk/annual-security-report-2022-3, Zugriff 18.10.2023; EASO - European Asylum Support Office (10.2021): EASO Pakistan Security situation Country of Origin Information Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Repo rt_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 5.10.2023; EB - Encyclopaedia Britannica (13/1/2024): Kashmir - History, People, Conflict, Map, Facts, https: //www.britannica.com/place/Kashmir-region-Indian-subcontinent, Zugriff 19.1.2024; FH - Freedom House (2022b): Pakistani Kashmir: Freedom in the World 2022 Country Report , https://freedomhouse.org/country/pakistani-kashmir/freedom-world/2022, Zugriff 20.1.2024; FRL - Frontline (27/10/2023): Cross-border shelling shatters fragile peace after ceasefire revival in Jammu and Kashmir, https://frontline.thehindu.com/news/cross-border-shelling-breaks-ceasefire-i n-jammu-and-kashmir/article67467251.ece, Zugriff 19.1.2024; PICSS - Pakistan Institute for Conflict and Security Studies (1/1/2024): 2023 ends with 70 % Increase in Militant Attacks, 81% Rise in Deaths: PICSS Report - Pakistan Institute for Conflict and
Security Studies, https://www.picss.net/featured/2023-ends-with-70-increase-in-militant-attacks-8 1-rise-in-deaths-picss-report, Zugriff 2.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (10/1/2024): Pakistan Security Report 2023, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2024/01/Security_Report_2023.pdf, Zugriff 11.1.2024; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (24/2/2023): Pakistan Security Report 2022, https://www. pakpips.com/web/wp-content/uploads/2023/02/SecReport_2022.pdf, Zugriff 5.10.2023; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (4/1/2022): Pakistan Security Report 2021, https://www.ec oi.net/de/dokument/2077139.html, Zugriff 16.12.2022 [Login erforderlich]; PIPS - Pak Institute for Peace Studies (15/6/2021): Pakistan Security Report 2020, https://www. pakpips.com/web/wp-content/uploads/2021/06/Final-Report-2020.pdf, Zugriff 5.10.2023; REU - Reuters (8/9/2023): Former anti-India militant killed in Pakistan-controlled Kashmir, https://www.reuters.com/world/asia-pacific/former-anti-india-militant-killed-pakistan-controlled-kashmir -2023-09-08, Zugriff 20.1.2024;
Rechtsschutz, Justizwesen
Die pakistanische Verfassung und die gesamte pakistanische Rechtsordnung basieren weitgehend auf dem britischen Rechtssystem. Wenngleich gemäß Art. 227 der Verfassung alle Gesetze grundsätzlich im Einklang mit der Scharia stehen müssen, ist deren Einfluss auf die Gesetzgebung trotz Bestehens des Konsultativorgangs „Council of Islamic Ideology“ jedoch eher beschränkt, abgesehen von bestimmten Bereichen wie beispielsweise den Blasphemiegesetzen (ÖB 12.2020; vgl. BS 23.2.2022).
Der Aufbau des Justizsystems ist in der Verfassung geregelt, die folgende Organe aufzählt: Supreme Court of Pakistan - das pakistanische Höchstgericht, ein Oberstes Gericht bzw. High Court in jeder Provinz (sowie im Islamabad Capital Territory) und anderweitige Gerichte, die durch das Gesetz eingerichtet werden. Die fünf Obersten Gerichte fungieren zum einen als originäres Rechtsprechungsorgan für die Durchsetzung der Grundrechte, zum anderen als Berufungsinstanz gegen Beschlüsse und Urteile von untergeordneten Gerichten und der Spezialgerichte in allen zivilen und strafrechtlichen Angelegenheiten. Außerdem dienen sie als Aufsichts- und Kontrollorgan für alle ihnen unterstehenden Gerichte. Des Weiteren existiert gemäß der Verfassung ein Federal Shariat Court (FSC), das zur Prüfung von Rechtsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Islam angerufen oder diesbezüglich auch von sich aus tätig werden kann. Er fungiert zusätzlich zum Teil als Rechtsmittelinstanz in Delikten nach den sogenannten Hudood-Ordinances von 1979, die eine v.a. für Frauen stark benachteiligende Islamisierung des Strafrechts brachten und durch den Protection of Women (Criminal Law Amendment) Act von 2006 in Teilen etwas entschärft wurden (ÖB 12.2020; vgl. FJA 2015). Gilgit-Baltistan sowieAzad Jammu und Kaschmir haben nominell unabhängige Justizsysteme (FH 2022).
Die Systeme der Zivil-, Straf- und Familiengerichte sehen ein faires und ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren vor, die Unschuldsvermutung, das Kreuzverhör und die Berufung. Einzelpersonen können auch gegen Entscheidungen des FSC Berufung bei der „Shariat Appellate Bench“ des Supreme Courts einlegen, wobei der Supreme Court noch eine weitere Berufung zulassen kann. Angeklagte haben das Recht auf Anhörung und auf Konsultation eines Anwalts, von Gerichtswegen muss allerdings nur bei Verbrechen, für deren Verurteilung die Todesstrafe droht, ein Anwalt zur Verfügung gestellt werden. In solchen Fällen wird der Anwalt auch öffentlich finanziert. Im Allgemeinen muss in den unteren Gerichten der Angklagte allerdings selbst für den Anwalt aufkommen, in den Oberen kann ein öffentlich finanzierter zur Verfügung gestellt werden. Die Verfassung erkennt das Recht auf Habeas Corpus an und erlaubt es den Oberen Gerichten, die Anwesenheit einer Person, die eines Verbrechens beschuldigt wird, vor Gericht zu verlangen. In vielen Fällen, in denen es um das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen ging, versäumten es die Behörden allerdings, die Inhaftierten gemäß den Anordnungen der Richter vorzuführen (USDOS 20.3.2023).
Die Justiz (v.a. die oberen Gerichte) versucht ihre nach Ende der Militärherrschaft zurückgewonnene Unabhängigkeit zu verteidigen und bemüht sich, den Rechtsstaat in Pakistan zu stärken – auch mit bei Regierung und Armee bisweilen unpopulären Urteilen (AA 8.8.2022; vgl. TET 26.7.2022). Gleichzeitig sieht sie sich weiterhin starkem Einfluss der Armee sowie Beeinflussungen durch die pakistanische Regierung ausgesetzt (AA 8.8.2022). Obwohl das Gesetz eine unabhängige Justiz vorsieht, unterliegt diese laut NGOs und Rechtsexperten häufig externen Einflüssen, wie z.B. der Angst vor Repressalien durch extremistische Elemente in Terrorismus- oder Blasphemiefällen und der öffentlichen Politisierung bei hochkarätigen Fällen. Zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass Richter zögern, der Blasphemie beschuldigte Personen freizusprechen, weil sie Selbstjustiz befürchten. Außerdem unterliegen Gerichte der unteren Instanzen Berichten zufolge nicht nur dem Druck höherrangiger Richter, sondern auch dem prominenter, wohlhabender, politischer und religiöser Persönlichkeiten (USDOS 20.3.2023). Anhänger konservativer und extremer Denkschulen des Islams sind bestrebt, mit Druck auf allen Ebenen die Rechtspflege zu beeinflussen (AA 8.8.2022). Gleichzeitig lassen sich in der Strafverfolgung von Korruptionsfällen Anzeichen erkennen, wonach sich die Justiz von der nationalen Politik instrumentalisieren lässt - etwa wenn Verfahren gegen mehrere wichtige Oppositionsführer verfolgt werden, während bei Mitgliedern der Regierungspartei ein Mangel an ähnlicher Strafverfolgung herrscht (FH 2022). Auch das vage und übermäßig weit gefasste Volksverhetzungsgesetz, welches auf eine britische Bestimmung aus der Kolonialzeit zurückgeht, wird oftmals gegen politische Gegner eingesetzt (HRW 12.1.2023).
Hinzu kommen Berichte über Korruption im Justizsystem, darunter auch solche, dass Gerichtsbedienstete Zahlungen für eine Beschleunigung von Verwaltungsverfahren verlangten. Gerichte der unteren Instanzen werden als korrupt angesehen, während die Oberen Gerichte und der Supreme Court bei der Bevölkerung und den Medien höhere Glaubwürdigkeit genießen. In den Medien wurde jedoch auch hierbei der Vorwurf einer Einflussnahme durch die Sicherheitsbehörden auf Richter dieser Gerichte thematisiert (USDOS 20.3.2023; vgl. BS 23.2.2022). Die Gerichte und das pakistanische Rechtssystem sind zudem hochgradig ineffizient - Tausende Verfahren sind teils Jahrzehnte lang anhängig. Mangelhafte Ausbildung, Befähigung und Ausstattung großer Teile der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Justizwesens zeigen ebenfalls nachteilige Auswirkungen (AA 8.8.2022). Der enorme Rückstau an Fällen bei niederen wie höheren Gerichten untergräbt das Recht sowohl auf einen wirksamen Rechtsmittelanspruch als auch auf ein faires und öffentliches Verfahren. Veraltete Prozessregeln, unbesetzte Richterstellen, ein mangelhaftes Fallmanagement und eine unzureichende juristische Ausbildung führen zu Verzögerungen in Zivil- und Strafverfahren. Laut der Law and Justice Commission of Pakistan waren mit Stand 31. Juli 2022 2,1 Millionen Fälle anhängig, während allein im Jahr 2021 4,1 Millionen neue Fälle vor Gericht gekommen sind (USDOS 20.3.2023).
Nach Einschätzung des UK Home Office hat der Staat somit zwar ein funktionierendes Strafjustizsystem aufgebaut, doch ist dessen Funktionsfähigkeit auch durch die genannten Probleme begrenzt (UKHO 9.2021). Erhebliche Unzulänglichkeiten im Justizapparat und Schwächen bei der Durchsetzung des geltenden Rechts bestehen fort. Pakistan bekennt sich in seiner Verfassung und auf der Ebene einfacher Gesetze grundsätzlich zur Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern. Gleichwohl fällt es Pakistan insgesamt angesichts der schwach ausgebildeten rechtsstaatlichen Strukturen und der geringen Verankerung des Rechtsstaatsgedankens in der Gesellschaft schwer, rechtsstaatlichen Entscheidungen und damit auch der Schutzpflicht Geltung zu verschaffen (AA 8.8.2022). Neben dem staatlichen Justizwesen bestehen in der Folge vor allem in ländlichen Gebieten Pakistans auch informelle Rechtsprechungssysteme und Rechtsordnungen, die auf traditionellem Stammesrecht beruhen (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 20.3.2023, BS 23.2.2022). De facto spielt in weiten Landesteilen das staatliche Recht für die meisten Pakistaner kaum eine Rolle. Rechtsstreitigkeiten werden nach Scharia-Recht oder nach lokalen Rechtsbräuchen gelöst (AA 8.8.2022). Das World Justice Project reiht Pakistan 2022 auf Platz 129 von 140 teilnehmenden Staaten (WJP 2022).
Am 24. Jänner 2022 wurde erstmals eine Frau als Richterin am Supreme Court ernannt. Laut dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist dies ein Meilenstein für die traditionell konservative und von Männern dominierte Justiz im Land. Allerdings wurde die Bestellung wiederholt kritisiert, z.B. durch die pakistanische Anwaltskammer (BAMF 1.7.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 1.2.2023 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.7.2022): Briefing Notes Zusammenfassung. Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration. Pakistan – Januar bis Juni 2022, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2 022/Zusammenfassungen/briefingnotes-zf-hj-1-2022-pakistan.pdf?__blob=publicationFile v=3, Zugriff 1.2.2023 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Pakistan, https://www.ecoi.net/e n/file/local/2069671/country_report_2022_PAK.pdf, Zugriff 1.2.2023 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2071945.html, Zugriff 1.2.2023 FJA - Federal Judicial Academy [Pakistan] (2015): The Judicial System of Pakistan, 4. Auflage, https://www.supremecourt.gov.pk/downloads_judgements/all_downloads/Judicial_System_of_Pa kistan/thejudicialsystemofPakistan.pdf. Zugriff 1.2.2023 HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2085484.html, Zugriff 1.2.2023 ÖB - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (12.2020): Asylländerbericht Pakistan, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2050270/PAKI_%C3%96B-Bericht_2020_12.pdf, Zugriff 1.2.2023 TET - The Express Tribune (26.7.2022): Pakistan’s judicial system. The judiciary’s role in the evolution of Pakistan’s democracy has been invaluable, https://tribune.com.pk/story/2367756/pak istans-judicial-system, Zugriff 1.2.2023 UKHO - UK Home Office [Vereinigtes Königreich] (9.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Ahmadis https://www.ecoi.net/en/file/local/2059923/PAK_CPIN_Ahmadis.pdf, Zugriff 1.2.2023 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023 WJP - World Justice Project (2022): WJP Rule of Law Index Pakistan, https://worldjusticeproject. org/rule-of-law-index/country/2022/Pakistan/, Zugriff 1.2.2023
Militär- und Anti-Terrorismusgerichte
Im Jänner 2015 erließ die Regierung als Reaktion auf einen Terrorangriff auf eine öffentliche Schule des Militärs in Peschawar eine Verfassungsänderung, welche es Militärgerichten erlaubte, bei Terrorverdacht auch gegen Zivilisten zu prozessieren (ICJ 1.4.2019; vgl. AA 8.8.2022). 2019 lief das Mandat dazu aus (AA 8.8.2022). Unter dem Armee-Gesetz unterhält das Militär allerdings weiterhin seine eigenen Gerichte, hauptsächlich für das eigene Personal. Jedoch beansprucht die Armee auch das Recht, in ausgewählten Fällen der nationalen Sicherheit Zivilisten unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor Gericht zu stellen (FH 2022).
Außerdem spricht die „Khyber Pakhtunkhwa Aktivitäten (in Hilfestellung der zivilen Kräfte) Verordnung“ aus dem Jahr 2019 dem Militär in Khyber Pakhtunkhwa die Befugnis zu, Zivilisten auf unbestimmte Zeit ohne Anklage in Internierungslagern festzuhalten, Besitz zu beschlagnahmen, Operationen durchzuführen und Gefangene allein aufgrund der Aussage eines einzigen Soldaten zu verurteilen. Schon vor der Verordnung war das Militär in dieser Provinz immun vor Strafverfolgung durch Zivilgerichte. Sie ist es auch weiterhin. Die Verordnung entbindet das Militär von der Verpflichtung, Familien über die Verhaftung von Angehörigen zu informieren.
Dadurch können diese eine Verhaftung auch nicht vor Zivilgerichten anfechten. Das Oberste Gericht der Provinz erklärte das Gesetz 2018 für verfassungswidrig, doch der Supreme Court setzte dieses Urteil aus. Bis zum Ausgang eines Berufungsverfahrens, welches derzeit beim Supreme Court anhängig ist, behält das Militär weiterhin die Kontrolle über seine Haftzentren in den ehemaligen Federally Administered Tribal Areas (USDOS 20.3.2023).
Die pakistanischen Militärgerichte entsprechen weder den pakistanischen noch den internationalen Standards für faire Verfahren vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten. So sind die Richter Teil der Exekutive sowie der militärischen Kommandostruktur untergeordnet. Es gibt kein Recht auf ein öffentliches Verfahren, auf Berufung vor einem Zivilgericht oder auf eine schriftliche Urteilsverkündung mit Erläuterung der Beweislast. Auch die Todesstrafe kann nach einem unfairen Gerichtsverfahren vollstreckt werden (ICJ 2.2.2021).
Gemäß dem Gesetz bestehen parallel zu den Militärgerichten außerdem eigene sogenannte Anti-Terrorismusgerichte (Anti Terrorism Courts,ATCs). Diese sind für Personen zuständig, die terroristischer Aktivitäten oder konfessionell motivierter Gewalt verdächtigt werden (USDOS 20.3.2023). Sie räumen Angeklagten nur unzureichende Rechte ein (AA 8.8.2022). Oft werden diese Gerichte auch in Fällen herangezogen, die keinen Bezug zu Terrorismus aufweisen, unter anderem bei Blasphemievorwürfen oder anderen Handlungen, die als Anstiftung zu religiösem Hass beurteilt werden, aber auch bei Fällen mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Dies führt zu einem deutlichen Rückstau an Fällen und zur Nichteinhaltung von Standards für ein zügiges Verfahren, wenngleich dieses Gerichtssystem zügiger arbeitet als das reguläre. Menschenrechtsaktivisten kritisieren das parallele System und bezeichnen es als anfälliger für politische Manipulation (USDOS 20.3.2023). So wurden auch bereits Menschenrechtsaktivisten und Journalisten nach dem Anti-Terrorgesetz verhaftet (HRCP 2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 6.2.2023 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2071945.html, Zugriff 6.2.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hr cp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdfZugriff, Zugriff 6.2.2023 ICJ - International Commission of Jurists (2.2.2021): Pakistan: Idrees Khattak’s military trial is an affront to human rights, https://www.icj.org/pakistan-idrees-khattaks-military-trial-is-an-affront-t o-human-rights/, Zugriff 6.2.2023 ICJ - International Commission of Jurists (1.4.2019): Pakistan: as military courts lapse, Government must prioritize reform of the criminal justice system, https://www.icj.org/pakistan-as-military-court s-lapse-government-must-prioritize-reform-of-the-criminal-justice-system/#:~{}:text=Military%20 courts%20were%20first%20empowered,a%20period%20of%20two%20years, Zugriff 6.2.2023 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023
Informelle Rechtsprechung und islamisch geprägte Rechtsnormen
In ländlichen Gebieten Pakistans bestehen auch informelle Rechtsprechungssysteme und Rechtsordnungen, die auf traditionellem Stammesrecht beruhen. So spielt in von Paschtunen bewohnten Teilen des Landes, vor allem in den ehemaligen Federally Administered Tribal Areas (FATA), der für diese Volksgruppe maßgebliche Rechts- und Ehrenkodex Paschtunwali eine bedeutende Rolle. Dieser wird bei Unrechtsfällen vom Vergeltungsgedanken sowie vom zentralen Wert der Ehre bestimmt. Streitigkeiten werden dort auf Basis des Paschtunwali von Stammesräten bzw. -gerichten (Jirgas) entschieden (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 20.3.2023, EB 6.1.2023). Erklärtes Ziel der pakistanischen Bundesregierung ist es, die ehemaligen Stammesgebiete vollständig in das staatliche Rechtssystem einzugliedern. Der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen steht jedoch noch ganz am Anfang (AA 8.8.2022).
Jirgas sind in Pakistan auch außerhalb paschtunischer Gebiete nach wie vor weit verbreitet, neben den ehemaligen FATA auch in den ländlichen Gebieten von Khyber Pakhtunkhwa, in Belutschistan, im inneren Sindh sowie im südlichen Punjab. Sie wenden neben Stammes- auch Schariarecht an. Diese neben dem formellen Rechtssystem bestehenden ad hoc-Gerichte führen u.a. zu einem Rechtspluralismus, der Opfer von Verfolgung - insbesondere Frauen - stark benachteiligt. Dies resultiert in oft menschenverachtenden Strafen für Frauen durch Jirgas, wie z.B. angeordnete Vergewaltigungen, Zwangsheiraten, etc. Besonders in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa ist es trotz gesetzlichen Verbots verbreitet, zur Beendigung von Blutfehden eine junge Frau (oft Mädchen unter 18 Jahren) als Blutzoll an eine verfeindete Familie zu übergeben. Neben Stammesgerichten üben in Sindh und Punjab vereinzelt Grundbesitzer zum Teil richterliche Funktionen aus. Ähnliche Systeme existieren auch unter Hindus (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 25.1.2022).
Der Supreme Court sprach sich bisher mehrmals gegen von Jirgas verhängte Strafen wie die Hergabe von Töchtern als Kompensation für begangenes Unrecht sowie gegen andere verfassungswidrige Praktiken der Stammesräte aus, was deren Fortbestehen allerdings bisher nicht verhindern konnte (ÖB 12.2020). Im Oktober 2021 urteilte der Federal Shariat Court (FSC) ebenso, dass die Übergabe von minderjährigen Mädchen zur Streitbeilegung gegen die Prinzipien des Islams verstößt und mindestens vier islamische Rechtsprinzipien bricht (Dawn 26.10.2021).
Das pakistanische Strafgesetzbuch sieht allerdings auch selbst die Anwendung bestimmter islamischer Rechtsprinzipien vor, die z.B. dazu führen, dass in vielen Fällen von Ehrenmorden die Täter sich der Strafverfolgung entziehen können (BAMF 5.2020; vgl. The Diplomat 28.7.2022). So anerkennt das islamische Rechtsprinzip Qisas eine Vergeltung für Mord, Körperverletzung oder Sachbeschädigung durch Gleichwertigkeit; der Grundsatz Diyat erlaubt eine finanzielle Abgeltung dieser Gleichwertigkeit (DFAT 25.1.2022). Demnach können Erben bzw. Nachkommen von Getöteten dem Täter verzeihen (Qisas) und/oder ein Blutgeld als Entschädigung akzeptieren (Diyat) und damit dem Täter einer gerichtlichen Strafverfolgung entziehen. Da dieser z.B. bei Ehrenmorden in der Regel aus dem familiären Umfeld stammt, kann in der Mehrzahl der Fälle davon ausgegangen werden, dass die berechtigen Erben der gütlichen Einigung zustimmen (BAMF 5.2020; vgl. The Diplomat 28.7.2022). Mit dem erklärten Ziel der Reduzierung der Ehrenmorde verabschiedete das pakistanische Parlament 2016 ein Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozessordnung. Damit ist jedoch keine grundlegende Verbesserung eingetreten (AA 8.8.2022). Trotz der verschiedenen Versuche, diese traditionelle Praxis abzuschaffen, bleibt sie verbreitet (FH 2022). Gerichte sprechen immer wieder aufgrund von Ehrenmorden Verurteilte frei [siehe Kapitel Betroffene von Blutfehden, Ehrverbrechen und anderen schädlichen traditionellen Praktiken] (BAMF 1.7.2022).
Die 1979 unter der Militärdiktatur proklamierten Hudood-Verordnungen waren Teil einer Islamisierungspolitik Pakistans (France24 20.8.2021). Sie sehen die Anwendung von Strafen des islamischen Rechts für eine Reihe von Vergehen vor. Jedoch war die Strafverfolgung für Ehebruch - Zina - überproportional hoch (ILS 17.6.2021; vgl. DFAT 25.1.2022). 2006 wurden mit dem Frauenschutzgesetz (Woman Protection Law) Ehebruch und Vergewaltigung aus den Hudood-Verordnungen entfernt. Letztere werden weiterhin parallel zum auf britischem Recht basierenden Strafgesetz angewandt, kommen tatsächlich allerdings selten zum Einsatz (France24 20.8.2021). Ehebruch gilt laut Strafgesetzbuch als „Unzucht“ und kann mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe und/oder einer Geldstrafe geahndet werden (AA 8.8.2022). Seit der Reform sind die diesbezüglichen Anzeigen zurückgegangen [siehe Kapitel Frauen] (ILS 17.6.2021).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 1.2.2023 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.7.2022): Briefing Notes Zusammenfassung. Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration. Pakistan – Januar bis Juni 2022, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNot es/2022/Zusammenfassungen/briefingnotes-zf-hj-1-2022-pakistan.pdf?__blob=publicationFile v =3, Zugriff 7.2.2023 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.2020): Länderreport 24 Pakistan. Lage der Ahmadis und Schiiten sowie Ehrverbrechen im Kontext der islamisch geprägten Strafgesetzgebung, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszen trum/Laenderreporte/2020/laenderreport-24-pakistan.pdf?__blob=publicationFile v=3, Zugriff 7.2.2023 Dawn (26.10.2021): Federal Shariat Court declares swara as un-Islamic, https://www.dawn.com/n ews/1654025, Zugriff 6.2.2023 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-report-pakistan. pdf, Zugriff 7.2.2023 EB - Encyclopaedia Britannica (6.1.2023): Pashtun people, https://www.britannica.com/topic/Pas htun, Zugriff 30.3.2023 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2071945.html, Zugriff 7.2.2023 France 24 (20.8.2021): Sharia law around the world, https://www.france24.com/en/live-news/2021 0820-sharia-law-around-the-world, Zugriff 7.2.2023 ILS - Islamic Law and Society / Muhammad Zubair Abbasi (17.6.2021): Sexualization of Sharīʿa: Application of Islamic Criminal (Ḥudūd) Laws in Pakistan, https://brill.com/view/journals/ils/aop/arti cle-10.1163-15685195-bja10016/article-10.1163-15685195-bja10016.xml, Zugriff 7.2.2023 ÖB - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (12.2020): Asylländerbericht Pakistan, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2050270/PAKI_%C3%96B-Bericht_2020_12.pdf, Zugriff 6.2.2023 The Diplomat (28.7.2022): Honor Killings’ Continue Unabated in Pakistan, https://thediplomat.co m/2022/07/honor-killings-continue-unabated-in-pakistan/, Zugriff 16.12.2022 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023
Rechtliche und politische Transformation in den KP Tribal Districts (ehemalige FATA)
Per Verfassungsänderungsgesetz vom Mai 2018 wurden die FederallyAdministered TribalAreas (FATA) mit der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) zusammengelegt und damit die verfassungsmäßigen Bürgerrechte auf ihre ungefähr 5 Millionen Einwohner ausgedehnt (USIP 6.4.2021; vgl. UNDP 8.2022). Das Wirkungsgebiet des pakistanischen Strafgesetzes sowie die Zuständigkeit der höheren Gerichte wurde damit auf die früheren Stammesgebiete ausgedehnt und die reguläre Polizei in den Stammesdistrikten eingerichtet (FH 3.3.2021). Die siebenAgencies und sechs Frontier Regions der zuvor semiautonomen Stammesregion wurden in Distrikte und Sub-Divisionen von KP umstrukturiert. Sie werden jetzt als Khyber Pakhtunkhwa Tribal Districts (KPTDs), Stammesdistrikte, bezeichnet (EASO 10.2021; vgl. The Nation 16.12.2022).
Die Umsetzung der damit einhergehenden Ausdehnung des gesamten pakistanischen Rechtsund Justizsystems auf die ehemalige FATA begann ab März 2019. Die FATA waren zuvor zwar als Gebiet Pakistans anerkannt, aber von den sogenannten „settled districts“ unterschieden, wobei ihr Sonderstatus im Rahmen der Frontier Crimes Regulation (FCR) durch Artikel 247 der Verfassung legitimiert wurde. Nach dem Aufheben der FCR trat die FATA Interim Governance Regulation 2018 in Kraft, die als fünfjährige Übergangsregelung bis zum Abschluss des Aufbaus eines Gerichtssystems geplant war. Sie wurde allerdings vom Obersten Gericht der Provinz KP noch im Oktober 2018 aufgehoben, das entschied, dass die Gesetze und Rechte der Provinz vollumfänglich anzuwenden sind (USIP 6.5.2021). Darüber hinaus erklärte das Urteil des Obersten Gerichtshofs parallele Justizsysteme (z.B. die Jirgas) im ganzen Land für illegal und verfassungswidrig. In dem Urteil heißt es, dass Jirgas und andere informelle Systeme nur als Mechanismen zur Vermittlung, Schlichtung und Verhandlung von zivilrechtlichen Streitigkeiten dienen könnten (USIP 6.5.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Allgemein wird allerdings insbesondere für die ländlichen Regionen Pakistans berichtet, dass weiterhin Jirgas abgehalten werden, die oft Urteile fällen, die Menschenrechtsverletzungen darstellen (USDOS 20.3.2023).
Indes geht der rechtliche Eingliederungs- und Reformprozess nur schleppend voran, und es mangelt an der Einbeziehung der lokalen Bevölkerung („ownership“). Die Errichtung von Gerichten stagniert, außerdem wurden die meisten Zivil- und Strafgerichte für die neuen Stammesdistrikte in den jeweils an sie angrenzenden, bestehenden Distrikten KPs eingerichtet (PIPS 15.6.2021). Es wird kritisiert, dass einerseits Stämme traditionelle Jirgas nicht mehr abhalten dürfen, andererseits jedoch das staatliche Rechts- und Polizeisystem noch nicht vollständig eingerichtet worden ist (PIPS 4.1.2022). Der Mangel an Infrastruktur an Gerichten stellt ein Problem in der Zugänglichkeit zum Recht dar. Für die Bevölkerung ist es schwierig und kostenintensiv, überhaupt zu Gerichten zu gelangen. Auch bei der Staatsanwaltschaft mangelt es an Ermittlungskapazitäten (USIP 6.5.2021).
Im Zuge der Eingliederung der ehemaligen FATAwurden auf Distriktebene Verwaltungsorgane in jedem KPTD eingerichtet (DIP 25.8.2022). Berichten zufolge ist die Verwaltung allerdings nicht in der Lage die Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen. Die Distriktverwaltungen haben nur begrenzte Befugnisse und finanzielle Ressourcen, kaum Ausstattung und es fehlt an Ausbildung.
Schon die Beschaffung von Grundstücken für die Büros ist eine Herausforderung. Da es keine Aufzeichnungen über die Besitzrechte gibt, gibt es immer wieder Parteien, die Besitzansprüche an Grundstücken geltend machen, die dem Bau öffentlicher Gebäude gewidmet wurden, und diese vor Gericht einklagen. Außerdem ist weiterhin die Armee präsent, die nicht unter der Distriktverwaltung steht. Andererseits hat die Bevölkerung auch wenig Vorstellung darüber, wie das neue System funktioniert. Die Alphabetisierung ist in den Stammesdistrikten gering. In einigen Gebieten beträgt sie ungefähr 34 Prozent, in anderen ist sie nicht vorhanden. Auch fehlt es an Verständnis für die Wichtigkeit von Dokumenten oder schriftlichen Nachweisen ebenso wie an Wissen über und Vertrauen in die behördlichen Prozesse und Dienstleistungen (Friday Times 18.6.2022; vgl. Dawn 18.7.2022). Das UN-Entwicklungsprogramm führte diesbezüglich verschiedenen Kampagnen zur Bürgerbildung für die Bevölkerung durch(UNDP 8.2022).
Mit dem langsamen Reformprozess in der Verwaltung und im Gerichtssystem ist zudem eine Zunahme von Landstreitigkeiten verbunden (PIPS 4.1.2022). Die Administration von KP hat die Anwendung der Grundstücksgesetze auch in die Stammesgebiete ausgedehnt, damit sind die Einwohner berechtigt, Grundstücksstreitigkeiten vor die formalen Gerichte zu bringen. Doch die Grundstücksregistrierung geht nur sehr langsam voran, so befindet sich Grund und Boden oft noch ohne Dokumentation und in kollektivem Besitz (FRC 7.1.2021). Jahrealte Grundstücksstreitigkeiten werden vor die Gerichte gebracht, was die Konflikte verstärkt (The Print 4.8.2022). Die Gerichte können ohne Aufzeichnungen keine Entscheidungen treffen, die Fälle bleiben anhängig, was einerseits zu Frustration und mitunter Gewalt führt, andererseits zu weiten, nicht nutzbaren Flächen (Friday Times 18.6.2022).
Derartige Dispute nehmen besonders in jenen Gebieten zu, in die IDPs zurückgekehrt sind.
Im Jahr 2020 fielen laut Aufzeichnungen des FRC 158 Stammesangehörige in 15 Vorfällen Grundstückskonflikten zum Opfer (FRC 7.1.2021). Insgesamt sind Grundstücksstreitigkeiten ein Hauptfaktor von Konflikten in den KPTDs. UNDP unterstützt die Regierung beim Aufbau eines Regelungsprozesses für Grundstücksstreitigkeiten sowie den Kapazitäten dafür (UNDP 8.2022).
Das Versprechen der politischen Teilhabe der neuen Stammesdistrikte im politischen Prozess von KP bleibt weitgehend uneingelöst. Im Zuge der Zusammenführung wurde 2019 die Gesamtzahl der Abgeordneten in der Provinzversammlung um 21 Sitze für Abgeordnete aus den Stammesdistrikten erhöht. Die Abgeordneten zur Provinzversammlung aus den Stammesgebieten, Stammesältere und Parlamentarier der Stammesdistrikte protestierten allerdings im Jahr 2020 gegen die mangelnde Umsetzung der Reformen und verlangten u.a. eine Erhöhung der Zahl an Sitzen für die Stammesdistrikte, eine Erhöhung der Anteile am nationalen Finanzbudget für die Stammesdistrikte und den Wiederaufbau der durch die Militäroperationen zerstörten Häuser (HRCP 2021).
Bereits das gesamte Jahr 2020 über wurden Proteste abgehalten, um auf die Probleme aufmerksam zu machen (PIPS 15.6.2021). Verschiedene Proteste gegen das Vorgehen der Behörden fanden auch 2021 statt (HRCP 2022). Die angekündigte Beschleunigung der Reformen ist noch nicht gelungen. Dies führte zur Forderung der Rücknahme der Zusammenlegung vonseiten lokaler Gruppen. Einige Stammesvertreter brachten bei Gericht Petitionen ein, sodass der Supreme Court 2022 ein eigenes Richterkollegium [„larger bench“] zur Anhörung von Petitionen gegen die Verfassungsänderung zur Zusammenlegung einrichtete (PIPS 11.1.2023).
Auch angekündigte Entwicklungsprogramme wurden nur unvollständig umgesetzt, Petitionen fordern die zugesagten Gelder für die Entwicklungsprojekte ein (HRCP 2022). Mittel, welche für Entwicklungsprogramme für die zurückgekehrten Vertriebenen zugeteilt waren, wurden zu weiten Teilen in das Sicherheitsbudget umgeleitet (PIPS 15.6.2021). Die Stammesgebiete wurden durch die Regierung jahrelang vernachlässigt, es fehlt an Infrastruktur und öffentlichen Einrichtungen (AlJazeera 2.2.2023; vgl. The Nation 16.12.2022). Die Bewohner der Gebiete unterliegen einem mangelhaften Zugang zu sauberem Trinkwasser, medizinischer Grundversorgung, Bildung und Stromversorgung (PIPS 15.6.2021; vgl. Al Jazeera 2.2.2023). Auch nach der Eingliederung fehlen weiterhin die dringend notwendigen Investitionen in die Infrastruktur und das Sozialwesen (TET 12.3.2023).
Laut Schilderung der Provinzregierung wurden 4.000 Angestellte aus den FATA Projekten nun regulär angestellt und Entwicklungsprojekte für alle Sektoren eingesetzt. Dabei wurden u.a. Stipendien für Studenten vergeben, 10.000 neue Lehrer angestellt, Schulen, Spielplätze, Straßen, Brücken, kleinere Industrien und Kraftwerke renoviert oder neu errichtet (TET 11.12.2022; vgl. HRCP 2022). Einigen Quellen zufolge stockt die Finanzierung der Entwicklungsprojekte der Provinz für die KPTDs, auch aufgrund der politischen Auseinandersetzung zwischen der Zentral- und der Provinzregierung (Pakistan Today 23.9.2022).
Als positive Entwicklungen im Transformationsprozess zeigte eine US-Studie, dass Gerichte selbst bereits Ermittlungsfehler oder Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren in Verhandlungen feststellten, Frauen - im Gegensatz zu Jirgas - nun direkten Zugang zum Rechtssystem haben, und die Bevölkerung den Zugang zu den verfassungsmäßigen Rechten bei Befragungen als sehr wichtig angab. Einige der Gerichte, die zuvor in den angrenzenden Distrikten untergebracht waren, wurden bereits in den jeweiligen Stammesdistrikt verlegt (USIP 6.5.2021). Die Ausarbeitung von administrativen und rechtlichen Regelwerken wird vom FATA Development Programm, das u.a. von der EU und der GIZ finanziert wird, unterstützt (GIZ 2022). Der Zugang zu einem ordnungsgemäßen Verfahren hat in den früheren FATA-Gebieten zugenommen (FH 3.3.2021). Außerdem befindet sich im Mohmand Tribal District eines der acht speziellen Kinderschutzgerichte Khyber Pakhtunkhwas (USDOS 20.3.2023). Für bestimmte Fälle, die vor der Abschaffung des vorigen Rechtssystems - der FCR - anhängig waren, wies das Oberste Gericht von Peschawar im März 2023 die Provinzregierung an, zwei eingestellte Rechtsorgane, namentlich das Federally Administered Tribal Areas Tribunal und den Frontier Crimes Commissioner wiedereinzurichten und definierte die Zuständigkeit (Dawn 6.3.2023).
Im politischen Bereich sind die Errichtung politischer Institutionen und einer lokalen Verwaltungsstruktur, die politische Teilhabe von Frauen und der Jugend sowie die Repräsentation der Stammesgebiete in der Provinzversammlung positive Entwicklungen. Die Teilnahme von Frauen in Politik und Gesellschaft hat sich erhöht (IPSI 4.8.2022). Die Wahlen zu den lokalen Vertretungen konnten in allen KPDTs im Zeitraum 2021-2022 erfolgreich abgehalten werden. In der ersten Phase im Dezember 2022 wurden erstmals in den KPDTs Khyber, Mohmand und Bajaur gemeinsam mit anderen Distrikten KPs Wahlen abgehalten. In der zweiten Phase wurden die lokalen Wahlen in den übrigen Teilen der Provinz inklusive der KPDTs Orakzai, Nord- und Süd Waziristan sowie Kurram durchgeführt (PIPS 11.1.2023; vgl. DailyTimes 31.3.2022). Der Kapazitätsaufbau dazu wurde durch das UN-Entwicklungsprogramm unterstützt (UNDP 8.2022). [Anm.: Für den Aufbau der Polizei in den Tribal Districts siehe Kap. Sicherheitskräfte].
Auch das Sozialversicherungsprogramm der Provinz KP, Sehat Sahulat, wurde auf die Stammesdistrikte ausgedehnt (NDM 30.5.2021).
Insgesamt ist laut Islamabad Institute of Policy Studies die Lage durch eine langsame Entwicklung gekennzeichnet, welche die Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllen kann und sogar starke Befürworter enttäuscht hat. Obwohl in einer Reihe von Bereichen Reformen implementiert wurden, u.a. in der Justiz, im Aufbau der Administration, in der sozio-ökonomischen Entwicklung, im Sicherheitsbereich, in der Grundstücksdokumentation und dem Wiederaufbau, stellt die langsame Umsetzung die Effizienz der Reformen infrage (IPSI 4.8.2022). Auch das UN-Entwicklungsprogramm berichtet im August 2022, dass zwar signifikante Fortschritte in der Ausdehnung der grundlegenden Infrastruktur und staatlichen Dienstleistungen erzielt werden konnten, doch noch viel zu tun bleibt, um die Bewohner der Gebiete in den Genuss der Vorzüge durch die Eingliederung zu bringen (UNDP 8.2022).
Quellen: Al Jazeera (2.2.2023): What is behind the rising violent attacks in Pakistan?, https://www.aljazeera.com/news/2023/2/2/what-is-behind-the-rising-attacks-in-pakistan, Zugriff 9.2.2023 Daily Times - The Daily Times (31.3.2022): Polling for 2nd phase of LG election starts in 18 KP districts, https://dailytimes.com.pk/910936/polling-for-2nd-phase-of-lg-election-starts-in-18-kp-dis tricts/, Zugriff 22.3.2023 Dawn (6.3.2023): PHC orders govt to notify judicial forums under repealed FCR, https://www.da w3n.com/news/1740607, Zugriff 22.3.2023 Dawn (18.7.2022): Merger and reform in ex-Fata, https://www.dawn.com/news/1700228, Zugriff 20.3.2023 EASO - European Asylum Support Office [jetzt: EUAA - European Asylum Agency] (10.2021): Pakistan Security Situation,https://coi.euaa.europa.eu/administration/easo/PLib/2021_10_EASO_COI_Report_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 12.3.2023 FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/ document/2052851.html, Zugriff 12.3.2022 FRC - FATA Research Centre (7.1.2021): Khyber Pakhtunkhwa Tribal Districts Annual Security Report 2020 [liegt in der Staatendokumentation als pdf auf] Friday Times - The Friday Times (18.6.2022): Merger Of Fata: The Unreasonable Taliban Demand To Reverse The Area’s Present Status, https://www.thefridaytimes.com/2022/06/18/merger-of-fat a-the-unreasonable-taliban-demand-to-reverse-the-areas-present-status/, Zugriff 22.3.2023 GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (2022): Pakistan’s Merged Areas,A Tribal Society on its Way to Local Governance,A Glance into the Photographic Archive of the FATA Development Programme, https://dgipr.kpdata.gov.pk/wp-content/uploads/2022/12/Exhibitio n-Catalogue-Islamabad-23-MB.pdf, Zugriff 23.3.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 19.8.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_re moved.pdf, Zugriff 26.1.2022 IPSI - Institute of Policy Studies Islamabad (4.8.2022): ‘Pakistan Tribal Areas: Four Years After Merger’, https://www.ips.org.pk/pakistan-tribal-areas-four-years-after-merger/. Zugriff 22.3.2023 DIP - Daily Islamabad Post (25.8.2022): Creating resilience and cohesion in the Tribal districts!, https://islamabadpost.com.pk/creating-resilience-and-cohesion-in-the-tribal-districts/, Zugriff 22.3.2023 NDM - Naya Daur Media (30.5.2021): The State Of Tribal Districts 3 Years After The Merger With KP Province, https://nayadaur.tv/2021/05/the-state-of-tribal-districts-3-years-after-the-merger-wit h-kp-province/, Zugriff 4.3.2023 Pakistan Today (23.9.2022): Financial crisis: KP fails to fund ADP projects in tribal districts, https: //www.pakistantoday.com.pk/2022/09/23/financial-crisis-kp-fails-to-fund-adp-projects-in-tribal-dis tricts/, Zugriff 22.3.2023 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (11.1.2023): Pakistan Security Report 2022, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Safdar_ASR-22-reviewed.pdf, Zugriff 20.1.2023 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (4.1.2022): Pakistan Security Report 2021, http://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Sr2021FinalWithTitles.pdf, Zugriff 20.1.2022 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (15.6.2021): Pakistan Security Report 2020 - Final Report, https://www.pakpips.com/article/book/pakistan-security-report-2020, Zugriff 12.3.2023 The Nation (16.12.2022): Ex-FATA remains centre of neglect since merger into KP, https://www. nation.com.pk/16-Dec-2022/ex-fata-remains-centre-of-neglect-since-merger-into-kp, Zugriff 22.3.2023 The Print (4.8.2022): Pakistan: FATA people facing trouble after merger with KP. https://theprint.in/ world/pakistan-fata-people-facing-trouble-after-merger-with-kp/1068190/, Zugriff 22.3.2023 TET - The Express Tribune (12.3.2023): Ex-Fata schools, https://tribune.com.pk/story/2405598/e x-fata-schools, Zugriff 22.3.2023 TET - The Express Tribune (11.12.2022): Efforts under way to mainstream tribal districts, https: //tribune.com.pk/story/2390540/efforts-under-way-to-mainstream-tribal-districts, Zugriff 12.3.2023 UNDP (8.2022): The Merged Areas Governance Project, https://www.undp.org/sites/g/files/zskgk e326/files/2022-11/magp_project_brief_2022-23.pdf, Zugriff 22.3.2023 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023 USIP - United States Institute of Peace [USA]; U.M. Khan; R.H. Ijaz; S. Saadat (6.4.2021): Extending Constitutional Rights to Pakistan’s Tribal Areas, https://www.usip.org/publications/2021/04/extend ing-constitutional-rights-pakistans-tribal-areas, Zugriff 12.3.2023
Politischer und rechtlicher Aufbau Gilgit-Baltistan und Azad Jammu Kaschmir
Pakistan kontrolliert die Gebiete Gilgit-Baltistan (GB) sowie Azad Jammu und Kaschmir (AJK) auf der pakistanischen Seite Kaschmirs (AA 18.10.2022). Jedes dieser beiden Territorien hat eine gewählte Versammlung und eine Regierung mit begrenzter Autonomie. Ihnen fehlen allerdings die Vertretung im pakistanischen Parlament und andere Rechte pakistanischer Provinzen. Die pakistanischen Bundesinstitutionen haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Sicherheit, die Justiz und die meisten wichtigen politischen Angelegenheiten. Die pakistanische Regierung kontrolliert direkt und indirekt wichtige exekutive Funktionen, während sie der dortigen Wählerschaft nicht rechenschaftspflichtig ist (FH 2022). GB undAJK werden damit von Pakistan verwaltet, während die dort lebenden Bürger für die gesamtstaatlichen Institutionen keine Wahlberechtigung haben (HRCP 2022). Die Politik innerhalb der beiden Gebiete wird sorgfältig gesteuert, um die Idee eines eventuellen Beitritts Kaschmirs zu Pakistan zu fördern (FH 2022).
Die gesetzgebende Versammlung von AJK setzt sich aus 53 Abgeordneten zusammen, fünf der Sitze sind für Frauen reserviert, drei für Geistliche, Technokraten und Auslandskaschmirer.
Zuletzt wurden im Juli 2021 Wahlen für die gesetzgebende Versammlung abgehalten. Die zum Zeitpunkt der Wahlen in AJK in Pakistan regierende Partei PTI gewann insgesamt 32 Sitze und stellt sowohl den Premierminister als auch den Präsidenten von AJK. Der AJK-Rat befindet sich in Islamabad, setzt sich aus kaschmirischen und pakistanischen Vertretern zusammen und wird vom pakistanischen Premierminister geleitet (FH 2022). Der Rat hat durch die Änderung der Übergangsverfassung vonAJK im Jahr 2018 nur noch eine rein beratende Funktion. Seine vorigen Befugnisse wurden zum einem auf die gesetzgebende Versammlung von AJK übertragen, zum anderen auf den pakistanischen Premierminister, der Gesetze für AJK über die pakistanische Regierung festlegt (HRCP 2022).
Die gesetzgebende Versammlung von GB besteht aus 33 Sitzen, von denen sechs für Frauen und drei für Technokraten reserviert sind. Die Machtbefugnisse sind stark begrenzt und einige Themen wie äußere Angelegenheiten, Verteidigung oder innere Sicherheit dürfen nicht thematisiert werden. Einige Machtbefugnisse des Gilgit-Baltistan Council (GBC), der vom pakistanischen Premierminister geleitet wird, wurden unter der Gilgit-Baltistan Government Order 2018 auf die gesetzgebende Versammlung übertragen. Der Council hat nur noch beratende Funktion. Die exekutiven Funktionen wurden zwischen einem Gouverneur, der durch Pakistan eingesetzt wird, und einem Ministerpräsidenten, der durch die Versammlung von GB gestellt wird, neu aufgeteilt. Der Gouverneur unterzeichnet die Gesetzgebung und hat bedeutende Machtbefugnisse, wie die Ernennung von Richtern. Seine Entscheidungen können nicht von der Versammlung GBs überstimmt werden. Die Verordnung spricht außerdem dem pakistanischen Premierminister weitgehende Befugnisse zu, u.a. alleinige Exekutiv- und Legislativbefugnisse bezüglich einer langen Liste von Angelegenheiten (FH 2022). Es werden Möglichkeiten erwogen, dem Territorium einen Provinzstatus zuzusprechen. Das pakistanische Justizministerium hat eine Verfassungsänderung ausgearbeitet (FH 2022; vgl. RSIL 24.10.2022). Der verfassungsmäßige Status von GB bleibt bis dato allerdings unverändert (FH 2022; vgl. Pakistan Politico 7.3.2023).
Beide Gebiete haben nominell unabhängige Justizsysteme, aber die Bundesregierung spielt bei Richterbesetzungen eine gewichtige Rolle. GB und AJK haben beide ein Oberstes Berufungsgericht (Supreme Appellate Court) und ein Höchstgericht (Supreme Court). In GB werden der Höchstrichter und die Richter des Berufungsgerichts durch den Premierminister Pakistans auf Empfehlung des Gouverneurs ernannt. In AJK wird der Vorsitzende Richter durch den Präsident von AJK und den AJK-Rat ernannt, die anderen Richter der oberen Gerichte werden durch den Präsidenten auf Vorschlag des Rats ernannt. Bei politisch heiklen Fällen werden die Gerichte von GB und AJK als nicht von der pakistanischen Exekutive unabhängig eingestuft. Das Justizsystem in beiden Territorien umfasst grundlegende Rechte und Garantien, darunter auf einen Strafverteidiger und Berufung. Unrechtmäßige Verhaftungen sind allerdings nicht ungewöhnlich, insbesondere in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen (FH 2022). Einige der höchsten richterlichen Positionen inAJK sind un- bzw. nur interimistisch besetzt, und auch in den unteren Rängen fehlen Richter, was einen Rückstau an Fällen verstärkt (HRCP 2021; vgl. HRCP 2022).
Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, insbesondere in Bezug auf den Status der Territorien sowie jede politische Aktivität, die als konträr zur pakistanischen Kaschmirpolitik angesehen wird, sind rechtlich eingeschränkt. Kleinere nationalistische Parteien, die gegen eine Einheit mit Pakistan auftreten, werden aktiv marginalisiert oder vom politischen Prozess ausgeschlossen.
Aktivisten, die in Opposition zur pakistanischen Oberhoheit über die Territorien stehen, sind Überwachung, Belästigung und manchmal Verhaftungen ausgesetzt. Die Interimsverfassung von AJK verbietet Parteien, die in Opposition zu einer eventuellen Eingliederung in Pakistan stehen. Ähnliche Regelungen gelten auch in GB (FH 2022).
Die Sicherheitsbehörden in beiden Territorien sind Bundeseinrichtungen. Die Geheimdienste sind in AJK und GB sehr präsent. Es gibt Berichte zu willkürlichen Verhaftungen, Folter und Todesfällen in Gewahrsam durch die Sicherheitskräfte, insbesondere gegen Unabhängigkeitsbefürworter und -aktivisten (FH 2022). Nach der Verabschiedung des Nationalen Aktionsplan 2015 haben sich viele lokale wie nationale NGOs aus AJK zurückgezogen. Derzeit gibt es keine unabhängigen Organe oder Foren, die Menschenrechtsverletzungen überwachen. Die Anti-Terrorismusgesetze werden missbraucht, um gegen Rechtsaktivisten in GB vorzugehen. Die Aktivitäten von Jugend- und Rechtsaktivisten, Journalisten und politischen Aktivisten werden überwacht und in den letzten fünf Jahren wurden auch einige hundert Aktivisten angezeigt (HRCP 2021; vgl. HRCP 2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.10.2022): Pakistan: Politisches Porträt, https://www.au swaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/pakistan-node/politisches-portraet/205010, Zugriff 7.2.2023 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 – Pakistani Kaschmir, https://www.ecoi .net/de/dokument/2068664.html, Zugriff 7.2.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_re moved.pdf, Zugriff 7.2.2023 Pakistan Politico (7.3.2023): Gilgit-Baltistan and the Geopolitics of the Third Pole, https://pakistan politico.com/gb/, Zugriff 30.3.2023 RSIL - The Research Society of International Law (24.10.2022): The Case of Gilgit Baltistan https://rsilpak.org/2022/the-case-of-gilgit-baltistan/, Zugriff 29.3.2023
Sicherheitsbehörden, inklusive KP Tribal Districts (ehemalige FATA)
Die Polizei ist für den größten Teil des Landes für die innere Sicherheit zuständig (USDOS 20.3.2023). Die polizeilichen Zuständigkeiten sind zwischen nationalen und regionalen Behörden aufgeteilt. Die Bundespolizei (Federal Investigation Agency / FIA) ist dem Innenministerium unterstellt. Ihre Zuständigkeit liegt im Bereich der Einwanderung, der Organisierten Kriminalität sowie der Terrorismusbekämpfung. Bei Letzterer sind auch die pakistanischen Nachrichtendienste ISI (Inter-Services Intelligence) und IB (Intelligence Bureau) aktiv. Die einzelnen Provinzen verfügen über ihre eigenen Strafverfolgungsbehörden. Gegenüber diesen Provinzbehörden ist die FIA nicht weisungsbefugt (AA 8.8.2022). Die lokale Polizei fällt somit in die Zuständigkeit der Provinzregierungen (USDOS 20.3.2023).
Außerdem sind einige paramilitärische Organisationen, die dem Innenministerium unterstehen, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zuständig. Dazu zählen das Frontier Corps für Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa (inklusive der ehemaligen Federally Administered Tribal Areas / FATA) und die Ranger im Punjab und Sindh. Die Hauptaufgabe des Frontier Corps ist die Sicherheit an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Seine Berichtspflicht besteht in Friedenszeiten gegenüber dem Innenministerium, in Kriegszeiten gegenüber der Armee (USDOS 20.3.2023).
Die militärischen und zivilen Geheimdienste unterstehen offiziell der Berichtspflicht gegenüber zivilen Behörden, doch operieren sie unabhängig und ohne effektive zivile Aufsicht. In Fällen unter dem Anti-Terrorismus Gesetz haben die Strafverfolgungsbehörden zusätzliche Befugnisse, wie Durchsuchungen und Beschlagnahmungen ohne Gerichtsbeschluss (USDOS 20.3.2023).
Die Effizienz der Polizei variiert je nach Provinz. Der Staat hat ein funktionierendes Strafjustizsystem aufgebaut, doch ist die Funktionsfähigkeit begrenzt, was im polizeilichen Bereich auf fehlende Ressourcen, schlechte Ausbildung sowie unzureichende und veraltete Ausrüstung zurückzuführen ist und zu mangelhaften Ermittlungen führen kann. Darüber hinaus wird die Effektivität der Polizei durch Einflussnahme durch Vorgesetzte, politische Akteure und Justiz beeinträchtigt (UKHO 9.2021). Der Polizei wird seit Langem ein vorurteilsbehafteter und willkürlicher Umgang bei der Aufnahme von Anzeigen vorgeworfen (FH 2022). Die Polizeikräfte sind oft in lokale Machtstrukturen eingebunden und dann nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So werden häufig Strafanzeigen gar nicht erst aufgenommen oder Ermittlungen verschleppt. Die Fähigkeiten und der Wille der Polizei im Bereich der Ermittlung und Beweiserhebung sind gering. Staatsanwaltschaft und Polizei gelingt es häufig nicht, belastende Beweise in gerichtsverwertbarer Form vorzulegen (AA 8.8.2022).
Auch die Annahme von Bestechungsgeldern, um wahre oder falsche Anzeigen aufzunehmen oder um Strafen zu vermeiden, ist laut Berichten weit verbreitet (UKHO 9.2021). Illegaler Polizeigewahrsam und Misshandlungen gehen oft Hand in Hand, um den Druck auf die festgehaltene Person bzw. deren Angehörige zu erhöhen, durch Zahlung von Bestechungsgeldern eine zügige Freilassung zu erreichen, oder um ein Geständnis zu erpressen. Zum geringen Ansehen der Polizei tragen die extrem hohe Korruptionsanfälligkeit ebenso bei, wie unrechtmäßige Übergriffe und Verhaftungen sowie Misshandlungen von in Polizeigewahrsam Genommenen (AA 8.8.2022).
Dabei stellt Straflosigkeit für Vergehen der Sicherheitskräfte ein erhebliches Problem dar. Es mangelt an effektiven Mechanismen, um Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. Die Regierung bietet begrenzt Schulungen an, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu erhöhen (USDOS 20.3.2023).
Zusätzlich binden religiöse Gewalt und Terrorismus die Ressourcen der Polizei zuungunsten allgemeiner polizeilicher Arbeit (UKHO 6.2020). Die Sicherheitskräfte stellen selbst ein Hauptziel von Anschlägen verschiedener Terrorgruppen dar (HRW 13.1.2022; vgl. PIPS 11.1.2023). So zielten von den 262 Anschlägen des Jahres 2022 69 Prozent auf staatliche Sicherheitskräfte bzw. Exekutivorgane (PIPS 11.1.2023). Auch der tödlichste Anschlag seit Langem richtete sich gegen die Polizei. 84 Personen starben bei einem Selbstmordanschlag im Jänner 2023 in Peschawar, Khyber Pakhtunkhwa (TET 7.2.2023). Ziel desAnschlags, für den die pakistanischen Taliban zwischenzeitlich die Verantwortung übernommen hatten, war eine Moschee in einem Hochsicherheitsgelände der Polizei, beinahe alle Opfer waren Polizisten (Al Jazeera 2.2.2023; vgl. Dawn 31.1.2023).
AufbauprozessderPolizeiindenKhyberPakhtunkhwaTribalDistricts-ehemaligeFederal Administered Tribal Areas (FATA)
Im Gebiet der ehemaligen FATA findet ein fortlaufender Übergang zu einer zivilen Rechtsdurchsetzung bzw. Exekutive statt (USDOS 12.4.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Bisher ist das Militär dort das führend für Sicherheitsaufgaben zuständige staatliche Organ gewesen (USDOS 30.3.2021). In einigen Gebieten der Tribal Districts ist es das auch weiterhin (USDOS 20.3.2023). Im Zuge der Eingliederung der ehemaligen FATA in das staatliche Rechtssystem wurden auch die lokalen Sicherheitskräfte - die circa 30.000 Mann starken Levies- und Khasadar-Einheiten in die Polizei von Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert (TET 15.9.2021). Dies stellt eine Herausforderung dar. Den Einheiten fehlte es an den Grundlagen der polizeilichen Arbeit gemäß dem staatlichen Rechtssystem, angefangen vom Ausfüllen der First Information Reports [Anmerkung Anzeigen] bis zur Durchführung von Ermittlungen (USIP 6.5.2021). Insgesamt 25.981 Levies und Khasadars wurden schließlich in die Polizei integriert und begannen mit der Ausbildung (UNDP 5.7.2022). Auch das Militär ist in die Ausbildung involviert und führte unter anderem Schulungen in Waffengebrauch, Such- und Anti-Terrorismus-Operationen sowie Methoden zum Aufspüren von Minen und Sprengsätzen durch (ISPR 11.2.2022). 2022 war die Grundausbildung von 25.000 Personen abgeschlossen und es begannen - in Partnerschaft mit dem UN Development Programme - spezialisierte Ausbildungen in Kernaufgaben der Polizei für 2.000 Personen im Polizeitrainingszentrum im Khyber District, das mit Unterstützung der EU betrieben wird (UNDP 5.12.2022).
Im Juli 2022 wurden die ersten Polizeieinsatzpläne für die Stammesdistrikte ausgegeben - als Fahrplan für den Übergang von der Präsenz lokaler Sicherheitskräfte zum staatlichen Polizeiund Justizsystem. Dabei sollen auch Partnerschaften mit der lokalen Bevölkerung und anderen Behörden aufgebaut werden (EJ 22.7.2022; vgl. Dawn 23.7.2022). Der Prozess der Einrichtung von Polizeistationen und der Ausbildung der Strafverfolgungsbehörden ist zwar im Gange, geht aber lokalen Berichten zufolge nur sehr langsam voran (PIPS 11.1.2023). Er trifft auch auf grundlegende infrastrukturelle Probleme, wie einen Mangel an Polizisten und Unterkünften. Mit einer Anpassung des Rekrutierungsprozesses sollen Vakanzen gefüllt und auch Bewohner der Stammesgebiete für die Polizei angeworben werden. Außerdem wurde für die Gebiete der „Hard area status“ für Zuschüsse bewilligt (TET 3.11.2022).
Laut Polizeiführung konzentriert man sich in den Stammesgebieten auf die Ausbildung, Ausrüstung und das Kommunikationssystem für die Polizei und hat ein Programm zur beschleunigten Umsetzung eingesetzt. Eine Beschleunigung ist noch nicht gelungen, was zu Protesten und zur Forderung der Rücknahme der Zusammenlegung von Seiten lokaler Gruppen führt - eine Forderung, die auch von den Taliban aufgegriffen wurde. Auch nahmen die Angriffe von Terrorgruppen auf die Polizei in den Stammesdistrikten zu (PIPS 11.1.2023).
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Folter und unmenschliche Behandlung
Folter
Folter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und in den Gefängnissen gilt als weit verbreitet (AA 8.8.2022; vgl. OMCT 3.2021, HRW 28.8.2022). Es kommt sehr selten zu einer Strafverfolgung von Tätern (AA 8.8.2022). Die Regierung unternimmt wenig, um Strafverfolgungsbehörden für Folter zur Verantwortung zu ziehen (HRW 12.1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022). Folter wird als unvermeidlicher Teil der Strafverfolgung in Pakistan akzeptiert. Die Straflosigkeit kann auf eine Kombination aus soziokultureller Akzeptanz, fehlenden unabhängigen Aufsichts- und Ermittlungsmechanismen, weitreichenden Befugnissen zur Festnahme und Inhaftierung, Verfahrenslücken und unwirksamen Schutzmaßnahmen zurückgeführt werden (OMCT 3.2021; vgl. Dawn 7.8.2022).
Folter ist gemäß pakistanischer Verfassung zwar grundsätzlich verboten und wird seitens der Regierung offiziell verurteilt (AA 8.8.2022). Allerdings enthielt das Strafgesetzbuch keinen speziellen Abschnitt gegen Folter (USDOS 12.4.2022). Im November 2022 trat jedoch nach Unterzeichnung der Torture and Custodial Death (Prevention and Punishment) Bill 2022 durch den Präsidenten erstmals ein Verbot von Folter in Kraft. Im August war die Gesetzesvorlage bereits von der Nationalversammlung angenommen worden. Sie kriminalisiert Folter, Vergewaltigung und Todesfälle in Haft (Dawn 2.11.2022; vgl. SenPK 1.11.2022). Das Gesetz ermächtigt die FIA Untersuchungen unter Aufsicht der staatlichen National Human Rights Commission durchzuführen (SenPK 4.11.2022).
Die Polizeiverordnung 2002 sieht bereits Strafen gegen jeden Polizeibeamten vor, der einer Person in seinem Gewahrsam „Gewalt oder Folter“ zufügt. Die Vorschrift enthält keine Definition von Folter und erstreckt sich nicht auf andere Beamte. Vom System der unabhängigen Überwachung der Arbeit der Polizei, das in der Verordnung vorgesehen ist, wurden nur einige Beschwerdekommissionen eingerichtet. Die Zuständigkeit für die Entgegennahme einerAnklage (First Information Report - FIR) aufgrund von Folter unter dieser Verordnung und deren Untersuchung liegt allerdings - in Ermangelung funktionierender Überwachungsstellen - bei der Polizei selbst (OMCT 3.2021).
Die Regierung bietet begrenzt Schulungen an, um die Achtung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu erhöhen (USDOS 12.4.2022).
Haft ohne Anklage, nachgewiesene Fälle von staatlichem Verschwindenlassen
Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung begehen Armee und Sicherheitskräfte v.a. in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa regelmäßig Menschenrechtsverletzungen.
Enforced Disappearances - das Verschwindenlassen von unliebsamen, v.a. armeekritischen Personen - zählen dabei zu den eklatantesten Menschenrechtsverletzungen in Pakistan - auch weil der Staat (v.a. Militär / Nachrichtendienste, insb. ISI) oftmals als Täter auftritt und seiner Schutzverantwortung nicht gerecht wird (AA 8.8.2022). Die meisten Opfer waren aus Khyber Pakhtunkhwa, der ehemaligen FATA oder Belutschistan und wurden für gewöhnlich durch die Sicherheitskräfte oder Geheimdienste incommunicado in Haft gehalten - unter dem Vorwurf des Terrorismus, staatsfeindlicher Aktivitäten, Rebellion oder Spionage (FH 24.2.2022). Bei Verdacht auf Terrorismus ist es den Sicherheitskräften rechtlich möglich, Personen ein Jahr ohne Anklage in Haft zu nehmen. Darüber hinaus verfügt das Militär in Khyber Pakhtunkhwa per Verordnung über die Befugnis, Zivilisten ohne Anklage und Benachrichtigung der Angehörigen festzuhalten (USDOS 12.4.2022).
Für das Jahr 2021 stieg die Zahl der bei der staatlichen Kommission zur Untersuchung von Verschwindenlassen neu angezeigten Fälle auf 1.460 - derdreifache Wert des Vorjahres. Davon betrafen allein 1.095 Fälle Belutschistan. Die Kommission berichtete, dass sie mit Stand 31.12.2021 seit ihrer Errichtung 2011 6.117 aller ihr vorgetragenen Fälle lösen konnte und 2.264 weiterhin anhängig sind. Bei den gelösten Fällen wurden 1.517 Personen in verschiedenen Formen der Haft aufgefunden, 3.257 waren zurückgekehrt und 228 Personen tot aufgespürt worden (HRCP 2022). Menschenrechtsaktivisten hingegen zweifeln an den offiziellen Zahlen. Eine belutschische Partei sprach von insgesamt 5.128 erzwungen verschwundenen Personen bis zum Jahr 2018 für Belutschistan (HRCP 2021). Auch pakistanische Medien gehen davon aus, dass viele Fälle nicht gemeldet werden und die tatsächlichen Zahlen höher sind (TNI 6.8.2022).
Die Internationale Juristenkommission (ICJ) kritisierte die Untersuchungskommission und wirft ihr vor, dass ihr Zugang Straflosigkeit fördert. Die Untersuchungskommission drängt demnach nicht auf ein disziplinäres Vorgehen gegenüber den Behörden, denen Verschwindenlassen nachgewiesen wurde (FH 2022). Staatlicherseits wurden Täter bislang in keinem einzigen Fall angeklagt. Eine Strafverfolgung findet nach wie vor nicht statt. Die bereits im Mai 2021 ins parlamentarische Verfahren eingebrachte Enforced Disappearances Bill, die Verschwindenlassen erstmalig strafrechtlich sanktionieren soll, wird weiterhin verschleppt (AA 8.8.2022). Im November 2021 wurde er durch die Nationalversammlung angenommen, im Juni 2022 wurde er durch Medien als „verschwunden“ bezeichnet (TNI 6.8.2022; vgl. Dawn 29.6.2022). Im Oktober wurde der Gesetzesentwurf nach Änderungen erneut durch die Nationalversammlung angenommen und dem Senat weitergeleitet (Dawn 22.10.2022). Der Gesetzesentwurf sieht einen Abschnitt im Strafgesetz mit einer Definition des Verschwindenlassens, das der internationalen Übereinkunft entspricht, und Haftstrafen bis zu 10 Jahren vor (TNI 6.8.2022).
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Korruption
Krruption ist in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, der Justiz und bei den Sicherheitsorganen weit verbreitet (AA 8.8.2022). Verschiedene Politiker und Inhaber öffentlicher Ämter sind mit Vorwürfen unterschiedlichster Korruptionsvergehen konfrontiert. Die unteren Instanzen des Justizsystems sind Berichten zufolge korrupt und dem Druck von höherrangigen Richtern sowie einflussreichen Persönlichkeiten ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Die Polizei ist anfällig für Korruption und Bestechung. Die Annahme von Bestechungsgeldern, um wahre oder falsche Anzeigen aufzunehmen oder um Strafen zu vermeiden, ist weit verbreitet (UKHO 9.2021).
Pakistan nimmt auf dem Corruption Perceptions Index von Transparency International für das Jahr 2022 Platz 140 von 180 Ländern ein, in der Bewertungsskala verlor es einen Punkt (TI 31.1.2023a). Der Rang ist allerdings derselbe wie im Jahr 2021 (TI 25.1.2022).
Es gibt relativ progressive Gesetze zu öffentlichen Finanzen und Vergabeprozessen und eine eigene Behörde zur Regulierung von öffentlichen Aufträgen, die viele standardmäßige Maßnahmen zur Transparenz einsetzt. Internationale Einrichtungen hinterfragen jedoch den öffentlichen Vergabeprozess. Mitglieder des Parlaments und ausgewählte Amtsträger müssen ihre Einkommen deklarieren. Es sind zahlreiche formale Schutzmaßnahmen in Kraft, doch die Anwendung der Mechanismen zur Rechenschaft ist selektiv und politisch motiviert. Militär und Justiz haben ihre eigenen Systeme zur Bekämpfung von Korruption, doch das Militär agiert weitgehend undurchsichtig in seinen Belangen (FH 2022).
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption von Amtsträgern vor, die Regierung setzt das Gesetz im Allgemeinen aber nicht effektiv um. Das National Accountability Bureau (NAB) dient als höchste Antikorruptionsbehörde mit dem Auftrag, Korruption durch Sensibilisierung, Prävention und Rechtsdurchsetzung zu beseitigen. Das NAB und andere Ermittlungsbehörden, wie das Federal Board of Revenue, die Nationalbank von Pakistan oder die Federal Investigation Agency führen Untersuchungen zu Korruption, Steuerhinterziehung und Geldwäsche durch, und auch die Wahlkommission besitzt richterliche Zuständigkeit in Bezug auf Parteienfinanzierung und Steuerabgaben der Abgeordneten. Es herrscht allerdings ein Mangel an Rechenschaftspflicht der Regierung, und Korruption bleibt oft ungestraft. Nur selten kommt es zu Ermittlungen gegen Staatsbedienstete (USDOS 20.3.2023). Nach Angaben des NAB hatte es mit Stand September 2020 3.371 Verfahren eröffnet, 1.124 Schuldsprüche erwirkt und 1.257 Verfahren offen (FH 3.3.2021).
2017 wurde der damalige Premierminister Nawaz Sharif vom Supreme Court des Amtes enthoben, nachdem die „Panama Papers“, eine internationale Ermittlung von Journalisten in 200 Ländern, die Verstrickung seiner Familie in das aufgedeckte System an Steuerhinterziehung und Geldwäsche öffentlich machten. Ein Jahr später wurde er aufgrund von Korruption verurteilt (ICIJ 3.4.2021). Statt im Allgemeinen die rechtlichen Weichen für eine Rechenschaftspflicht zu stellen, beschränkte sich das Vorgehen der nachfolgenden Regierung und die Arbeit des NAB allerdings noch stärker als zuvor großteils auf die Opposition (Diplomat 9.10.2021). Der Supreme Court, die Anwaltskammer des Supreme Courts und der pakistanische Anwaltsrat verurteilten in verschiedenen Fällen das Vorgehen des NAB gegen Oppositionspolitiker (HRW 13.1.2021).
Im Oktober 2021 wurden die „Pandora Papers“, neuerliche internationale journalistische Ermittlungen, veröffentlicht. Sie deckten ihrerseits nun die Verwicklung mehrerer Minister und Geldgeber der Regierung unter Imran Kahn sowie von Militärgenerälen und deren Familien in mutmaßliche Steuerhinziehung und Geldwäsche auf (ICIJ 3.10.2021). Nach dem Regierungswechsel werden allerdings weiterhin verstärkt Korruptionsfälle gegen Mitglieder der nunmehrigen Opposition geführt, seltener gegen Mitglieder der Regierungskoalition. Es wird dabei sichtbar, dass das NAB manchmal Fälle nach Regierungswechseln fallen lässt. Einige bereits laufende Verfahren gegen derzeitige Regierungsmitglieder, z.B. den Premierminister, wurden jedoch weiter geführt (USDOS 20.3.2023).
In der Vergangenheit gab es außerdem Vorwürfe, wonach Journalisten, die über Korruption berichteten, Online-Diskreditierungskampagnen ausgesetzt waren, sodass politische Parteien oder Staatsinstitutionen im Hintergrund vermutet werden (USDOS 30.3.2021). Im Jahr 2020 wurden auch Vergehen nach den neu eingeführten Cybercrime-Gesetzen gegen Journalisten und Aktivisten registriert, die Korruption öffentlich gemacht hatten (HRCP 2021).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 Diplomat - The Diplomat (9.10.2021): Pandora Papers Unravel Imran Khan’s ‘Anti-Corruption’ Narrative, https://thediplomat.com/2021/10/pandora-papers-unravel-imran-khans-anti-corruption-nar rative/, Zugriff 6.12.2022 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://freedomhouse.org/c ountry/pakistan/freedom-world/2022 , Zugriff 22.1.2023 FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/ document/2052851.html, Zugriff 26.1.2023 HRCP - Human Rights Commission Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http://hrcp-w eb.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_removed. pdf, Zugriff 6.12.2022 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2043507.html, Zugriff 2.2.2023 ICIJ - International Consortium of Investigative Journalists (3.10.2021): Prime Minister Imran Khan promised ‘new Pakistan’ but members of his inner circle secretly moved millions offshore, https://www.icij.org/investigations/pandora-papers/pakistan-imran-khan-prime-minister-allies-offshore/, Zugriff 7.2.2023 ICIJ - International Consortium of Investigative Journalists (3.4.2021): Five years later, Panama Papers still having a big impact, https://www.icij.org/investigations/panama-papers/five-years-lat er-panama-papers-still-having-a-big-impact/, Zugriff 7.2.2023 TI - Transparency International (31.1.2023a): Corruption Perceptions Index 2022, https://www.tran sparency.org/en/cpi/2022/index/pak, Zugriff 2.2.2023 TI - Transparency International (25.1.2022): Corruption Perceptions Index 2021, https://www.tran sparency.org/en/cpi/2021/index/pak, Zugriff 21.1.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (9.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Ahmadis, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachm ent_data/file/790304/CPIN-Pakistan-Ahmadis-v4.0_Mar_19.pdf, Zugriff 10.12.2022 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023 USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048102.html, Zugriff 19.1.2022
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Zivilgesellschaftliche Menschenrechtsorganisationen können sich in Pakistan betätigen. Die angesehene NGO Human Rights Commission of Pakistan (HRCP) befasst sich z.B. mit der Aufklärung und Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen aller Art. In allen Landesteilen gibt es Provinzbüros und freiwillige Helfer, die Menschenrechtsverletzungen aufnehmen, Fakten sammeln und Fälle der Justiz zuführen. Eine Vielzahl weiterer Organisationen und Einzelpersonen beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten des Schutzes der Menschenrechte (AA 8.8.2022). Lautstarke zivilgesellschaftliche Organisationen nehmen Anteil an politischen Debatten. Debatten über Maßnahmen, welche die nationale Sicherheit berühren, werden jedoch schnell unterbunden (FH 2022).
Während einige Menschenrechtsorganisationen ohne nennenswerte Restriktionen agieren, recherchieren und publizieren können, schränkt die Regierung im Allgemeinen zunehmend die Arbeitsmöglichkeiten von NGOs ein. Insbesondere betrifft dies jene, deren Arbeit Verfehlungen der Regierung, des Militärs oder der Geheimdienste aufdeckt oder die zu Themen im Zusammenhang mit Konfliktgebieten arbeiten. Diese Gruppen sehen sich mit zahlreichen Vorschriften in Bezug auf Reisen, Visa und Registrierung konfrontiert, die ihre Bemühungen um Programme und die Beschaffung von Mitteln behindern (USDOS 12.4.2022; vgl. AA 8.8.2022). Institutionen und Menschen, die Kritik am Militär und an dessen Geheimdienst üben, müssen somit mit Sanktionen rechnen (AA 8.8.2022; vgl. USDOS 12.4.2022).
NGOs unterliegen exzessiven Registrierungsanforderungen (FH 2022). Die Vorgaben der Regierung unterminieren die Freiheit der NGOs und erschweren es ihnen, ihrer Arbeit nachzugehen und Zugang zu ihren Zielgruppen zu erhalten (USDOS 12.4.2022).
Die Geheimdienste überwachen und kontrollieren Menschenrechtsorganisationen (AA 8.8.2022; vgl. FH 2022, HRW 12.1.2023). Verschiedene Menschenrechtsorganisationen berichten von Belästigungen und Einschüchterung durch Behörden (HRW 12.1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022). Bedrohungen und Einschränkungen erfolgen, wenn ihre Arbeit die staatlichen Sicherheitsorgane berührt (AA 8.8.2022).
Viele Organisationen scheinen aber einen Modus Operandi gefunden zu haben, der ihnen – teils durch Agieren in rechtlichen Grauzonen, die bis zu einem gewissen Maß von den Behörden toleriert werden – eine Umsetzung ihres Mandats grosso modo ermöglicht. Teilweise berichten Organisationen über faktische Erleichterung durch Digitalisierung des NGO-Registrierungsprozesses (AA 8.8.2022).
Menschenrechtsorganisationen berichten, dass einige Behörden paschtunische, Sindhi und belutschische Menschenrechtsaktivisten sowie Nationalisten Verschwindenlassen oder ohne Grund oder Haftbefehl verhaften [zu Verschwindenlassen siehe auch Kapitel Folter] (USDOS 12.4.2022). Im Jahr 2020 konnte zum Beispiel die Spur einiger prominenter politischer Aktivisten, die im Sindh Opfer von Verschwindenlassen wurden, durch breite öffentliche Kampagnen in Gefängnissen ausfindig gemacht werden. Bei einigen von diesen konnte eine Freilassung erwirkt werden (HRCP 2021). Für das Jahr 2021 zählt HRCP Fälle aus verschiedenen Provinzen auf, in denen Aktivisten Opfer von Verschwindenlassen durch die Behörden oder Verhaftungen wurden. In einigen Fällen erfolgte eine Freilassung (vgl. HRCP 2022).
In den Stammesgebieten (ehemals FATA, jetzt als Tribal Districts Teil der Provinz KhyberPakhtunkhwa) und in Belutschistan ist sowohl für Menschenrechts- als auch für Hilfsorganisationen die Arbeit nur sehr eingeschränkt möglich (AA 8.8.2022). Zu bestimmten Gebieten der ehemaligen FATA und Belutschistans erhalten nur wenige NGOs Zugang (USDOS 12.4.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/docu ment/2071945.html, Zugriff 19.8.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 19.1.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_re moved.pdf, Zugriff 26.1.2023 HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Pakistan, https://www.hrw.org/worl d-report/2023/country-chapters/pakistan, Zugriff 13.1.2023 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 1.9.2022
Ombudsperson
Der föderale Ombudsmann Pakistans (Wafaqi Mohtasib) ist für unabhängige Ermittlungen zu Beschwerden über Fehlleistungen der Bundesverwaltung [„maladministration“] zuständig. Die Einschaltung des Ombudsmannes ist kostenlos und steht jedem offen. Sein Mandat erstreckt sich jedoch nicht auf Beschwerden, die laufende Gerichtsverfahren, Landesverteidigungs- oder internationale Angelegenheiten betreffen. Zusätzlich gibt es jeweils unabhängige Ombudsmänner (Mohtasibs) für Angelegenheiten in Bezug auf Steuern, private Versicherungen und private Banken sowie gegen Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz (FOP o.D.). In das Mandat der eigenständigen Föderalen Ombudsperson gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz fallen zusätzlich seit 2020 auch Beschwerden in Bezug auf die Verletzung der Erbschaftsrechte von Frauen (FOSPAH o.D.). Ombudspersonen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sind für jede Provinz gesetzlich vorgeschrieben und alle Provinzen sowie Gilgit Baltistan haben eine solche Institution eingerichtet. Außerdem gibt es einen Ombudsmann für Gefängnisinsassen mit einem zentralen Büro in Islamabad sowie mit Büros in jeder Provinz (USDOS 12.4.2022).
Weiters verfügt jede Provinz über einen unabhängigen Ombudsmann (Mohtasib), der für Beschwerden in Bezug auf Fehlverhalten der Provinzregierungen zuständig ist (FOP o.D.; vgl. OM KP o.D., OM SD o.D., OM PJ o.D., IOI o.D.).
Quellen: FOP - Federal Ombudsman of Pakistan [Pakistan] (o.D.): What we do, https://www.mohtasib.gov.p k/Detail/MDk4ZmQ0ZjItMmZkNy00MzM4LWE5MTEtOTdhYzE0NGRmNDYw, Zugriff 23.12.2021 FOSPAH - Federal Omudsman Secretariat for Protection Against Harrasment [Pakistan] (o.D.): What is FOSPAH, https://www.fospah.gov.pk/Detail/OTJmZTM5ZWItOWM4NS00MDliLTkzNjYtZ GZkMGRiOGFkN2Iy, Zugriff 1.12.2021 IOI - International Ombudsman Institute (o.D.): IOI Members, https://www.theioi.org/ioi-members #anchor-index-1690, Zugriff 1.12.2022 OM KP - Provincial Ombudsman Khyber Pakhtunkhwa [Pakistan] (o.D.): Welcome to Ombudsman Office Peshawar, Khyber Pakhtunkhwa, https://www.ombudsmankp.gov.pk/, Zugriff 1.12.2022 OM SD - Provincial Ombudsman (Mohtasib) Sindh [Pakistan] (o.D.): Message from the Mohtasibe-Aala Sindh (Ombudsman Sindh), http://www.mohtasibsindh.gov.pk/, Zugriff 1.12.2022 OM PJ - Provincial Ombudsman (Mohtasib) Punjab [Pakistan] (o.D.): About us - Introduction, https://ombudsmanpunjab.gov.pk/introduction, Zugriff 1.12.2022. USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 3.11.2022
Wehrdienst und Rekrutierungen
Die pakistanische Armee ist eine Freiwilligenarmee (AA 8.8.2022). Die pakistanischen Streitkräfte bestehen aus der Armee (inklusive Nationalgarde), der Marine und der Luftwaffe (Pakistan Fizaia). Frauen dienen in allen drei Teilstreitkräften. Das Alter für den freiwilligen Militärdienst beträgt, abhängig von der Art des Dienstes, 16 bzw. 17 bis 23 Jahre. Soldaten unter 18 Jahre können nicht im Kampf eingesetzt werden. Armeeangehörige bleiben bis zum Alter von 45 Jahren Reservisten, Offiziere bis 50 Jahre (CIA 22.8.2022). Angehörige religiöser Minderheiten sind in der Armee deutlich unterrepräsentiert, ihre Karrierechancen sind geringer, außerdem fürchten sie Diskriminierung (AA 8.8.2022).
Aufgrund des Status als Freiwilligenarmee in Verbindung mit dem herrschenden Ehrenkodex sind Fälle von Fahnenflucht extrem selten. Im Militärstrafrecht ist in folgenden Fällen die Todesstrafe vorgesehen: Feigheit vor dem Feind, Weitergabe einer Parole an unbefugte Personen, Meuterei oder Gehorsamsverweigerung, Fahnenflucht oder Hilfe zur Fahnenflucht. Das Militär verfügt über eine eigene Gerichtsbarkeit, die in den drei Teilstreitkräften unterschiedlich gehandhabt wird. Urteile der militärischen Gerichtsbarkeit gegen Militärangehörige sind nicht vor zivilen Gerichten anfechtbar. Gefängnisstrafen sind in Militärgefängnissen zu verbüßen (AA 8.8.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 CIA - Central Intelligence Agency [USA] (22.8.2022): The World Factbook - Pakistan, https://www. cia.gov/the-world-factbook/countries/pakistan/#military-and-security, Zugriff 1.9.2022
Allgemeine Menschenrechtslage
Die Menschenrechtslage in Pakistan bleibt schwierig und hat sich im Berichtszeitraum, in den auch ein Regierungswechsel fällt, insgesamt nicht verbessert. Zwar garantieren die pakistanische Verfassung und eine Reihe von Gesetzen fundamentale Bürgerrechte, Menschenrechte und politische Rechte, meist mangelt es jedoch an der Implementierung (AA 8.8.2022).
Der Raum für Zivilgesellschaft und öffentlich-kritische Debatte ist weiter eingeschränkt. Militär und Geheimdienste begrenzen den Aktionsradius von Zivilgesellschaft und Medien. Die öffentliche Thematisierung politisch und religiös sensibler Fragen wird ebenfalls eingeschränkt. Das Militär zwingt Journalisten mit Druck erfolgreich zu Selbstzensur (AA8.8.2022). Behörden setzen Schikanierungen und gelegentlich auch Verhaftungen gegen Journalisten und andere Vertreter der Zivilgesellschaft ein, die Kritik an Regierung oder deren Maßnahmen üben. Das vage und breit auslegbare Gesetz gegen Volksverhetzung wird oft auch eingesetzt, um politische Widersacher oder Journalisten zu unterdrücken. Es gibt gewalttätige Übergriffe gegen Mitarbeiter von Medien (HRW 12.1.2023).
Politische Parteien können weitgehend frei arbeiten, jedoch üben Militär und Geheimdienste Druck auf unliebsame Parteien aus, in der Regel auf die Opposition. Institutionen und Menschen, die Kritik am Militär und am Nachrichtendienst ISI üben, müssen mit Sanktionen rechnen. Zudem nehmen Militär und Nachrichtendienste immer wieder Einfluss auf die mediale Berichterstattung (AA 8.8.2022). So gingen die Strafverfolgungsbehörden 2021 weiterhin hart gegen Demonstrationen der Bewegung zum Schutz der Paschtunen (Pashtun Tahaffuz Movement, PTM) vor, die sich gegen die Diskriminierung und außergerichtliche Hinrichtung von Paschtunen sowie gegen die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien (Racial Profiling) einsetzt (AI 29.3.2022). Es kommt außerdem immer wieder zu Verhaftungen ihrer Führer und exponierter Personen. Allerdings hat das Interesse an der Organisation stark nachgelassen. Gegenüber vormaligen Regierungsmitgliedern (auch dem vormaligen Premierminister) gab es seitens der jetzigen Regierung Drohungen hinsichtlich möglicher Strafanzeigen, u.a. wegen Hochverrats. Die Opposition bzw. in Ungnade gefallene Politiker bleiben damit von politisch motivierten Korruptionsermittlungen bedroht [siehe Unterkapitel Politisch motivierte Korruptionsermittlungen im Kapitel Korruption] (AA 8.8.2022).
Die pakistanischen Strafverfolgungsbehörden werden für Menschenrechtsverletzungen wie Haft ohne Anklage und außergerichtliche Tötungen verantwortlich gemacht (HRW 12.1.2023; vgl. EASO 10.2021). Extralegale Tötungen kommen vor allem in Form von polizeilichen Auseinandersetzungen vor, d.h. bei Zusammenstößen zwischen mutmaßlichen Straftätern, Militanten oder Terroristen und der Polizei oder paramilitärischen Sicherheitskräften. Als Begründung führt die Polizei regelmäßig an, dass die Opfer versuchten, aus dem Polizeigewahrsam zu flüchten, oder bei ihrer Verhaftung von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hätten. 2021 kamen laut der Menschenrechtsorganisation HRCP landesweit 294 Menschen bei „police encounters“ ums Leben. In der Regel werden diese Fälle nicht gerichtlich untersucht (AA 8.8.2022; vgl. HRCP 2022, S.31). Die Polizei geht außerdem mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vor (AI 29.3.2022).
Folter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und in Gefängnissen ist - trotz des Folterverbots in der Verfassung - weit verbreitet. Die Todesstrafe wird vollstreckt. Seit Dezember 2019 fand jedoch keine Hinrichtung statt. In vielen Fällen beruhen die Todesurteile auf rechtsstaatlich zweifelhaften Verfahren. Willkürliche Festnahmen kommen insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Korruption innerhalb der Polizei vor. Selbst bei offensichtlich unbegründeten Beschuldigungen kann eine lange Inhaftierung erfolgen, ohne dass es dabei zu einer Haftprüfung kommt. Als Beispiel hierfür dienen die Blasphemie-Fälle. Die Sicherheitsdienste greifen in Fällen mit terroristischem Hintergrund oder in Fällen von Landesverrat auch auf willkürlichen und rechtswidrigen Gewahrsam zurück (AA 8.8.2022).
Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung begehen Armee und Sicherheitskräfte vor allem in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa regelmäßig menschenrechtsrelevante Verbrechen. Sogenannte „Enforced Disappearances“ - das Verschwindenlassen von unliebsamen, v.a. armeekritischen Personen - zählen in diesem Zusammenhang zu den eklatantesten Menschenrechtsverletzungen in Pakistan - auch weil der Staat (v.a. Militär/ Nachrichtendienste) oftmals als Täter auftritt und seiner Schutzverantwortung nicht gerecht wird (AA 8.8.2022, vgl. HRCP 2022). Die Regierung unternahm zwar Schritte, um das Verschwindenlassen strafbar zu machen, doch war Straflosigkeit für dieses Verbrechen weiterhin die Regel [siehe auch Kapitel Folter] (AI 29.3.2022).
Die Regierung unternimmt nur wenig, um Strafverfolgungsbehörden bei Folter und anderen schwerwiegenden Übergriffen zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 12.1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022).
Gewalt und Missbrauch sowie soziale und religiöse Intoleranz durch militante Organisationen und andere nicht-staatliche Akteure tragen ebenfalls zu Problemen im Menschenrechtsbereich bei (USDOS 12.4.2022). Viele Menschenleben fallen den Anschlägen von islamistischen Militanten zum Opfer. Frauen, religiöse Minderheiten und Transgender waren mit Gewalt, Diskriminierung und Verfolgung konfrontiert, wobei die Behörden es oft verabsäumen, angemessenen Schutz zu bieten (HRW 12.1.2023). Übergriffe bleiben oft ungestraft, was eine Kultur der Straflosigkeit unter den Tätern - ob staatliche oder nicht-staatliche - fördert (USDOS 12.4.2022).
Staatliche Institutionen zum Schutz von Menschenrechten existieren auf Bundes- und Provinzebene. Diese bleiben jedoch schwach, da sie ohne angemessene Ressourcenausstattung operieren und zudem kein Schutz vor staatlicher Einflussnahme gegeben ist. Seit 2015 hat Pakistan eine nicht bei der GANHRI (Vereinigung nationaler Menschenrechtsinstitutionen) akkreditierte National Commission for Human Rights. Sie hat als eine dem pakistanischen Innenministerium zugeordnete Institution nur begrenzte Kapazitäten und verfügt über kein eigenes Budget. Auch die National Commission on the Status of Women, die Frauenrechte in Pakistan stärken soll, sowie die National Commission on the Rights of the Child bleiben in ihren Arbeitsmöglichkeiten stark beschränkt (AA 8.8.2022). Ein eigenständiges Ministerium für Menschenrechte wurde im Jahr 2015 wieder eingerichtet. Die ständigen Ausschüsse des Senats und der Nationalversammlung für Recht, Justiz, Minderheiten und Menschenrechte führen Anhörungen zu einer Reihe von Menschenrechtsproblemen durch (USDOS 12.4.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Pakistan 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2070227.html , Zugriff 2.9.2022 EASO - European Asylum Support Office (10.2021): Pakistan Security Situation, https://coi.euaa.e uropa.eu/administration/easo/PLib/2021_10_EASO_COI_Report_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 11.12.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Pakistan,https://www.ecoi.net/de/ dokument/2085484.html , Zugriff 19.1.2023 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 14.8.2022
Meinungs- und Pressefreiheit
Pressefreiheit
Pakistan hat einen lebhaften Mediensektor hervorgebracht, der eine weite Bandbreite an Nachrichten und Meinungen widerspiegelt (FH 2022). Die Medienlandschaft ist dementsprechend stark diversifiziert, mit über 100 Fernseh- und 200 Radiostationen sowie einer Vielzahl an Tageszeitungen und Zeitschriften in Englisch, Urdu und verschiedenen Regionalsprachen. Auch Online-Medien nehmen stark zu. Die englischsprachige pakistanische Presse, die in erster Linie von der urbanen Elite konsumiert wird, hat eine lange Tradition der Unabhängigkeit (RSF 2022). Allerdings haben sowohl zivile Behörden als auch das Militär in den letzten Jahren die Freiheit der Medien beschnitten (FH 2022). DiePressefreiheit war im Jahr 2021 stärker mit Druck und Drohungen konfrontiert als die Jahre zuvor (HRCP 2022).
Die Verfassung garantiert die Pressefreiheit. Letztere kann jedoch zum Schutz der Integrität, Sicherheit oder Verteidigung Pakistans oder zum Schutz des Islam eingeschränkt werden (AA 8.8.2022). Neben diesen verfassungsmäßigen Einschränkungen führen Drohungen, Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötungen dazu, dass Journalisten und Redakteure Selbstzensur üben (USDOS 12.4.2022; vgl. AA 8.8.2022, RSF 2022, HRW 12.1.2023).
Zwar leisten Zivilgesellschaft und teils Justiz partiell Widerstand, doch gibt es zahlreiche Berichte über eine Vielzahl von Einzelinterventionen im Medienbereich und gegen einzelne unliebsame Journalisten - seitens Regierungsagenturen, etwa der Medienregulierungsbehörde PEMRA, des Militärs oder nominell unabhängigen Institutionen, wie der Anti-Korruptionsbehörde (AA 8.8.2022).
Da das Militär seine Vereinnahmung der zivilen Institutionen verstärkt hat, ist eine Berichterstattung über die Einflussnahme des Militärs für Journalisten unmöglich (RSF 2022). 2021 gingen die Sicherheitskräfte verstärkt gegen Journalisten vor (AI 29.3.2022). Medien werden von Behörden unter Druck gesetzt, Regierungsinstitutionen oder die Justiz nicht zu kritisieren. Im Jahr 2022 blockierten staatliche Aufsichtsbehörden in mehreren Fällen Kabelbetreiber und Fernsehsender, die kritische Programme ausgestrahlt hatten (HRW 12.1.2023).
Unter dem Vorwand des Schutzes des Journalismus werden immer wieder auch Gesetze dazu verwendet, um Kritik an der Regierung oder dem Heer zu zensieren (RSF 2022). Die vagen und breit auslegbaren Gesetze gegen Volksverhetzung werden ebenso gegen Journalisten eingesetzt (HRW 12.1.2023). Für das Jahr 2021 gibt es wie zuvor Berichte zu Verschwindenlassen sowie zu kurzzeitigen Verhaftungen von Journalisten (HRCP 2022; vgl. USDOS 12.4.2022, FH 2022).
Angriffe auf Journalisten gehen primär von Extremisten, aber auch regelmäßig von staatlichen Akteuren aus (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 12.4.2022). Im Jahr 2022 wurden mehrere Journalisten Opfer gewalttätiger Attacken (HRW 12.1.2023). Jedes Jahr werden drei bis vier Morde an Journalisten verübt, oft stehen diese in Verbindung zu Korruption oder zum organisierten Verbrechen (RSF 2022). In letzter Zeit haben zwar die Fälle von physischer Gewalt, z.B. Morde oder Mordversuche, stark abgenommen, allerdings bleibt die Zahl von Fällen virtueller Gewalt (Online-Hetzkampagnen, Identitätsdiebstahl, Hacking-Versuche etc.) hoch (AA 8.8.2022).
Privaten Medien, insbesondere lokale, sind zudem auch abhängig von Inseraten des staatlichen Sektors, sodass immer wieder mit Androhungen, diese einzustellen, Einfluss auf die Berichterstattung genommen wird (RSF 2022; vgl. HRCP 2022). Es kommt zu ökonomischen Abhängigkeiten AA 8.8.2022).
Ob die neue Regierung unter der Führung von Shehbaz Sharif, der die Einschränkung der Meinungsfreiheit unter der PTI-Ägide immer scharf kritisiert hatte, mehr Pressefreiheit ermöglichen wird, bleibt abzuwarten (AA 8.8.2022).
Unabhängige Berichterstattung aus Gebieten, in denen sich die pakistanische Armee oder Geheimdienste im Einsatz befinden, wird grundsätzlich stark reglementiert oder unterbunden.
Dies gilt besonders für die früheren Stammesgebiete FATA, heute Tribal Districts der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (AA 8.8.2022; vgl. FH 2022). Um im pakistanisch verwalteten Kaschmir zu publizieren, müssen Medieninhaber die Erlaubnis des Kaschmir-Rates und des Ministeriums für Kaschmir-Angelegenheiten einholen. Die Journalisten müssen sich weitgehend auf Informationen verlassen, die von der Regierung und vom Militär bereitgestellt werden. Es gibt Beschränkungen für die Übertragung von Inhalten indischer Medien (USDOS 12.4.2022).
Am World Press Freedom Index 2022 von Reporter ohne Grenzen verschlechtert sich Pakistan auf Rang 157 von 180 untersuchten Ländern. Die Lage wird als „schwierig“ eingeschätzt (AA 8.8.2022; vgl. RSF 2022).
Meinungsfreiheit und soziale Medien
Die Verfassung garantiert den Bürgern, öffentlich Kritik an der Regierung üben zu können, mit den Einschränkungen des Schutzes der Integrität, Sicherheit oder Verteidigung Pakistans oder zum Schutz des Islam. Gerichtsentscheidungen haben die Verfassung allerdings dahingehend ausgelegt, dass Kritik am Militär und an der Justiz verboten sind (USDOS 12.4.2022). In der Praxis verfügen Pakistanis über die Freiheit, viele Themen diskutieren zu können - auch online (FH 2022). Internet und soziale Medien haben in den vergangenen Jahren weiteren Raum für eine kritische journalistische Debatte geschaffen, welche jedoch zunehmend eingeschränkt wird (AA 8.8.2022).
Die Pakistan Telecommunication Authority (PTA) kann über die Entfernung von Inhalten aus sozialen Medien, die gegen die Interessen des Islams, die Integrität und Sicherheit Pakistans oder gegen die öffentliche Ordnung und Moral verstoßen, ohne Hinzuziehung von Gerichten entscheiden (AA 8.8.2022). Der Prevention of Electronic Crimes Act gibt der PTA eine unkontrollierte Macht, Internetinhalte zu zensurieren. Das breit und vage definierte Mandat zur Zensur umfasst sowohl moralisch verwerfliche Inhalte als auch die Verleumdung von Staat, Justiz oder Militär. In der Praxis geschieht die Zensur willkürlich (FH 2022). Dies führt zur Unterdrückung und Kriminalisierung von freier Meinungsäußerung, kreiert zunehmend auch im Netz ein Klima der Unsicherheit und stärkt Tendenzen zur Selbstzensur (AA 8.8.2022).
Die Regierung schränkt einige sprachliche und symbolische Äußerungen auf der Grundlage der Bestimmungen über Hassreden und Terrorismus ein. Blasphemiegesetze schränken außerdem das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung in Bezug aufAngelegenheiten der Religion und der religiösen Lehre ein[siehe dazu auch Kapitel Religionsfreiheit - Blasphemiegesetze] (USDOS 12.4.2022). Diese wird auch durch Gewaltakte, z.B. durch wütende Mobs eingeschränkt (FH 2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Pakistan 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2070227.html , Zugriff 2.9.2022 FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/ document/2071945.html, Zugriff 18.8.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/ document/2085484.html, Zugriff 19.1.2023 ÖB - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (12.2020): Asylländerbericht Pakistan, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2050270/PAKI_%C3%96B-Bericht_2020_12.pdf, Zugriff 4.2.2022 RSF - Reporters Sans Frontières (2022): World Press Freedom Index: Pakistan, https://rsf.org/en /country/pakistan Zugriff 6.2.2023 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 3.8.2022
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind durch die Verfassung gewährleistet, können aber aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eingeschränkt werden (AA 8.8.2022). Die Regierung schränkt diese Rechte auch faktisch ein (USDOS 20.3.2023). Dies äußert sich teilweise in der Anordnung von Sicherheitsverwahrung oder durch Gewalteinsatz der Polizei gegenüber Demonstranten (AA 8.8.2022).
2021 gab es zahlreiche Berichte zu Zusammenstößen und hartem Vorgehen bei Protesten mit der und durch die Polizei (HRCP 2022). In einer Medienstudie (inkl. soziale Medien) registrierte die pakistanische Menschenrechtsorganisation HRCP 503 Demonstrationen bzw. Protestserien zwischen Jänner 2021 und März 2022, die meisten in Khyber Pakhtunkhwa. Von diesen wurden 273 - 54 Prozent - ohne Reaktion des Staates abgehalten. Bei 80 reagierte der Staat positiv mit Verhandlungen, bei 61 kam es zu Gewalt. In den meisten Fällen ging die Gewalt dabei vom Staat aus. Die Fälle, wo die Gewalt von den Demonstranten ausging, betrafen in erster Linie die Tehreek-e-Labbaik Pakistan, TLP. Die Fälle, in denen die Sicherheitskräfte zu Gewalt griffen, betrafen eher große Demonstrationen, die größeren Städte bzw. Fälle, wo die Demonstranten in die Roten Zonen [Anm. Regierungsviertel] der Hauptstädte marschiert sind (HRCP 2023).
Den Ahmadi-Muslimen wird es im Allgemeinen untersagt, Konferenzen und Versammlungen abzuhalten. Des Weiteren führt das Versäumnis der Regierung, Angriffe Dritter auf friedliche Demonstranten und Menschenrechtsverteidiger zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, faktisch ebenfalls zu Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. So erhält der jährliche Aurat-Frauen-Marsch Drohungen von Extremisten. Er wird zwar von Sicherheitsmaßnahmen begleitet, doch viele Organisationen nehmen aufgrund der direkt gegen sie gerichteten Drohungen nicht mehr teil. Außerdem folgten in den letzten beiden Jahren im Nachhinein Blasphemie-Anzeigen gegen Organisatoren durch extremistische Gruppen (USDOS 20.3.2023). Die Gefahr terroristischer Anschläge schränkt diese Rechte ebenfalls ein, da der Staat nicht immer in der Lage oder willens ist, angemessenen Schutz zu gewähren. Insgesamt bleibtder Raum für eine öffentlich-kritische Debatte weiter eingeschränkt (AA 8.8.2022).
Während einerseits die Vereinigungsfreiheit oft eingeschränkt wird, kommt es andererseits auch zu deren Missbrauch. Illegale militante und extremistische Gruppierungen und gewaltbereite Führungsfiguren setzen ihre Aktivitäten oftmals trotz offiziellen Verbots und aufgrund fehlenden politischen Willens zur Durchsetzung der Verbote fort (AA 8.8.2022).
Das Recht der Arbeitnehmer, Gewerkschaften zu gründen, ist gesetzlich festgelegt und die Verfassung garantiert das Recht auf Kollektivverhandlungen und Streik. Diese Schutzrechte werden allerdings nicht stark durchgesetzt. Ungefähr 70 Prozent der Arbeitskräfte sind im informellen Sektor tätig, wo Gewerkschaften und rechtlicher Schutz minimal sind. Dessen ungeachtet werden regelmäßig Streiks und Arbeiterproteste abgehalten. Oft führen diese zu Zusammenstößen mit der Polizei (FH 2023). Auch Berufsverbände, wie die Anwalts- und Ärzteverbände, organisieren sich häufig zu Protesten, um Forderungen durchzusetzen. Der Erfolg ist allerdings meist begrenzt (BS 25.2.2022).
Die Regierung wendet in Khyber Pakhtunkhwa die West-Pakistanische Verordnung zur Aufrechterhaltung des Friedens sowie Abschnitt 144 des Strafgesetzbuches aus der Ära der britischen Kolonialherrschaft weniger häufig als früher an. Diese Regeln ermöglichen es den Behörden, die langjährige Praxis der Aussetzung des Versammlungs- und Rederechts in den neu zusammengelegten Gebieten (ehemalige Federally Administered Tribal Areas, FATA) fortzusetzen. Auch im Jahr 2022 wurde von mehreren Protesten in den Gebieten berichtet (USDOS 20.3.2023).
Die Behörden stören außerdem weiterhin die Aktivitäten der Pashtun Tahafuz Movement (Pashtun Protection Movement - PTM), die ihre Anhänger gegen die Gewalt in den paschtunischen Gebieten mobilisiert. In der Vergangenheit lösten die Sicherheitsbehörden Demonstrationen auf, verhafteten Teilnehmer und Aktivisten, unterbanden Medienberichterstattung und klagten Führungspersonen und Demonstrationsteilnehmer wegen Staatsgefährdung u.a. vor einem AntiTerrorismus-Gericht an. Das Militär verdächtigt Berichten zufolge die Führung der PTM, gegen den Staat zu agieren und Verbindungen zum indischen Geheimdienst zu unterhalten, was die PTM bestreitet (FH 2022). Allerdings hat das Interesse an der inzwischen durch interne Konflikte geschwächten Organisation stark nachgelassen. Dennoch kommt es immer wieder zu Verhaftungen ihrer Führer und exponierter Personen [siehe dazu Kapitel Paschtunen] (AA 8.8.2022). Opposition
Politische Parteien können weitgehend frei operieren. Jedoch üben Militär und Geheimdienste Druck auf unliebsame Parteien aus, in der Regel auf die Opposition (AA 8.8.2022). Mehrere große Parteien, zahlreiche kleinere Parteien und Unabhängige nehmen an den Wahlen teil und sind im Parlament und in den Provinzparlamenten vertreten. Auch stellen Parteien, die auf nationaler Ebene in der Opposition sind, Regierungen auf Provinzebene oder haben in den Provinzparlamenten einen signifikanten Anteil an Sitzen. Allerdings wird derzeit das Militär als mächtiger angesehen als die gewählten Politiker, und als fähig, die Wahlen zu beeinflussen (FH 2023). Die letzten drei nationalen Wahlen haben jeweils zu einem Wechsel von einer Oppositionspartei in die Regierung geführt (FH 2022).
Politische Auseinandersetzungen werden mitunter auch mit Gewalt ausgetragen (AA 8.8.2022). Das vage und übermäßig weit gefasste Volksverhetzungsgesetz wird öfters auch gegen politische Gegner eingesetzt (HRW 12.1.2023). Die vormalige Regierung verfolgte eine Tendenz zur selektiven Strafverfolgung von prominenten Oppositionspolitikern (AA 28.9.2021; vgl. HRW 13.1.2022, AA 8.8.2022). Unter der neuen Regierung werden allerdings weiterhin verstärkt Korruptionsfälle gegen Mitglieder der nunmehrigen Opposition geführt, seltener gegen Mitglieder der Regierungskoalition [zu Korruptionsermittlungen gegen Regierung und Opposition siehe auch die Kapitel Politische Lage sowie Korruption] (USDOS 20.3.2023).
In einem Misstrauensvotum gelang es einer Allianz der Opposition, Premierminister Imran Khan im April 2022 abzusetzen und den vormaligen Oppositionsführer, Shabaz Sharif, in der Nationalversammlung zum neuen Premierminister zu wählen (Zeit Online 11.4.2022). Der abgesetzte Premierminister rief die Abgeordneten seiner Partei, der PakistanTherek-Insaf, PTI, aus Protest zum Rücktritt aus der Nationalversammlung auf (TET 14.4.2022). Mit der Verlegung der Oppositionsarbeit vom Parlament auf die Straße versucht Khan eine Massenopposition aufzubauen, um vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen (ICG 27.12.2022). Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem von Imran Khan im Mai 2022 ausgerufenen Oppositionsmarsch auf Islamabad kam es zu rechtsstaatlich fragwürdigen Polizei-Interventionen und temporären Verhaftungen von Oppositionsanhängern - vor allem der PTI (AA 8.8.2022).
Nachdem in Folge der Verhaftung von Khan im Mai 2023 Regierungsgebäude und Militäreinrichtungen, inkl. das Hauptquartier, bei Ausschreitungen von Demonstranten angegriffen worden waren, wurden Tausende Anhänger Khans in Haft genommen, darunter reihenweise Führungspersonen der PTI (Guardian 19.5.2023). Die meisten Verhafteten wurden seitdem wieder freigelassen (Reuters 26.6.2023). Die freigelassenen Führungspersonen erklärten öffentlich den Austritt aus der Partei [zu den weiteren Entwicklungen um die PTI siehe Kapitel Politische Lage] (Reuters 6.6.2023) .
Es wird außerdem berichtet, dass das Militär Druck auf die Medien ausübt, in ihrer Berichterstattung Khan keine Bühne mehr zu geben. Sein Name wird nur noch selten erwähnt (SZ 13.6.2023).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2061523/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Mai_2021%29%2C_28.09.2021 .pdf, Zugriff 22.1.2023 BS - Bertelsmann Stiftung (25.2.2022): Bertelsmann Transformation Index, Pakistan Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/PAK#pos6, Zugriff 20.3.2023 FH - Freedom House (2023): Freedom in the World 2023 - Pakistan https://freedomhouse.org/cou ntry/pakistan/freedom-world/2023, Zugriff 13.7.2023 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://freedomhouse.org/c ountry/pakistan/freedom-world/2022, Zugriff 22.1.2023 Guardian - The Guardian (19.5.2023): Imran Khan alleges ‘reign of terror’ as supporters face trial in military courts, https://www.theguardian.com/world/2023/may/19/pakistan-thousands-imran-k han-supporters-arrested-hundreds-face-trial, Zugriff 15.6.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2023): A Year of Protests The Right to Peaceful Assembly in 2021–22, An HRCP media monitoring report, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-conte nt/uploads/2020/09/2023-A-year-of-protests-The-right-to-freedom-of-peaceful-assembly-from-2 021-to-2022.pdf, Zugriff 30.3.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.3.2023 HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2085484.html, Zugriff 1.2.2023 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2066474.html, Zugriff 19.1.2023 ICG - International Crisis Group (27.12.2022): A Change of Command and Political Contestation in Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2084842.html, Zugriff 2.2.2023 Reuters (26.6.2023): Pakistan army general among three sacked over violence by Imran Khan’s party, https://www.reuters.com/world/asia-pacific/pakistan-armys-top-3-officers-sacked-over-att acks-by-ex-pm-khan-supporters-army-2023-06-26/, Zugriff 13.7.2023 Reuters (6.6.2023): Insight: Repeated arrests, filthy cells: Inside Pakistan’s crackdown, https: //www.reuters.com/world/asia-pacific/repeated-arrests-filthy-cells-inside-pakistans-crackdown-2 023-06-06/, Zugriff 13.7.2023 SZ - Süddeutsche Zeitung (13.6.2023): Wie Khan die Kraftprobe mit den Generälen verliert, https: //www.sueddeutsche.de/politik/pakistan-militaer-imran-khan-kraftprobe-1.5927989, Zugriff 13.7.2023 TET - The Express Tribune (14.4.2022): Resignations of 123 PTI MNAs accepted, https://tribune. com.pk/story/2352554/imran-appreciates-pti-mnas-for-resigning-from-na, Zugriff 19.1.2023 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023 Zeit Online (11.4.2022): Shehbaz Sharif zum neuen Premier gewählt, https://www.zeit.de/politik/ ausland/2022-04/pakistan-wahl-premier-shehbaz-sharif, Zugriff 19.1.2023
Haftbedingungen
Die Verhältnisse in Pakistans Gefängnissen sind schlecht. Nach Einschätzung von UNODC und der NGO HRCP werden die Grundrechte der Strafgefangenen, insbesondere auf körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde, nicht gewahrt. Dies gilt besonders für zum Tode verurteilte Strafgefangene. Pakistans Gefängnisse leiden an Überbelegung. Ein Grund für die Überbelegung liegt in den extrem langen Untersuchungshaftzeiten, die sich aus langen Gerichtsverfahren ergeben. Außerdem stehen oft auch auf kleinere Vergehen Gefängnisstrafen (AA 8.8.2022). Die internationale Datenbank World Prison Brief beziffert mit Stand September 2021 die Zahl der Gefängnisinsassen mit 85.670, die offizielle Kapazität wird mit 64.099 Haftplätzen angegeben (WPB 9.2021; vgl. AA 8.8.2022). Nach Angaben der Gefängnisbehörden der Provinzen befinden sich 87.668 Insassen in landesweit 119 Gefängnissen, während die Gesamtkapazität demnach bei 65.334 liegt. Damit beträgt die Belegungsrate auch offiziell 134 Prozent (HRCP 2022). Die Behörden schätzen selbst, dass 70 Prozent der Häftlinge auf ihr Verfahren oder dessenAusgang warten (USDOS 12.4.2022; vgl. HRCP 2022).
Die meisten Gefangenen werden in Blöcken mit ca. 50 Menschen pro Schlafsaal untergebracht, soweit sie nicht durch Bestechung des extrem korruptionsanfälligen Wachpersonals ihre Haftbedingungen verbessern können. Die medizinische Versorgung der Strafgefangenen ist unzureichend. Dies gilt auch für die Behandlung psychisch kranker Häftlinge (AA 8.8.2022). In vielen Einrichtungen sind Hygiene, sanitäre Anlagen, Belüftung, Beleuchtung und Zugang zu Trinkwasser unzureichend. Unterernährung bleibt ein Problem, insbesondere für Insassen, die nicht in der Lage sind, ihre Ernährung durch Hilfe von Familie oder Freunden zu ergänzen. Die unzureichende medizinische Versorgung und Ernährung in den Gefängnissen führt zu chronischen Gesundheitsproblemen. In einigen Gefängnissen sind die Bedingungen aufgrund all der genannten Mängel lebensbedrohlich (USDOS 12.4.2022).
Vertreter der christlichen Minderheit und der Ahmadis berichten, dass Mitglieder ihres Glaubens Gewalt durch Mithäftlinge ausgesetzt sind. Außerdem gibt es Berichte, wonach der Blasphemie Verdächtigte über lange Zeiträume in Einzelhaft gehalten werden. Die Regierung argumentiert, dass dies zu deren eigenem Schutz geschieht (USDOS 12.4.2022).
Jugendliche werden in den Gefängnissen in eigenen Gebäuden untergebracht (USDOS 12.4.2022). Insgesamt sollen sich ca. 1.300 Jugendliche in den Gefängnissen befinden. Nach internationalen Standards hat Pakistan immer noch eine der niedrigsten Altersschwellen für Strafmündigkeit. Dies führt dazu, dass vergleichsweise viele Minderjährige Gefängnisstrafen ableisten. Im Hinblick auf die Haftbedingungen und die oft nicht ausreichende Trennung zwischen erwachsenen und minderjährigen Strafgefangenen in Vollzugsanstalten ist dies besonders problematisch. Der Jugendstrafvollzug erfüllt nicht die sowohl nach pakistanischem Recht (Juvenile Justice System Ordinance 2000) als auch vom Übereinkommen über die Rechte des Kindes vorgegebenen Mindestanforderungen (AA 8.8.2022). Es gibt Berichte über Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt an Minderjährigen in Gefängnissen (USDOS 12.4.2022).
Es gibt gesonderte Frauengefängnisse. Bei gemischten Gefängnissen sind Frauen- und Männerabteilungen voneinander getrennt. Die Zahl der weiblichen Strafgefangenen in den Gefängnissen Pakistans dürfte ca. 1.500 betragen. Weibliche Gefangene sind mitunter Belästigungen ausgesetzt (AA 8.8.2022).
Es gibt Ombudspersonen für Gefangene mit einer Zentralstelle in Islamabad und Büros in jeder Provinz. Generalinspektoren für Gefängnisse besuchen in unregelmäßigen Abständen die Haftanstalten, um die Bedingungen zu überwachen und Beschwerden zu bearbeiten. Laut Gesetz müssen die Gefängnisbehörden den Inhaftierten erlauben, sich ohne Zensur bei den Justizbehörden zu beschweren und eine Untersuchung glaubwürdiger Vorwürfe über unmenschliche Bedingungen zu verlangen. Es gibt jedoch Berichte, wonach Gefangene davon absehen, Beschwerden einzureichen, um Vergeltungsmaßnahmen der Gefängnisbehörden zu vermeiden. Internationale Organisationen führen Kontrollbesuche in den Gefängnissen durch, berichten aber auch über Schwierigkeiten beim Zugang zu einigen Gefängnissen, insbesondere solchen mit Häftlingen, die aufgrund sicherheitsrelevanter Vergehen angeklagt sind. Der Zugang zu Gefängnissen in den am stärksten von Gewalt betroffenen Gebieten von Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan ist den Organisationen untersagt. Einigen Menschenrechtsorganisationen ist es erlaubt, die Bedingungen von Jugendlichen und weiblichen Häftlingen zu überprüfen (USDOS 12.4.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 3.8.2022 WPB - World Prison Brief, Institute for Crime Justice Policy Research at Birkbeck, University of London (9.2021): World Prison Brief Data Pakistan, https://www.prisonstudies.org/country/pakistan, Zugriff 1.12.2022
Todesstrafe
Die Todesstrafe wird in Pakistan im Prinzip vollstreckt. Ein 2008 eingesetztes Moratorium auf die Vollstreckung der Todesstrafe wurde im Jahr 2015 als Folge des Terrorangriffs auf die Army Public School in Peshawar, bei dem 2014 ca. 150 Schüler ums Leben gekommen sind, aufgehoben. Nach Schätzungen von pakistanischen Menschenrechtsorganisationen - der Staat veröffentlicht keine offizielle Statistik - wurden seit Aufhebung des Moratoriums über 500 Menschen hingerichtet. Die Zahl der Hinrichtungen war allerdings bereits von 2015 bis 2019 stark rückläufig (AA 8.8.2022). Im Jahr 2020 wurden schließlich zum ersten Mal seit der Wiederaufnahme der Vollstreckung der Todesstrafe keine Hinrichtungen gemeldet (AI 4.2021; vgl. HRCP 2022, AA 8.8.2022). Auch im Jahr 2021 fanden keine Hinrichtungen statt (DFAT 25.1.2022; vgl. AI 5.2022, CCDPW o.D., HRCP 2022, AA 8.8.2022).
Weiterhin werden allerdings Todesurteile ausgesprochen (AA 8.8.2022). Für das Jahr 2021 geht die NGO Human Rights Commission of Pakistan aufgrund von Presseberichten von mindestens 125 Todesurteilen aus. Dies stellt einen weiteren Rückgang gegenüber den mindestens 177 vom Jahr 2020 dar (HRCP 2022). Im Jahr 2019 sind es noch 578 Todesurteile gewesen (HRCP 2021). Amnesty International hingegen geht für das Jahr 2021 von 129 neuen Todesurteilen aus, was demnach einen starken Anstieg gegenüber ihren Daten des Vorjahres (49 Todesurteile) darstellt. Nach Einschätzung von Amnesty International könnte dies mit einer Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren zusammenhängen, die im Jahr 2020 aufgrund der COVID-19-Pandemie ins Stocken gerieten (AI 5.2022). Die Gesamtzahl der zum Tode Verurteilten in pakistanischen Gefängnissen lag Ende 2021 bei ca. 3.800-4.200 (AA 8.8.2022; vgl. AI 5.2022).
Die Regierung stellt einen staatlich finanzierten Rechtsbeistand für Gefangene zur Verfügung, die wegen Verbrechen angeklagt sind, welche mit der Todesstrafe sanktioniert werden können (USDOS 12.4.2022). Diese kann bei 27 verschiedenen Straftatbeständen verhängt werden, darunter Blasphemie, Mord, Spionage, Vergewaltigung und terroristischer Anschlag mit Todesfolge. Der unter Todesstrafe gestellte Tatbestandskatalog geht weit über den nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gesetzten Rahmen der „most serious crimes“ hinaus, den auch Pakistan ratifiziert hat. Außerdem passieren auch in Verfahren, in denen die Todesstrafe verhängt wird, immer wieder schwere Justizirrtümer, und grundlegende Verfahrensrechte der Angeklagten werden schwer missachtet. Urteile werden mitunter ausschließlich aufgrund von Geständnissen verhängt, wobei davon auszugehen ist, dass diese immer wieder auch durch Folter oder Misshandlung in Polizeigewahrsam erzwungen werden. Zum Tode Verurteilten stehen als Rechtsmittel der normale gerichtliche Instanzenweg bis zum Supreme Court und anschließend die Möglichkeit eines Gnadengesuchs an den Staatspräsidenten offen. Seit Aufhebung des Moratoriums hat der Staatspräsident nach Kenntnis des Deutschen Auswärtigen Amts jedoch in keinem Fall einem Gnadengesuch stattgegeben (AA 8.8.2022). Zahlreiche Todesstrafen werden allerdings in Berufungsverfahren aufgehoben (DFAT 25.1.2022).
Es besteht die Gefahr, dass Personen, die gemäß völkerrechtlich für Pakistan bindender Verträge zwingend von der Verhängung der Todesstrafe ausgenommen sind, dennoch zum Tode verurteilt und auch hingerichtet werden. Dies gilt etwa für Minderjährige oder Menschen mit geistigen Behinderungen (AA 8.8.2022). Das staatliche Recht verbietet ebenfalls die Anwendung der Todesstrafe für Minderjährige, dennoch verurteilen Gerichte Minderjährige nach dem Anti-Terrorismus-Gesetz zum Tode. Dabei erschwert die unzuverlässige Dokumentation die Bestimmung des Alters möglicher Minderjähriger (USDOS 12.4.2022). Im Februar 2021 wandelte der Supreme Court die Todesstrafe für drei Personen um, bei denen schwere geistige (psychosoziale) Behinderungen diagnostiziert worden waren, und verbot die Anwendung der Todesstrafe bei Personen, die nicht über die geistigen Fähigkeiten verfügen, um die Gründe für das verhängte Todesurteil zu verstehen (AI 5.2022). Das Urteil ist wegweisend, inwieweit es Präzedenzcharakter hat, bleibt abzuwarten (AA 8.8.2022). Bereits kurz danach wurden einige Todesurteile psychisch kranker Häftlinge in lebenslange Haftstrafen umgewandelt (DFAT 25.1.2022).
Das pakistanische Strafgesetzbuch sieht in § 295c selbst bei unbeabsichtigter Beleidigung des Propheten Mohammed die Todesstrafe vor. Diese wurde bislang zwar verhängt, jedoch noch nie für Blasphemie vollstreckt, sondern häufig durch ein höherrangiges Gericht aufgehoben. Nach divergierenden Angaben von Menschenrechtsaktivisten sollen mit Stand Juni 2022 zwischen 30 und 80 aufgrund von Blasphemie zum Tode Verurteilte auf die Vollstreckung ihres Urteils warten (AA 8.8.2022). In den letzten Jahren wurden auch einige Todesurteile aufgrund blasphemischer Inhalte in Nachrichten in den sozialen Medien, wie Facebook und WhatsApp ausgesprochen (The Guardian 19.1.2022).
Eine Abschaffung der Todesstrafe ist aufgrund der überwältigenden Unterstützung für die Todesstrafe in der Bevölkerung auch längerfristig unrealistisch (AA 8.8.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 AI - Amnesty International (5.2022): Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2073393/ACT5054182022ENGLISH.pdf, Zugriff 25.10.2022 AI - Amnesty International (4.2021): Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2049793/ACT5037602021ENGLISH.PDF, Zugriff 7.11.2022 CCDPW - Cornell Center on the Death Penalty Worldwide (o.D.): Cornell Database Results Pakistan, https://deathpenaltyworldwide.org/database/#/results/country?id=56, Zugriff 7.2.2022 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.2.2022 The Guardian (19.1.2022): Woman sentenced to death in Pakistan over ‘blasphemous’ WhatsApp activity, https://www.theguardian.com/world/2022/jan/19/pakistan-woman-aneeqa-ateeq-sentenc ed-to-death-blasphemous-whatsapp-messages, Zugriff 7.11.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.11.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_re moved.pdf, Zugriff 5.12.2021 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 1.8.2022
Religionsfreiheit
Laut der Volkszählung im Jahr 2017 sind 96 Prozent der ca. 210 Millionen Einwohner Pakistans sunnitische oder schiitische Muslime (USDOS 2.6.2022). Dem Zensus zufolge sind weiters Hindus mit 1,73 Prozent der Bevölkerung die größte religiöse Minderheit, gefolgt von Christen mit 1,27 Prozent. Ahmadis stellen offiziell einen Anteil von 0,09 Prozent (PBS o.D.). Gemäß Verfassung sind Angehörige der Religionsgemeinschaft der Ahmadis keine Muslime, obwohl sie sich selbst als solche sehen. Viele Ahmadis boykottierten die Volkszählung, Vertreter der Glaubensgemeinschaft schätzen ihre Anzahl auf 500.000 - 600.000. Vertreter einiger Minderheitenreligionen vermuten, dass ihre jeweilige Anhängerzahl im Zensus unterrepräsentiert ist, da die Festlegung der Anzahl der Minderheitensitze sich an den Bevölkerungszahlen orientiert (USDOS 2.6.2022; vgl. ACCORD 3.2021). Schließlich entfallen 0,3 Prozent auf weitere religiöse Gruppen, wie Zoroastrier, Bahai, Sikhs, Buddhisten, Kalasha, Kihal und Jainisten (USDOS 2.6.2022).
Laut Vertretern religiöser Minderheiten erlaubt die Regierung den meisten organisierten religiösen Gruppen, Gebetsstätten zu errichten und ihre Geistlichen auszubilden. Ahmadis jedoch verweigern die lokalen Behörden regelmäßig die notwendigen Baubewilligungen für Gebetshäuser. Offizielle Restriktionen diesbezüglich gibt es nicht, abgesehen davon, dass sie ihre Gebetshäuser nicht Moscheen nennen dürfen (USDOS 2.6.2022).
Die pakistanische Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion und hält fest, dass alle Gesetze in Einklang mit den Prinzipien des Islams zu bringen sind und keine Gesetze verabschiedet werden dürfen, die diesen zuwiderlaufen. Die Verfassung hält allerdings fest, dass diese Vorgaben nicht das Personenstandsrecht sowie die Staatsbürgerschaft von Nicht-Muslimen beeinträchtigen dürfen. Zur Prüfung von Gesetzen und Urteilen in Bezug auf ihre Konformität mit islamischen Prinzipien ist in der Verfassung das Federal Shariat Court und für Empfehlungen an den Gesetzgeber der Council of Islamic Ideology vorgesehen. Per Verfassung sind in der Nationalversammlung, im Senat und den Provinzversammlungen Sitze für nicht-muslimische Abgeordnete reserviert (USDOS 2.6.2022). Außerdem wurden in allen Provinzen Ministerien zur Wahrung der Rechte der Minderheiten eingerichtet (AA 8.8.2022). Das für religiöse Minderheiten zuständige Ministerium für religiöse Angelegenheiten und interreligiöse Harmonie konzentriert sich hauptsächlich auf muslimische Angelegenheiten und bietet keinen effektiven Schutz für die Minderheitenrechte, unterstützt aber auch religiöse Minderheiten und deren Einrichtungen finanziell (UKHO 2.2021).
Die Regierung hat im Mai 2020 die Schaffung einer National Commission for Minorities beschlossen. Die Kommission umfasst Mitglieder einiger Minderheiten, u.a. Hindus, Christen und Sikhs. Sie ist allerdings nicht unabhängig und hält weder besondere Kompetenzen und Entscheidungsgewalten inne, noch - da sie per Dekret ohne Parlamentsbeteiligung konstituiert wurde - die vom Supreme Court geforderte gesetzliche Grundlage (AA 8.8.2022; vgl. USDOS 2.6.2022). Zivilgesellschaftliche Gruppen und Aktivisten für Religionsfreiheit bemängeln die begrenzten Kompetenzen sowie den Ausschluss der Ahmadis aus der Kommission. Letztere müssten - ihrer eigenen Auffassung nach - zuerst ihren Status als Nicht-Muslime anerkennen, um teilhaben zu können. Die Kommission ist im Ministerium für Religiöse Angelegenheiten verortet (USDOS 2.6.2022).
Grundsätzlich garantiert die Verfassung jedem Bürger das Recht, sich zu seiner Religion zu bekennen, sie auszuüben und diese zu propagieren (USDOS 2.6.2022). Die gesellschaftliche Realität sieht anders aus (AA 8.8.2022). Mitglieder von religiösen Minderheiten werden regelmäßig Opfer religiös motivierter Übergriffe, die vor allem von sunnitisch-extremistischen Gruppierungen verübt oder veranlasst werden (BAMF 5.2020; vgl. USDOS 2.6.2022). So sind religiöse Minderheiten eines der erklärten Hauptziele von Anschlägen islamistischer militanter Gruppen (HRW 13.1.2022). Aktivisten der schiitischen Gemeinschaft berichten außerdem von gezielten Tötungen an Personen schiitischen Glaubens sowie Fällen von Verschwindenlassen (USDOS 12.4.2022). Für das Jahr 2021 verzeichnete das Sicherheitsanalyseinstitut PIPS zwei terroristischeAnschläge auf die schiitische Religionsgemeinde mit insgesamt 13 Toten und einen gezielten Anschlag auf die Sikh-Gemeinde mit einem Toten (PIPS 4.1.2022). USCIRF wertet zusätzlich für 2021 die gezielte Tötung zweier Ahmadis sowie die Tötung eines Hindu-Journalisten als religiös motivierte Morde (USCIRF 4.2022). Im Jahr 2022 forderte im März ein Großanschlag auf eine schiitische Moschee in Peshawar durch den IS mindestens 56 Menschenleben (AP 5.3.2022). Der IS bekannte sich ebenfalls zu einer gezielten Tötung im Mai 2022, der zwei Sikhs zum Opfer fielen (NDTV 15.5.2022). Im Jänner 2022 wurde ein christlicher Priester Opfer einer gezielten Tötung durch unbekannte Täter (USCIRF 8.2022).
Radikal-islamistische Gruppierungen stellen nicht die einzige Gefahr für religiöse Minderheiten dar. Diese sehen sich zusätzlich einer existenziellen Bedrohung durch Anschuldigungen wegen Verstoßes gegen Religionsstraftaten, wie „Prophetenbeleidigung“ oder Gotteslästerung bzw. Blasphemie ausgesetzt, die auffallend häufig gegen Angehörige religiöser Minderheiten vorgebracht werden (BAMF 5.2020; vgl. USDOS 2.6.2022). Militante Gruppen und die islamistische politische Partei Tehreek-e-Labbaik (TLP) beschuldigen z.B. Ahmadis, sich „als Muslime auszugeben“ - ein Straftatbestand nach dem pakistanischen Strafgesetzbuch (HRW 13.1.2022). Das Strafgesetzbuch sieht bei Prophetenbeleidigung die Todesstrafe vor. Diese wurde für Blasphemie bislang jedoch noch nie vollstreckt und häufig durch ein höherrangiges Gericht aufgehoben (AA 8.8.2022).
Die zumeist haltlosen Anschuldigungen haben allerdings nicht nur strafrechtliche Verfolgung und teilweise jahrelange schuldlose Inhaftierung zur Konsequenz, sondern werden auch zum Anlass genommen, Menschenmengen gegen die Beschuldigten oder deren religiöse Gemeinschaft zu mobilisieren (BAMF 5.2020; vgl. AA 8.8.2022, USDOS 2.6.2022). Ein gewöhnlicher Disput kann für Mitglieder der Minderheitenreligionen das Risiko einer Anschuldigung der Blasphemie bergen, die zu Strafverfolgung und Mobgewalt führen kann (FH 2022). Religiöse Minderheiten, wie Christen, Hindus und Ahmadis sind somit mit gelegentlichen Ausbrüchen von Mobgewalt konfrontiert (USDOS 12.4.2022).
Die Blasphemiegesetze und ihr Missbrauch durch religiöse Fanatiker beschränken auch die Meinungsfreiheit von Muslimen (FH 24.2.2022). Fälle von Mob-Gewalt nach Blasphemievorwürfen betreffen auch Muslime (Al Jazeera 13.2.2022; vgl. PIPS 4.1.2022). Ebenso akzeptiert die Gesellschaft Abfall (Apostasie) vom Islam in keiner Weise, obwohl das Gesetz selbst nicht die Freiheit einschränkt, seine Religion zu wechseln. Personen, die sich vom Islam abwenden, vertreten dies in aller Regel nicht öffentlich (AA 8.8.2022). Eine Konversion vom Islam kann in einer Strafverfolgung unter den Blasphemiegesetzen oder in familiärer oder gesellschaftlicher Gewalt münden (DFAT 25.1.2022). Gesellschaftliche Gewalt aufgrund religiöser Intoleranz bleibt damit ein ernstes Problem (USDOS 12.4.2022; vgl. HRCP 2021, AI 7.4.2021). Für das Jahr 2021 verzeichnete PIPS sieben Vorfälle religiös-motivierter Mobgewalt in Pakistan. Diese forderten zwei Tote, darunter ein Ahmadi. Vier Vorfälle betrafen Mobgewalt nach Blasphemievorwürfen. Bei zwei Gewaltakten wurden Hindu-Tempel beschädigt (PIPS 4.1.2022).
In Hinblick auf die gesellschaftliche Gewalt gegen religiöse Minderheiten berichten NGOs, dass Behörden oft darin versagen, bei derartigen Vorfällen einzugreifen - aus Angst vor Vergeltung oder aufgrund eines mangelnden Personalstandes. Für Täter gibt es häufig aufgrund einer mangelhaften Strafverfolgung, Bestechung oder Drucks auf die Opfer keine rechtlichen Konsequenzen. Die Regierung setzt jedoch einige Schritte, um religiöse Minderheiten zu schützen. Verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft und Vertreter der Religionsgemeinden berichten, dass die Regierung die Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit an religiösen Orten der Minderheiten verstärkt hat. Zu bestimmten Zeitpunkten, unter anderem während religiöser Feiertage oder als Antwort auf Bedrohungslagen erhöht die Polizei außerdem die Sicherheitsmaßnahmen in Abstimmung mit den Religionsführern. Im Juli 2021 richtete eine Justizkommission für Minderheitenfragen eine landesweite Spezialeinheit der Polizei zum Schutz der Minderheiten und ihrer Religionsstätten ein. Auch Provinzregierungen ergreifen spezifische Schutzmaßnahmen, wie die Einsetzung einer Spezialeinheit zum Schutz der Minderheiten in jeder Provinz. Die Regierung setzt ihren Nationalen Aktionsplan gegen Terrorismus, der auch konfessionell motivierten Extremismus und Hassreden berücksichtigt, fort.Außerdem werden Militär- und Strafverfolgungsoperationen zur Bekämpfung des Terrorismus durchgeführt (USDOS 2.6.2022).
Im sozialen und staatlichen Bereich sehen sich Minderheiten mit Diskriminierungen in unterschiedlichen Ausmaßen konfrontiert, wobei Ahmadis am stärksten betroffen sind (USDOS 2.6.2022). Die Benachteiligung religiöser Minderheiten im Bildungswesen, in der Wirtschaft und im Berufsleben bleibt weit verbreitet. Geschätzte 80 Prozent der pakistanischen Minderheitenbevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (AA 8.8.2022).
Gemäß Verfassung dürfen Personen bei der Anstellung im öffentlichen Dienst nicht aufgrund ihrer Religion diskriminiert werden. Im öffentlichen Dienst gilt außerdem eine Minimumquote von 5 Prozent für Minderheiten. Laut dem Supreme Court und Vertretern der Minderheiten wird diese Quote oft nicht erreicht (USDOS 2.6.2022). Nach Regierungsangaben liegt die tatsächlich erreichte Quote bei 2,8 Prozent (UKHO 2.2021). Die meisten religiösen Minderheiten berichten von Diskriminierungen bei Anstellungen und Beförderungen im öffentlichen Dienst sowie bei der Aufnahme an Hochschulen. Auch im Militärdienst gibt es zwar keine offiziellen Hürden für einen Aufstieg und es gibt einige wenige christliche Generäle, Ahmadis steigen nur selten in einen höheren Dienstgrad als Oberst auf und werden nicht mit höheren Positionen betraut (USDOS
2.6.2022). Minderheiten sind besonders in den Streitkräften, der Polizei und der Judikative stark unterrepräsentiert (AA 8.8.2022).
Außerdem gibt es Fälle von Entführungen mit Zwangsverheiratungen und Zwangskonversionen zum Islam sowie Vergewaltigungen von christlichen und hinduistischen Mädchen und Frauen (USCIRF 4.2022; vgl. USDOS 2.6.2022, FH 24.2.2022, HRCP 2022). Die Zahl an Entführungen soll in die Hunderte gehen und besonders Minderheiten betreffen, da sie aufgrund ihrer marginalen ökonomischen Lage ungeschützter sind und ihre Konversion zum Islam als religiös wünschenswert gesehen wird (DFAT 25.1.2022).
Vertreter der Minderheiten berichten, dass die Regierung bei der Anwendung der Gesetze zur Sicherstellung der Minderheitenrechte sowie der Durchsetzung der Schutzregelungen für Minderheiten auf Bundes- und Provinzebene inkonsequent ist. Folglich ist auch der Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierung inkonsequent. Der volle rechtliche Rahmen für den Minderheitenschutz ist unklar. Während das Ministerium für Recht und Justiz offiziell für die Gewährleistung der gesetzlichen Rechte aller Bürger verantwortlich ist, übernimmt das Ministerium für Menschenrechte in der Praxis weiterhin die Hauptverantwortung für den Schutz der Rechte religiöser Minderheiten. Die National Commission on Human Rights (NCHR) ist mit der Untersuchung von Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen beauftragt, sie hat aber wenig Macht zur Durchsetzung ihrer Forderungen und Empfehlungen (USDOS 2.6.2022). Die Ständigen Ausschüsse des Senats und der Nationalversammlung für Minderheiten und für Menschenrechte halten Anhörungen ab (USDOS 12.4.2022).
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Muslimische Glaubensrichtungen, insbesondere Schiiten
Laut der Volkszählung von 2017 sind 96 Prozent der ca. 210 Millionen Einwohner Pakistans Muslime (PBS o.D.). Schätzungen zufolge sind circa 80-85 Prozent der muslimischen Einwohner Pakistans Sunniten und 15-20 Prozent Schiiten, zu welchen auch die ethnische Minderheit der Hazara gehört (USDOS 2.6.2022).
Unter der sunnitischen Bevölkerung ist der Sufismus weit verbreitet und einflussreich. Die Mehrheit der sunnitischen Muslime in Pakistan gehört der hanafitischen Rechtsschule des Islam an, einer der großen islamischen Rechtsschulen, die als die liberalste eingeschätzt wird. Zwei in Nordindien entstandene Reformbewegungen, Barelvi und Deobandi, sind in Pakistan weit verbreitet. Die theologischen Unterschiede zwischen den Strömungen sind insofern bedeutend, da sie immer wieder zu Gewalt zwischen Anhängern der beiden Strömungen führen (EB 29.3.2023; vgl. ICG 5.9.2022). Schätzungen gehen davon aus, dass Barelvi eine knappe Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Lange Zeit wurden sie als moderat erachtet. Viele von ihnen hängen der Verehrung von Sufi-Schreinen an, und traditionell teilen sie viele Rituale mit Schiiten, sodass Barlevi auch immer wieder an schiitischen Zeremonien teilgenommen haben (ICG 5.9.2022).
Allerdings ist die in den letzten Jahren entstandene islamistische politische Partei Tehrik-e-Labbaik Pakistan (TLP) eine Partei bzw. Bewegung der Barelvi (OF 9.2021; vgl. ICG 5.9.2022).
Diese Partei hat eine Einstellung eingenommen, die sich nicht nur gegen Ahmadis, sondern auch gegen Schiiten und religiöse Minderheiten richtet. Sie schart Anhänger um sich, indem sie gegen vermeintliche Fälle von Blasphemie mobilisiert. Deobandi vertreten hingegen den orthodox-sunnitischen Islam. Die Verehrung von Schreinen der Barelvi lehnen orthodoxe Deobandi als ketzerisch ab, militante Deobandi richten sich gegen nicht-sunnitische Muslime (ICG 5.9.2022).
Der Wahabismus oder auch Salafismus hat sich in Pakistan durch die Unterstützung Saudi Arabiens in der Bewältigung der Flüchtlingsströme aus Afghanistan und dessen Finanzierung von religiösen Schulen, Madrassen, verbreitet - in erster Linie unter Paschtunen. Viele dieser Madrassen dienten als Vehikel für extremistische Gruppierungen (EB 29.3.2023).
Den Schätzungen folgend sind 20-40 Millionen Pakistanis Schiiten (DFAT 25.1.2022). Unter diesen sind in Pakistan mehrere Sub-Sekten vertreten. Eine größere darunter sind die ZwölferSchiiten, deren religiöse Praxis jener der iranischen Schiiten ähnelt. Ebenfalls von nennenswerter Größe sind die Ismailiten bzw. Siebener-Schiiten, zu denen die Nizari-Ismailiten sowie deren Untergruppen, die Khojas und Bohras, gehören, die den Aga Khan verehren und in Handel und Industrie stark vertreten sind (EB 29.3.2023).
Schiiten sind quer über das ganze Land sowie auf die meisten ethnischen und linguistischen Gruppen und Stämme Pakistans verteilt. Mit Ausnahme der Hazara sind sie in das ökonomische und soziale Netz der Gesellschaft integriert, und die gemeinsame ethnische Identität mit der sunnitischen Mehrheit stellt einen definierenden Faktor der Integration dar. Viele urbane Zentren beheimaten große Schia-Gemeinden mit Hunderten von Glaubenszentren und schiitisch dominierten Vierteln. Im südlichen Punjab, wo konservative Madrassen und militante Gruppen stärker vertreten sind, leben die sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften eher getrennt. Außerdem bilden in einigen Großstädten Schiiten eher Enklaven. Im Allgemeinen sind die sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften allerdings integriert und Siedlungsgebiete gemischt (UKHO 7.2021).
Es gibt signifikante schiitische Gemeinden in Karatschi, Lahore, Rawalpindi und Islamabad.
In der autonomen Region Gilgit-Baltistan stellen Schiiten die Bevölkerungsmehrheit (DFAT 25.1.2022). In Khyber Pakhtunkhwa ist die Bevölkerung überwiegend sunnitisch. Die meisten Schiiten in dieser Provinz leben in Hangu, Kohat, Peschawar und Dera Ismail Khan. 40 Prozent der Bevölkerung der Kurram Agency sind Schiiten, wobei die meisten davon dem TuriStamm angehören. Innerhalb des Bangash-Stammes in der Orakzai Agency gehören geschätzt 40 Prozent dem Schia-Glauben an (UKHO 7.2021).
Schiitische Muslime können ihren Glauben frei, ohne offenkundiges staatliches Eingreifen, ausüben sowie Glaubensstätten errichten. Anhänger des schiitischen Glaubens treten regelmäßig bei Wahlen für die Großparteien an und finden sich im Parlament (DFAT 25.1.2022). Schiiten sind in Regierungen, im öffentlichen Dienst und in allen Sphären des öffentlichen Lebens gut vertreten. Für die schiitischen Feierlichkeiten zuAshura ist ein Feiertag staatlich anerkannt. Es gibt keine Hinweise auf eine systematische Diskriminierung von Schiiten in der Anstellung im öffentlichen Bereich, bei der Polizei, beim Militär oder im privaten Sektor. Viele nehmen einflussreiche Positionen oder einen prominenten Status im kulturellen Leben ein (UKHO 7.2021). In der Wirtschaft sind sie ebenfalls gut aufgestellt. Sichtbare Kennzeichen ihres Glaubens sind sowohl im städtischen als auch ländlichen Bereich verbreitet (OxfordBib 27.6.2022).
Die öffentliche Wahrnehmung von Schiiten in Pakistan ist tendenziell besser als in manchen Ländern des Mittleren Ostens und des Maghreb mit mehrheitlich sunnitischer Bevölkerung. Es ist anhand von Umfragen davon auszugehen, dass Sunniten in Pakistan Schiiten überwiegend als Muslime ansehen.Allerdings werden Schiiten von einem nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil - tendenziell Deobandis - und radikal-islamistischen sunnitischen Gruppierungen als Glaubensabtrünnige bzw. Ungläubige erachtet (BAMF 5.2020).
Bewaffnete, konfessionell motivierte Gruppen, wie Lashkar-e-Jhangvi (LeJ), Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP) und der sogenannte Islamische Staat (IS) führen Anschläge durch, die u.a. auf schiitische Muslime zielen (UKHO 7.2022; vgl. USDOS 2.6.2022). Die Opferzahlen extremistischkonfessionell motivierter Anschläge nahmen im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 zu, was eine Trendumkehr zu den Jahren davor darstellt (USDOS 2.6.2022). Das Sicherheitsanalyseinstitut PIPS verzeichnete für das Jahr 2021 zwei terroristische Anschläge auf Schiiten mit insgesamt 13 Toten, 10 davon ethnische Hazara (PIPS 4.1.2022). Am 4.3.2022 gelang es dem IS, einen Großanschlag auf eine schiitische Moschee in Peschawar durchzuführen, der mindestens 56 Menschenleben forderte (AP 5.3.2022). Mit diesem Anschlag verzeichnet PIPS für das gesamte Jahr 2022 zwei Anschläge auf Schiiten mit insgesamt 68 Toten. Gleichzeitig registrierte es auch einen Anschlag auf die sunnitische Gemeinde aus religiösen Gründen mit einem Toten (PIPS 11.1.2023).
Es kommt bei Mitgliedern der schiitischen, allerdings auch der sunnitischen Gemeinde, außerdem zu sozialen Übergriffen und Tötungen durch Unbekannte oder aufgebrachte Menschenmengen, bei denen ein religiöser Hintergrund bzw. Blasphemievorwürfe vermutet wird (USDOS 2.6.2022).
Abgesehen von den Hazara unterscheiden sich die meisten Schiiten weder in physischen Merkmalen noch sprachlich von den Sunniten. Ihre Moscheen, einige Gebetsriten und Bräuche unterscheiden sich jedoch deutlich. In einigen Gebieten filtern militante Extremisten Schiiten anhand ihres Nachnamens heraus, wovon einige eher unter Schiiten verbreitet sind. Am sichtbarsten sind Schiiten in Pakistan während ihrer religiösen Feste, wie den Prozessionen zu Ashura sowie bei ihren Pilgerreisen in den Irak und den Iran. Militante Extremisten zielen daher auch auf Pilgerwege in den Iran, weshalb schiitische Pilgerfahrten in einigen Gebieten vom Militär begleitet werden (UKHO 7.2021; vgl. DFAT 25.1.2022). Im August und September werden die Schutzmaßnahmen quer durch das ganze Land für die Abhaltung der schiitischen MuharramProzessionen erhöht. Allein in Islamabad und Rawalpindi waren für das Jahr 2021 laut Angaben der Behörde dazu unterschiedliche Einheiten in einer Stärke von 19.000 Personen bereitgestellt. Die Reisefreiheit und Aktivitäten von gelisteten Geistlichen unterschiedlicher Sekten, denen Aufwiegelung von konfessionell motivierten Spannungen vorgeworfen wird, werden in diesen Monaten eingeschränkt (USDOS 2.6.2022).
Berichten zufolge verhängten Anti-Terrorismus-Gerichte im Jahr 2020 aufgrund von konfessionell motivierten Anschlägen an Schiiten mehrere Verurteilungen (UKHO 7.2021). Für die schiitischen Hazara haben die Sicherheitskräfte spezielle Schutzmaßnahmen umgesetzt, wie Checkpoints rund um ihre Enklaven in Quetta sowie Sicherheitseskorten für Reisen außerhalb der Enklaven und bei religiösen Prozessionen (UKHO 7.2022). Auf der anderen Seite beklagen Vertreter der Hazara, dass die Sicherheitsmaßnahmen zu einer Gettoisierung ihrer Viertel führen [Anm.: siehe Kap. Hazara] (USDOS 20.3.2023).
Der paschtunische Stamm derTuris war aufgrund der Glaubenszugehörigkeit, der Opposition zu den Taliban sowie wegen Landstreitigkeiten besonderes Ziel von Anschlägen im Kurram Distrikt, allerdings hat sich die Sicherheitslage stark verbessert [Siehe Kapitel Sicherheitslage Khyber Pakhtunkhwa (inkl. Tribal Districts - ehemalige FATA)] (DFAT 25.1.2022).
Zuletzt war das Jahr 2020 vermehrt von Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten gezeichnet (AA 28.9.2021; vgl. UKHO 7.2022). Einige extremistische sunnitische Gruppen gaben in Hassreden, unter anderem in den sozialen Medien, Schiiten wegen deren Pilgerreisen in den Iran die Schuld für den Import von COVID-19 nach Pakistan und nannten es das „Schia-Virus“ (USCIRF 4.2021; vgl. HRCP 2021, UKHO 7.2022). Im Punjab verabschiedete die Provinzversammlung im September 2020 ein Gesetz zum „Schutz der Grundlagen des Islams“, das u.a. zur religiösen Ehrerbietung gegenüber einigen, zwischen sunnitischen und schiitischen Auslegungen umstrittenen, religiösen Figuren verpflichtet (UKHO 7.2021; vgl. DFAT 25.1.2022). Dies führte zu einem Aufruhr unter schiitischen Geistlichen. Der Gouverneur der Provinz verweigerte, öffentlich bestärkt durch den damaligen Premierminister, die Unterzeichnung und verhinderte damit das Inkrafttreten (UKHO 7.2021). Extremistische sunnitische Gruppen führten indes Proteste gegen Schiiten an (USCIRF 4.2021). Im September 2020 kam es schließlich in Karatschi mit mehr als 30.000 Teilnehmern zu der größten Anti-Schia Demonstration in der Geschichte Pakistans sowie zu einem zuvor nicht gekannten Ausmaß an sozialen Übergriffen und Blasphemie-Anzeigen gegen Schiiten (UKHO 7.2021). Allein im August 2020 soll es zu mindestens 40 Blasphemieanzeigen gegen Schiiten gekommen sein (HRCP 2021; vgl. DFAT 25.1.2022). 70 Prozent der Blasphemieanzeigen des Jahres 2020, die auf einen neuen Höchststand von 208 anstiegen, waren gegen Schiiten gerichtet (CSJ 2.2022).
Im Jahr 2021 ging die Zahl der Anzeigen wieder zurück, 45 der Anzeigen richteten sich dabei insgesamt gegen Anhänger der verschiedenen muslimischen Glaubensrichtung (CSJ 2.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2061523/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Mai_2021%29%2C_28.09.2021 .pdf, Zugriff 19.1.2023 AP - Associated Press (5.3.2022): IS claims Pakistan bombing that kills 56 at Shiite mosque, https://apnews.com/article/religion-pakistan-peshawar-109011e6b4ae01ec3e759c549e9e8327, Zugriff 6.3.2023 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.2020): Länderreport 24 Pakistan, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laenderreporte/2020/laenderreport-24-pakistan.pdf?__blob=publicationFile v=3, Zugriff 11.2.2023 CSJ - Commission on Social Justice (2.2022): Human Rights Observer 2022, http://csjpak.org/pdf /HR_Observer_2022.pdf, Zugriff 22.2.2023 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.2.2023 EB - Encyclopaedia Britannica (29.3.2023): Pakistan, Religion, https://www.britannica.com/place /Pakistan/Religion, Zugriff 29.3.2023 HRCP - Human Rights Commission Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http://hrcp-w eb.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_removed. pdf, Zugriff 6.12.2022 ICG - International Crisis Group (5.9.2022): A New Era of Sectarian Violence in Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078682/327+Pakista n+-+Sectarian+Violence+-+Print.pdf, Zugriff 22.3.2023 OF - Observer Research Foundation / Sushant Sareen (9.2021): Tehrik-E-Labbaik Pakistan The New Face of Barelvi Activism, ORF Occasional Paper No. 332, https://www.orfonline.org/research/tehrik-e-labbaik-pakistan-the-new-face-of-barelvi-activism/, Zugriff 11.2.2023 OxfordBib - Oxford Bibliographies/ Simon Fuchs (27.6.2022): Twelver Shiʿism in Pakistan, https: //www.oxfordbibliographies.com/display/document/obo-9780195390155/obo-9780195390155-0 295.xml, Zugriff 5.4.2023 PBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (o.D.): Population and Housing Census 2017 Report, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/census_reports/ncr_pakistan.pdf, Zugriff 31.3.2023 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (11.1.2023): Pakistan Security Report 2022, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Safdar_ASR-22-reviewed.pdf, Zugriff 20.1.2023 PIPS - Pak Institute of Peace Studies (4.1.2022): Pakistan Security Report 2021, http://pakpips.com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Sr2021FinalWithTitles.pdf, Zugriff 20.1.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (7.2022): Country Policy and Information Note Pakistan: Hazaras https://www.ecoi.net/en/file/local/2076103/Country_policy_and_information_note_Hazar as__Pakistan__July_2022.pdf, Zugriff 28.3.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (7.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Shia Muslims, https://www.ecoi.net/en/file/local/2055925/Pakistan-Shia_Muslims-CPIN-v3.0_July _2021_.pdf, Zugriff 3.3.2023 USCIRF - US Commission on Religious Freedom [USA] (4.2021): 2021 Annual Report, USCIRF Recommended for Countries of Particular Concern (CPC): Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/l ocal/2052981/Pakistan+Chapter+AR2021.pdf, Zugriff am 5.2.2023 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023 USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2073961.html, Zugriff 20.7.2022
Ahmadis
Beim letzten Zensus von 2017 registrierten sich aufgerundet 192.000 Menschen als Ahmadis. Offiziell machen Ahmadis damit 0,09 Prozent der pakistanischen Bevölkerung aus (PBS o.D.). Quellen zufolge boykottierten viele Ahmadis den Zensus, da sie sich nicht als Muslime registrieren lassen durften. Außerdem wird berichtet, dass sich viele Ahmadis öffentlich nicht als solche zu erkennen geben aus Sorge vor Repressalien (UKHO 9.2021). Es gibt somit keine verlässlichen Statistiken zur Anzahl der Ahmadis in Pakistan. Die Schätzungen über die Anzahl der Anhänger der Ahmadiya Muslim Jamaat, der Hauptströmung dieses Glaubens, reichen von 500.000 bis 5 Millionen Mitglieder. Die Mitgliederzahl der kleineren Lahore-Gruppe [Anmerkung: Ahmadiya Anjuman Ischaʽat-i-Islam Lahore] wird auf rund 5.000 bis 10.000 Anhänger geschätzt. Das Zentrum der Ahmadis in Pakistan befindet sich in Rabwah, offiziell Chenab Nagar benannt. Ungefähr 90 bis 95 Prozent der Einwohner der Stadt, circa 60.000 bis 70.000 Menschen, sind Ahmadis. Weitere Siedlungszentren der Ahmadis befinden sich in Sialkot, Quetta, Multan, Rawalpindi, Karatschi, Lahore und Faisalabad, sowie weiters Peschawar, Khewra, Sarghoda, Bhalwal, Shahpur und Gujaranwala (UKHO 9.2021; vgl. AA 8.8.2022).
Die Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft wird von Gesetzes wegen in Pakistan nicht als muslimisch anerkannt. Dies wurde Verfassungsgrundsatz durch die Änderung der Verfassung 1974. Den Ahmadis wird zwar vom Gesetz der Status einer religiösen Minderheit eingeräumt, gleichzeitig ist es ihnen aber ausdrücklich und unter Strafandrohung verboten, sich als Muslime zu bezeichnen oder sich wie Muslime zu verhalten (AA 8.8.2022; vgl. HRW 13.1.2022). Dieses Verbot ist seit 1984 im Pakistanischen Strafgesetzbuch (§ 298b und 298c PPC) niedergelegt und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren sanktioniert. Dieser Abschnitt des Strafgesetzes wird gemeinhin auch „Anti-Ahmadiyya Gesetze“ genannt. Damit ist es für Ahmadis unter anderem auch strafbar, ihren Glauben als Islam und ihre Gebetshäuser als Moscheen zu bezeichnen, die traditionellen islamischen Grußformeln und den traditionellen muslimischen Aufruf zum Gebet zu benutzen oder öffentlich aus dem Koran zu zitieren. Kernelemente ihrer Glaubensausübung sind somit kriminalisiert. An sich ist der Besitz von Ahmadi Literatur nicht verboten, jedoch der Verkauf und die Veröffentlichung (UKHO 9.2021; vgl. USCIRF 8.2022). Außerdem gibt es Berichte, wonach die Sicherheitsbehörden fallweise das Anti-Terror-Gesetz verwenden, um Ahmadi-Literatur als Hassschriften zu kriminalisieren. Bei einem Vorgehen nach diesem Gesetz sind auch die Rechte der Beschuldigten eingeschränkt (UKHO 9.2021).
Das Gesetz verlangt von gewählten muslimischen Volksvertretern einen Schwur, der bekräftigt, dass Mohammed der letzte Prophet des Islams ist. Da Ahmadis an weitere Propheten nach Mohammed glauben, verwehrt ihnen dieses Gesetz die Bekleidung dieser Ämter (USDOS 2.6.2022). Da sie sich gleichzeitig selbst als Muslime verstehen, kandidieren sie nicht für die Listenplätze der Parteien für nicht-muslimische Minderheiten und sind somit nicht im Parlament vertreten (AA 8.8.2022).
Im Reisepass wird die Religionszugehörigkeit durch die National Database and Registration Authority (NADRA) angegeben (USDOS 2.6.2022). Hingegen ist sie im Personalausweis (Computerized National Identity Card / CNIC) nicht angegeben (USDOS 12.5.2021). Allerdings muss auch bei Beantragung der CNIC die eigene Religion registriert werden. Alle Personen, die sich als Muslime verzeichnen lassen wollen, müssen eine Deklaration unterschreiben, in der sie auf den Glauben schwören, dass Mohammed der letzte Prophet ist, sie den Gründer der Ahmadiyya-Religion als falschen Propheten verurteilen und Ahmadis als Nicht-Muslime bezeichnen (USDOS 2.6.2022). Es wird als Religionszugehörigkeit „Ahmadi“ im Pass angegeben, wenn der Antragsteller sich weigert, den Schwur zu unterzeichnen (USDOS 20.3.2023). Registrieren sie sich hingegen als Ahmadis müssen sie einen Schwur unterzeichnen, dass sie nicht Muslime sind (UKHO 9.2021). Der Personalausweis ist für alle Staatsbürger über 18 verpflichtend und wird unter anderem für Wahlen und Pensionsauszahlungen benötigt. Derselbe Vorgang ist für die Zulassung an einem College oder einer Universität notwendig. Viele Ahmadis boykottieren Wahlen (USDOS 2.6.2022). Zum einen aus Protest, da dieser Vorgang notwendig ist, um wählen zu können (USDOS 12.5.2021). Zum anderen aus Furcht vor Bedrohungen, da Personen, die sich als Ahmadis registrieren, auf einer eigenen Wählerliste geführt werden (USDOS 2.6.2022). Viele Ahmadis unterzeichnen aber auch aus Sorge vor Benachteiligungen im Beruf den Schwur um als Muslime eingetragen zu werden. Ebenso gibt es Berichte von Fällen, wo die Erklärung nicht abgegeben wurde und trotzdem ein Pass ausgestellt worden ist. Auf älteren Pässen ist die Religionszugehörigkeit nicht angegeben (UKHO 9.2021). Ahmadis treffen außerdem auf Schwierigkeiten bei der behördlichen Registrierung ihrer Ehen, da sie diese nicht als Muslime registrieren lassen dürfen (USDOS 2.6.2022).
Mitglieder der Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft sind ein Hauptziel der Strafverfolgungen nach den Blasphemiegesetzen (HRW 12.1.2023). In der Regel bringen islamistische Gruppierungen Strafverfahren gegen Ahmadis in Gang. Die Blasphemie-Gesetzgebung wird benutzt, um die Angehörigen der Ahmadi-Minderheit aus den verschiedensten Motiven unter Druck zu setzen, die nur zum Teil einen religiösen Hintergrund haben. Oft geht es um Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Geschäftsleuten und Auseinandersetzungen um Grundbesitz. Es besteht außerdem immer die Gefahr, dass ein gegen Ahmadis gerichtetes Verfahren um den Vorwurf der Blasphemie erweitert wird (AA8.8.2022). BeiAhmadis kommt die Strafverfolgung durch die oben erläuterten „Anti-Ahmadiyya Gesetze“ hinzu. Militante Gruppen und die islamistische politische Partei Tehreek-e-Labbaik (TLP) beschuldigen dabei Ahmadis, sich „als Muslime auszugeben“, was ein Vergehen nach dem Strafgesetz ist (HRW 12.1.2023).
Von den mindestens 84 Blasphemie-Anzeigen des Jahres 2021 betrafen laut der NGO Commission on Social Justice (CSJ) 25 Ahmadis. Insgesamt betrafen 33 Prozent der seit Beginn der strengen Anwendung der Blasphemiegesetze im Jahr 1987 bis inklusive 2021 von der CSJ registrierten 1.949 Blasphemieanzeigen Ahmadis (CSJ 2.2022). Von 2019 bis einschließlich 2021 waren laut Berichten der Ahmadis 61 Ahmadis von Anklagen im Rahmen der Blasphemie-Gesetze betroffen (USDOS 2.6.2022). Laut Eigenangaben wurden allein 2021 über 100 Anzeigen gegen sie aus verschiedenen religiösen Gründen erstattet, darunter Vorwürfe wie Blasphemie, „sich als Muslime ausgeben“ oder das Predigen ihres Glaubens (HRCP 2022). Ebenfalls nach Eigenangaben der Ahmadiyya befinden sich mit Stand 31. März 2022 sieben Ahmadis aus religiösen Gründen in Haft (AA 8.8.2022).
Die korrekten Vorgehensweisen und Beweisstandards werden in Blasphemiefällen sowohl von Polizei als auch erstinstanzlichen Gerichten nicht durchgängig eingehalten (UKHO 9.2021). In der Berufungsinstanz wird der Strafvorwurf häufig abgeändert, sodass die für Blasphemie vorgesehene Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe (die auf 25 Jahre begrenzt ist) umgewandelt wird (AA 8.8.2022). Blasphemie-Vorwürfe werden jedoch immer wieder auch zum Anlass oder Vorwand für Mob-Gewalt oder Mordanschläge genommen (AA 8.8.2022; vgl. FH 2022). Von den insgesamt mindestens 84 Personen, die seit 1987 laut den Aufzeichnungen von CSJ nach Vorwürfen der Blasphemie oder Apostasie getötet wurden, waren 14 Ahmadis (CSJ 2.2022).
Diese Gesetze tragen auch zur gesellschaftlichen Diskriminierung der Ahmadis in Pakistan bei, die häufig auch von staatlichen Vertretern unterstützt wird (USCIRF 8.2022). Eine objektiv meinungsbildende Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft kommt im öffentlichen Diskurs nicht vor. Vielmehr wird eine gegen Ahmadis gerichtete Rhetorik in sozialen und Printmedien, bei Versammlungen oder Freitagsgebeten sowie im Alltag auf Plakaten verbreitet (BAMF 5.2020; vgl. USCIRF 8.2022). Außerdem werden wirtschaftliche Ausgrenzungskampagnen von einigen muslimischen Klerikern forciert, die dazu aufrufen, Geschäfte von Ahmadis zu boykottieren (UKHO 9.2021; vgl. USCIRF 8.2022). Ahmadis berichten von weitverbreiteten sozialen Belästigungen und Diskriminierungen, darunter auch physischen Angriffen, Zerstörung von Häusern oder Drohungen mit dem Ziel, den Arbeitsplatz oder den Wohnort zu verlassen. Laut NGOs schränkt die Regierung Werbung oder Ansprachen, die zu Gewalt gegen Ahmadis aufrufen, nicht ein (US-DOS 2.6.2022). Oft benutzen fanatische Kleriker, Politiker oder Parteien die Blasphemie- oder Anti-Ahmadiyya-Gesetze als Ausgangspunkt für Demonstrationen. In Ansprachen wird dabei auch zu Gewalt aufgestachelt (USCIRF 8.2022).
Im Jahr 2020 kam es zu einer merkbaren Zunahme an rhetorischen Entgleisungen - bis hin zu Mordaufrufen - gegenüber Anhängern der Ahmadiyya, auch von hochrangigen Regierungsmitgliedern (AA 28.9.2021). So war unter anderem der Beschluss Ahmadis aus der Nationalen Kommission für Minderheiten auszunehmen von einer Welle an Hassreden gegen Ahmadis begleitet. Die Provinzversammlung des Punjabs verabschiedete eine Resolution, die verlangte, dass Ahmadis erst in eine solche Kommission aufgenommen werden sollten, wenn ihre Führer öffentlich erklärten, dass sie keine Muslime seien. Mehrere hochrangige [damalige] Regierungsmitglieder forderten öffentlich dasselbe (USDOS 12.5.2021). Auch das gesamte Jahr 2021 über hielten islamische Organisationen weiterhin gegen Ahmadis gerichtete Versammlungen und Protestzüge ab (USDOS 2.6.2022).
Seit Jahrzehnten kommt es in Pakistan immer wieder zu Ausschreitungen gegen Mitglieder der Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft und Schändungen ihrer religiösen Stätten und Friedhöfe (AA 8.8.2022). Für das Jahr 2021 berichten Ahmadis, dass 15 Gebetsstätten und 121 Gräber durch Mobs entweiht wurden, in einigen Fällen auch unter Mitwirkung der Behörden (USCIRF 4.2022; vgl. AI 29.3.2022, BAMF 5.7.2021). Für das erste Halbjahr 2022 berichten Vertreter der Ahmadis von der Beschädigung von zwei Gebetshäusern und 170 Gräbern (USCIRF 8.2022). Die Polizei ist im Allgemeinen zögerlich beim Schutz der Ahmadis. Es gibt Berichte über Vorfälle, wo die lokale Polizei in falsche Anklagen gegen Ahmadis, in die Entfernung islamischer Symbole oder die Konfiszierung von Ahmadi Glaubensstätten involviert war. Außerdem zögern Ahmadis oft, Vorfälle der Polizei zu melden, aus Angst vor einer Anzeige aufgrund der Anti-Ahmadi- oder Blasphemiegesetze (UKHO 9.2021). Ahmadis werden außerdem Opfer von radikal-sunnitischem Terrorismus (AA 8.8.2022).
Laut der NGO HRCP wurden 2021 drei Angehörige der Ahmadiyya gezielt getötet, Berichten zufolge aus religiösen Gründen (HRCP 2022). Im ersten Halbjahr 2022 wurde von einem Ahmadi als Opfer einer gezielten Tötung berichtet (USCIRF 8.2022). Im August 2022 wurde in Rabwah im Zuge einer Anfeindung ein weiterer Ahmadi getötet (Reuters 12.8.2022). Allgemein kommt es nach Erkenntnissen des Deutschen Auswärtigen Amts allerdings in Rabwah nur selten zu schweren Gewalttaten gegen Mitglieder der Ahmadiyya (AA 8.8.2022). Das Sicherheitsanalyseinstitut PIPS verzeichnet ebenfalls zwei religiös motivierte Morde an Ahamdis für das Jahr 2022 sowie einen Toten, der selbst kein Ahmadi war, doch bei einem Schussattentat auf die Arztpraxis eines Ahmadis getötet wurde (PIPS 11.1.2023). Im Jahr 2023 wurde im Februar ein Mord an einem Ahmadi berichtet (AAJ 20.2.2023).
Jede lokale Ahmadi-Gemeinschaft führt eine Liste ihrer Mitglieder (UKHO 9.2021). Es ist möglich und kommt gelegentlich vor, dass ein Nicht-Ahmadi-Muslim Ahmadi-Muslim wird. Es gibt keine besondere Zeremonie, die mit dem Übertritt in die Ahmadi-Gemeinschaft verbunden ist, aber ein Verfahren. Dabei erhält die Person ein Baiat-Formular (Initiationsformular), das zur Genehmigung die Hierarchie der Führung der Ahmadiyya durchläuft. Da die pakistanischen Gesetze Konversionen behindern, ist es nicht mehr möglich, das Verfahren in Pakistan akribisch zu befolgen (VB 3.10.2020).
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Christen
Laut der letzten Volkszählung von 2017 stellen Christen in Pakistan mit offiziell circa 2,1 Millionen Gläubigen 1,27 Prozent der Bevölkerung (PBS o.D.). Vertreter der Minderheitenreligionen argumentieren jedoch, ihre jeweilige Anzahl wäre höher, als sie der Zensus ausweise (USDOS 2.6.2022). UK Home Office geht von einer Schätzung der christlichen Bevölkerung Pakistans auf 1,59 Prozent, also ca. 3,7 Millionen Menschen aus. Die Provinz Punjab beherbergt den größten Anteil an Christen, wobei die Mehrheit von ihnen, ungefähr 2 Millionen Gläubige, in und um Lahore lebt. Außerdem gibt es im Punjab größere Gemeinden in den Städten Sialkot, Faisalbad, Rawalpindi sowie mehrere Dörfer, die christlich sind. Karatschi, im Sindh beheimatet ebenfalls größere christliche Gemeinden (UKHO 2.2021). Ebenso finden sich in Islamabad und Khyber Pakhtunkhwa größere christliche Populationen (DFAT 25.1.2022). Etwa 60 Prozent der Christen Pakistans sind Katholiken, 40 Prozent gehören protestantische Konfessionen an (AA 8.8.2022; vgl. ACCORD 3.2021). Die katholische Kirche Pakistans ist in sieben Diözesen organisiert, darunter zwei Erzdiözesen. Der größte Zusammenschluss evangelischer Kirchen, die „Church of Pakistan“, organisiert sich in acht Diözesen (UKHO 2.2021).
Christen haben im allgemeinen Zugang zu ihren Gebetsstätten. Religiöse Symbole werden offen zur Schau gestellt und Bibeln und andere christliche Literatur werden in christlichen Buchhandlungen verkauft. Christliche Feste werden offiziell anerkannt und gefeiert. Christen haben ihre eigenen Gesetze bezüglich Ehe und Scheidung, diese stammen allerdings aus dem Jahr 1872 bzw. 1869, eine Neufassung befindet sich im Gesetzgebungsweg (UKHO 2.2021; vgl. USDOS 2.6.2022). Christen treffen aufgrund der mangelhaften rechtlichen Vorgaben auf Schwierigkeiten, ihre Ehe behördlich registrieren zu lassen (USDOS 2.6.2022).
Es gibt keine Gesetze, die Christen diskriminieren, wenngleich eine umfassende Anti-Diskriminierungsgesetzgebung fehlt. Einige der von der Verfassung festgelegten, für Minderheiten unter anderem in der Nationalversammlung und in den Provinzregierungen reservierten Sitze sind mit Christen besetzt. Der Großteil der Minderheitenquote für Anstellungen im öffentlichen Dienst wird durch Christen erfüllt, wobei vieles davon allerdings gering angesehene Tätigkeiten wie Reinigungsarbeiten und Müllabfuhr sind (UKHO 2.2021; vgl. ACCORD 3.2021). Christen sind in der Nationalen Kommission für Minderheiten vertreten (AA 8.8.2022).
Die christliche Minderheit wird somit weniger durch staatliche Gesetze, als durch das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert. Diskriminierung im wirtschaftlichen Bereich, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt ist weit verbreitet (AA 8.8.2022). Die gesellschaftliche Diskriminierung ist signifikant. Christen gehören zu den wirtschaftlich schwächsten Gruppen, viele leben in Slums. Für einige gelten sie als Nachfahren konvertierter „unberührbarer“ Kasten auch heute noch als „unrein“, „chura“ (DFAT 25.1.2022). Während die Mehrzahl der pakistanischen Christen aus der Armut nicht herauskommt, verlässt die kleine christliche Oberschicht oft das Land. Es gibt so gut wie keine christliche Mittelschicht, dafür eine breite Unterschicht, die sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt. Es gibt auch kleine Grundbesitzer, die häufig in rein oder überwiegend christlichen Siedlungen leben. Auf dem Lande befindet sich allerdings die Mehrzahl der Christen als einfache Pächter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Großgrundbesitzern. Viele Christen leben in Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft (AA 8.8.2022).
Die christliche Minderheit ist dabei auch Opfer religiös motivierter sowie radikalislamischer Gewalt. Der Staat kommt seiner Schutzpflicht nicht ausreichend nach (AA 8.8.2022). Im Berichtszeitraum 2020 gab es kleinere Attacken gegen Kirchen und Friedhöfe (AA 28.9.2021). Auch im Jahr 2021 wurden Mitglieder der christlichen Minderheit, wie anderer religiöser Minderheiten, Opfer von Übergriffen durch Einzelpersonen oder Mobs, die religiös motiviert gewesen sein dürften. Im Mai 2021 griff z.B. ein Mob von ungefähr 200 Menschen nach einem Disput eine christliche Gemeinschaft, ihre Häuser und die Kirche an (USDOS 2.6.2022).
Es kommt außerdem vereinzelt zu Fällen von Totschlag an Christen aufgrund ihrer Zuschreibung als „unrein“, z.B. bei Streitigkeiten über die Verwendung von Brunnen oder Wasserstellen (DFAT 25.1.2022; vgl. CLAAS 23.11.2021). Christen werden auch oft als „Verlängerung des Westen“ gesehen und Handlungen westlicher Staaten, die als anti-muslimische gesehen werden, können ebenfalls zu Gewalt gegen Einrichtungen der christlichen Minderheit führen (CLJ 2020).
Aufgrund von Terroranschlägen wurden die Sicherheitsmaßnahmen für christliche Kirchen, Gebetsstätten und Bildungseinrichtungen vor religiösen Festen durch die Polizei stark erhöht. Die christlichen Gemeinden treffen auch eigene Sicherheitsvorkehrungen für ihre Kirchen. Der letzte große Anschlag gegen Christen fand zu den Osterfeierlichkeiten im Jahr 2016 statt und forderte mindestens 75 Todesopfer. In den Jahren 2017 und 2018 waren einige Todesopfer bei Anschlägen gegen Kirchen zu beklagen. In den Jahren 2019 und 2020 gab es keine Berichte über gegen Christen gerichtete terroristische Anschläge (UKHO 2.2021). Auch 2021 gab es keine Anschläge gegen Christen (PIPS 4.1.2022). Im Allgemeinen ist in den letzten Jahren die Zahl der Terroranschläge gegen Minderheiten zurückgegangen. Die Regierung hat auch Schritte unternommen, um Terrorismus zu bekämpfen und die Möglichkeiten von Terrorgruppen einzuschränken. Die Anti-Terror-Gerichte verurteilten zahlreiche Attentäter, auch solche, deren Anschläge sich gegen Christen richteten (UKHO 2.2021).
Im Jänner 2022 wurde jedoch ein christlicher Priester Opfer einer gezielten Tötung (USCIRF 8.2022; vgl. PIPS 11.1.2023). Allerdings bekannte sich keine Terrorgruppe zu dem Schussattentat. Im August 2022 schossen Militante des Islamic State Khorasan (IS-K) auf Angehörige der christlichen Gemeinschaft von Mastung, Belutschistan, wobei ebenfalls eine Person starb (PIPS 11.1.2023).
Christen werden außerdem überdurchschnittlich oft Opfer von Blasphemievorwürfen (AA 8.8.2022). Die Blasphemiegesetze, die schwere Strafen nach sich ziehen, gelten für alle religiösen Gruppen, werden allerdings unverhältnismäßig oft gegen religiöse Minderheiten, einschließlich Christen, eingesetzt. Der bloße Vorwurf von Blasphemie gegen einen Christen kann Gewaltakte gegen diese Person, aber auch kommunale Gewaltakte gegen christliche Gemeinden und Wohnviertel auslösen. In einigen Fällen griff die Polizei bei solchen Gewaltakten gegen Christen nach Blasphemievorwürfen schützend ein (UKHO 2.2021).
Von den insgesamt seit Beginn der konsequenten Anwendung der Blasphemiegesetze im Jahr 1987 bis inklusive 2021 von der NGO Commission on Social Justice (CSJ) registrierten 1.949 Blasphemieanzeigen betrafen 14,4 Prozent Christen. Für das Jahr 2021 registrierte CSJ sieben gegen Christen gerichtete Blasphemieanzeigen, das sind etwas mehr als 8 Prozent der Gesamtzahl an 84 neuen Fällen dieses Jahres. Die tatsächliche Zahl an Anzeigen dürften laut ihrer Einschätzung höher sein (CSJ 2.2022). Insgesamt befanden sich Berichten zufolge im Jahr 2020 30 Christen aufgrund von Vorwürfen der Blasphemie in Haft, davon sieben im Todestrakt (USCIRF 4.2021). Zwischen 2001 und 2019 gab es insgesamt 16 Verurteilungen von Christen aufgrund von Blasphemie. Eine Erhebung im Jahr 2015 zeigte, dass 80 Prozent der Blasphemieanklagen in Freisprüchen mündeten. Doch Freisprüche erfolgen oft erst, nachdem der Angeklagte bereits Jahre im Gefängnis verbracht hat (UKHO 2.2021). Außerdem wurden seit 1987 laut den Aufzeichnungen von CSJ mindestens 23 Christen nach Vorwürfen der Blasphemie durch aufgebrachte Bürger getötet (CSJ 2.2022).
Es gibt Fälle von Entführung, Vergewaltigung, Zwangskonvertierung zum Islam mit Zwangsverheiratung christlicher Frauen und Mädchen (UKHO 2.2021; vgl. CSJ 2.2022, HRCP 2021, USCIRF 8.2022). Mehrere Hundert Fälle von Entführungen an Mädchen und Frauen soll es pro Jahr geben, Minderheiten sind davon besonders betroffen (DFAT 25.1.2022). Sie werden aufgrund ihrer Minderheitenzugehörigkeit als schutzlos gesehen. NGOs berichten außerdem von einer Zunahme an Fällen (USDOS 2.6.2022). Eine christliche NGO schätzt die Zahl der entführten christlichen Frauen und Mädchen auf 100 pro Jahr (AA 8.8.2022). Für das Jahr 2019 dokumentierte die christliche Hilfsorganisation Centre for Legal Aid Assistance Settlement (CLAAS) 106 Fälle von Zwangsehen mit Muslimen inklusive Zwangskonversionen von Hinduistinnen und Christinnen, etwas über 80 Prozent von diesen waren unter 18 Jahren. Viele Fälle werden allerdings nicht gemeldet z.B. aufgrund der enormen sozialen Unterschiede und Abhängigkeiten in den ländlichen Gebieten, wo Christen oft in Schuldknechtschaft arbeiten (CLAAS 23.11.2021). Die NGO CSJ sammelte im Jahr 2021 38 Fälle von Zwangskonversionen an christlichen Frauen und Mädchen, der überwiegende Anteil war minderjährig, ein großer Teil auch unter 14 Jahren (CSJ 2.2022). Die Zahlen zu Zwangskonversionen und Zwangsehen sind umstritten. Gerichte gehen angezeigten Fällen von Zwangsehen nach. In vielen Fällen ist es vor Gericht jedoch schwierig, festzustellen, ob die Frauen zur Ehe gezwungen wurden und aus Angst dies verneinen, oder ob sie aus freiem Willen die Ehe gegen den Willen ihrer Familien schlossen (UKHO 2.2021; vgl. CLAAS 23.11.2021).
Freiwillige Eheschließungen zwischen den Religionen kommen vor, allerdings nicht häufig. Im Normalfall heiraten die Angehörigen der Religionsgruppen innerhalb ihrer eigenen Religion, das ist auch ein Anliegen der Familien. Eine Eheschließung zwischen einem muslimischen Mann und einer christlichen Frau stellt grundsätzlich kein Problem dar, die Frauen werden laut der christlichen NGO CLAAS akzeptiert. Allerdings ist davon auszugehen, dass mit der Zeit erwartet wird, dass sie den Regeln des Islams folgen bzw. konvertieren und in Fällen einer Weigerung oder Scheidung dies oft als Beleidigung des Islams oder der Ehre gesehen wird, was Gewalttaten zur Folge haben kann. Eine Eheschließung einer muslimischen Frau mit einem christlichen Mann wird von der Familie der muslimischen Frau nicht akzeptiert, als Verletzung der Ehre gesehen und kann dementsprechend, laut CLAAS Ehrverbrechen zur Folge haben (CLAAS 23.11.2021).
Die christliche NGO CLAAS bietet rechtliche Vertretung für Minderheiten, in erster Linie Christen, bei Blasphemiefällen, Zwangskonversionen, Zwangsehen oder für Opfer von Gewalttaten zur Sicherstellung ihrer Rechte sowie soziale Unterstützung für Christen in Notlagen. Sie unterhält u.a. ein Frauenhaus „Apna Ghar“ sowie ein Safe House für christliche Paare und Familien, die gefährdet sind, z.B. aufgrund einer interreligiösen Heirat oder einer Konversion (CLAAS o.D.). Auch die christliche NGO National Commission for Justice and Peace (NCJP) arbeitet im Bereich der Rechtshilfe für Christen (NCJP o.D.).
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Hindus
Nach der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2017 sind 1,73 Prozent der Einwohner Pakistans Hindus, wobei ihr höchster Bevölkerungsanteil mit 6,99 Prozent im Sindh liegt. In den anderen Provinzen sowie im Hauptstadtterritorium Islamabad machen sie jeweils unter 0,5 Prozent der Bevölkerung aus (PBS o.D.b). Die Gesamtzahl aller Hindus in Pakistan beträgt damit offiziell gerundet 3,6 Millionen, davon leben im Sindh gerundet 3,4 Millionen (PBS o.D.c). Sie leben überwiegend in städtischen Gebieten, wie Karatschi, Hyderabad, Sukkur und Mirpur Khas (PBS o.D.).
Die NGO Pakistan Hindu Council zählt für Karatschi 30 hinduistische Tempel auf, bis zu jeweils elf in weiteren Städten des Sindh, für die Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Punjab jeweils 15, für Belutschistan zwei und im Hauptstadtterritorium Islamabad einen (PHC o.D.a). Im Allgemeinen können Hindus ihre Religion frei ausüben, ihre Glaubenstätten errichten und sind aufgrund ihrer Religion auch nicht mit Hürden im Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, Bildung oder Sozialleistungen konfrontiert. Reiche Hindus der höheren Kasten sind mit relativ wenig gesellschaftlicher Diskriminierung konfrontiert (DFAT 25.1.2022). Größtenteils gehören Hindus allerdings wirtschaftlich besonders unterprivilegierten Gruppen an. Viele Hindus leben in der südlichen Provinz Sindh in schuldknechtschaftlichenArbeitsbeziehungen zu ihren jeweiligen Großgrundbesitzern. Sie erhalten wenig Aufmerksamkeit seitens offizieller Stellen (AA 8.8.2022). Die unteren Kasten treffen auf dieselben gesellschaftlichen Herausforderungen wie Christen. Viele arbeiten als Reinigungskräfte, in der Müllbeseitigung oder in Steinbrüchen und werden von einigen aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit als „unrein“ oder „unberührbar“ erachtet (DFAT 25.1.2022). Die Marginalisierung dieser Gruppe zeigte sich auch bei den mangelhaften staatlichen Unterstützungsleistungen nach den schweren Überschwemmungen im Sindh im August/September 2020 (AA 8.8.2022). Der Pakistan Hindu Council bietet im Sindh einige soziale Hilfsleistungen wie Ambulanzen, Schulen und finanzielle Unterstützung an (PHC o.D.b). Auch bei der Flutkatastrophe vom August 2022 unterstützte er marginalisierte Bevölkerungsschichten (PHC o.D.c).
Hindus sind zwar keiner systematischen Verfolgung von staatlicher Seite ausgesetzt, finden aber in ländlichen Regionen, wo Großgrundbesitzer einer Strafverfolgung entgehen können, nur begrenzten staatlichen Schutz (AA 8.8.2022). Außerdem werden hinduistische Händler gelegentlich Opfer von Entführungen zur Lösegelderpressung durch kriminelle oder auch militante Gruppen (DFAT 25.1.2022). Zudem sind Hindus vom Missbrauch von Blasphemieanzeigen betroffen. Von den 208 vom Center for Social Justice registrierten Blasphemieanzeigen des Jahres 2020 betraf ein Prozent Hindus, von den 84 des Jahres 2021 waren es 8,33 Prozent. Von der Gesamtzahl der seit Beginn der konsequenten Anwendung der Blasphemiegesetze im Jahr 1987 bis inklusive 2021 registrierten 1.949 Anzeigen betrafen 2,15 Prozent Hindus (CSJ 2.2022). Im Jahr 2021 wurden nach Blasphemievorwürfen in zwei Fällen hinduistische Tempel durch randalierende Menschenmengen verwüstet (PIPS 4.1.2022; vgl. DFAT 25.1.2022). USCIRF zählt für das Jahr 2021 den Mord an einem hinduistischen Journalisten als religiös motiviert auf (USCIRF 4.2022). Im Jahr 2022 registrierte das Sicherheitsanalyse Institut PIPS einen religiös motivierten Gewaltakt gegen die Hindu Gemeinschaft, indem ein Tempel von Vandalen verwüstet wurde (PIPS 11.1.2023).
Hindu Mädchen werden überdurchschnittlich häufig Opfer von Zwangsehen und einhergehender Zwangskonversionen, v.a. im ländlichen Sindh und südlichen Punjab (AA 8.8.2022; vgl. HRCP 2022, DFAT 25.1.2022). Entführungen von Mädchen für Zwangsehen sollen mehrere Hundert Fälle pro Jahr ausmachen, religiöse Minderheiten sind dabei ein besonderes Ziel (DFAT 25.1.2022). Für das Jahr 2019 sammelte die christliche Hilfsorganisation CLAAS 106 Fälle von Zwangsehen von Hinduistinnen und Christinnen mit Muslimen inklusive Zwangskonversionen, etwas über 80 Prozent von diesen waren unter 18 Jahren (CLAAS 23.11.2021). Für das Jahr 2021 sammelte die NGO Commission on Social Justice 39 Berichte von Zwangskonversionen an hinduistischen Frauen und Mädchen, der überwiegende Anteil war minderjährig, ein großer Teil auch unter 14 Jahren (CSJ 2.2022).
Der Hindu Marriage Act kodifiziert die rechtlichen Mechanismen für die Ehe zwischen Hindus und deren Registrierung, u.a. zur Dokumentation der Legitimität einer Ehe, einer Scheidung oder der Erbberechtigung und ermöglicht es, eine Ehe für ungültig zu erklären, wenn sie unter Zwang oder Betrug herbeigeführt wurde (USDOS 2.6.2022). Unter anderem soll er auch Zwangsehen und -konversionen entgegenwirken (DFAT 25.1.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 CLAAS - Centre for Legal Aid Assistance Settlement (23.11.2021): Annual Report 2020, https://claasfamily.com/annual%20reports/CLAAS%20Annual%20Rerport%202020-2019-Web.pdf, Zugriff 12.2.2022 CSJ - Commission on Social Justice (2.2022): Human Rights Observer 2022, http://csjpak.org/pdf /HR_Observer_2022.pdf, Zugriff 22.2.2022 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.2.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 PBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (o.D.): Population and Housing Census 2017 Report, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/census_reports/ncr_pakistan.pdf, Zugriff 16.11.2022 PBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (o.D.b): Salient Features Of Final Results Census2017, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/2017/sailent_feature_census_2017.pdf, Zugriff 18.11.2022 PBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (o.D.c): Final Results of Census-2017, Table 9 Population By Sex, Religion And Rural/Urban, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/populatio n/2017/tables/pakistan/Table09n.pdf, Zugriff 16.11.2022 PHC - Pakistan Hindu Council (o.D.a): Temples in Pakistan, https://pakistanhinducouncil.org.pk/hi nduism/temples-in-pakistan/, Zugriff 16.11.2022 PHC - Pakistan Hindu Council (o.D.b): Causes, https://pakistanhinducouncil.org.pk/causes/, Zugriff 16.11.2022 PHC - Pakistan Hindu Council (o.D.c): PHC Flood Relief Drive, https://pakistanhinducouncil.org.p k/phc-flood-relief-drive/, Zugriff 16.11.2022 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (11.1.2023): Pakistan Security Report 2022,https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Safdar_ASR-22-reviewed.pdf, Zugriff 20.1.2023 PIPS - Pak Institute of Peace Studies (4.1.2022): Pakistan Security Report 2021, http://pakpips.com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Sr2021FinalWithTitles.pdf, Zugriff 20.11.2022 USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2022): 2022 Annual report on religious freedom (covering 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2071907/2 022+Pakistan.pdf, Zugriff 24.11.2022 USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2073961.html, Zugriff 20.7.2022
Konversion und Apostasie
Die Rechtsordnung schränkt nicht die Freiheit ein, die Religion zu wechseln. Es gibt in Pakistan keine strafrechtliche Bestimmung in Bezug aufApostasie - denAbfall vom Islam. Die Gesellschaft akzeptiert Apostasie aber in keiner Weise (AA 8.8.2022; vgl. UKHO 2.2021). Eine Konversion vom Islam, obwohl sie nicht verboten ist, wird oft als Blasphemie gesehen und kann in einer Strafverfolgung nach den Blasphemiegesetzen oder in familiärer oder gesellschaftlicher Gewalt münden (DFAT 25.1.2022). Unter islamischen Klerikern wird ein Abschwören vom Islam auch gemeinhin als Blasphemie ausgelegt (USDOS 2.6.2022).
Die Situation ist für eine Person, von der bekannt ist, dass sie vom Islam zum Christentum konvertiert ist, viel schwieriger als für eine Person, die als Christ geboren wurde. In Pakistan ist es selten, dass eine Person offen zum Christentum konvertiert, da es wahrscheinlich ist, dass die Konversion einer Person innerhalb ihrer Gemeinschaft bekannt wird, was mögliche Auswirkungen hat. Im Allgemeinen ist die Gesellschaft extrem feindselig gegenüber Konvertiten zum Christentum. Eine Folge kann z.B. sein, dass ein Mullah eine Fatwa erlässt, die ein Todesurteil gegen einen Konvertiten fordert, der als Abtrünniger betrachtet wird. Menschen, von denen bekannt ist, dass sie zum Christentum konvertiert sind, erleiden Gewalt, Einschüchterung und schwere Diskriminierung durch nicht-staatliche Akteure. Eine solche Praxis ist in ganz Pakistan gängig (UKHO 2.2021).
Personen, die sich vom Islam abwenden, vertreten dies in aller Regel nicht öffentlich. Eine eventuelle Gefahr für Leib und Leben besteht v.a. dann, wenn sich der Betroffene besonders exponiert (AA 8.8.2022; vgl. UKHO 2.2021). Es besteht die Gefahr, dass extremistische religiöse Gruppen, die von Fällen (angeblicher) Blasphemie oder Apostasie erfahren, Lynchjustiz gegen Muslime und Angehörige religiöser Minderheiten üben (AA 8.8.2022). Zivilgesellschaftliche Quellen berichten, dass Konvertiten vom Islam in unterschiedlichen Graden der Geheimhaltung leben, aus Angst vor einer gewalttätigen Reaktion durch die Familie oder Gesellschaft (USDOS 2.6.2022).
Die christliche NGO Centre for Legal Aid Assistance Settlement unterhält u.a. ein Safe House für Konvertiten, christliche Paare und Familien, die z.B. aufgrund einer interreligiösen Heirat oder einer Konversion gefährdet sind (CLAAS o.D.). Im Jahr 2019 waren vier der Bewohner Männer (CLAAS 23.11.2022).
Einige Gerichtsurteile haben die Ehe einer nicht-muslimischen Frau zu einem nicht-muslimischen Mann als aufgelöst beurteilt, wenn sie zum Islam konvertiert. Im Gegensatz dazu wird die Ehe eines nicht-muslimischen Mannes weiterhin als aufrecht anerkannt, wenn er zum Islam konvertiert (USDOS 2.6.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 CLAAS - Centre for Legal Aid Assistance Settlement (23.11.2021): Annual Report 2020, https: //claasfamily.com/annual%20reports/CLAAS%20Annual%20Rerport%202020-2019-Web.pdf, Zugriff 12.11.2022 CLAAS - Centre for Legal Aid Assistance Settlement (o.D.): CLAAS Projects, https://claasfamily. com/?page_id=136, Zugriff 14.11.2022 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.11.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (2.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Christians and Christian converts, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046017/Country_information_and_guidance_Christian_and_Christian_converts__Pakistan__February_2021.pdf, Zugriff 14.11.2022 USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2073961.html, Zugriff 20.7.2022
Blasphemiegesetze
Pakistan gehört zu den Ländern mit den schärfsten Blasphemiegesetzen der Welt. Der überwiegende Teil der pakistanischen Gesellschaft unterstützt die Blasphemie-Gesetzgebung. Seit 1990 verbietet § 295a des Strafgesetzbuches das absichtliche Verletzen religiöser Objekte oder Gebetshäuser, § 295b die Entweihung des Koran und § 295c die Beleidigung des Propheten Mohammed. Die letztgenannte Norm sieht selbst bei unbeabsichtigter Erfüllung des Tatbestands die Todesstrafe vor. Oft wird auf Druck von Extremisten im erstinstanzlichen Urteil die Todesstrafe verhängt. Diese wurde bislang jedoch im Falle von Blasphemie noch nie vollstreckt und häufig durch ein höherrangiges Gericht aufgehoben (AA 8.8.2021; vgl. USDOS 2.6.2022, DFAT 25.1.2022). Nach unterschiedlichen Angaben von Menschenrechtsaktivisten sollen mit Stand Juni 2022 zwischen 30 und 80 wegen Blasphemie zum Tode Verurteilte auf die Vollstreckung ihres Urteils warten (AA 8.8.2022).
Die Verurteilungsrate in den unteren Gerichten ist hoch, Richter stehen dabei oft unter enormen Druck (DFAT 25.1.2022). Richter sind oft zögerlich, Blasphemiefälle zu verhandeln oder zu entscheiden, aus Angst vor Vergeltungstaten oder Ausschreitungen. NGOs, Rechtsexperten und Vertreter religiöser Minderheiten bringen vor, dass die unteren Gerichte die Beweisstandards in Blasphemiefällen kaum einhalten. Schleppende Verfahren führen außerdem dazu, dass Verdächtige jahrelang in Haft verbringen oder ihre Berufung abwarten müssen, wobei einige nach Jahren aufgrund von Mängeln in der Beweisführung freigesprochen werden (USDOS 2.6.2022; vgl. UKHO 2.2021). Die meisten Verurteilungen werden in den höheren Gerichten aufgehoben (DFAT 25.1.2022). Eine Erhebung im Jahr 2015 zeigte, dass 80 Prozent der Blasphemieanklagen in Freisprüchen mündeten (UKHO 2.2021). NGOs berichten außerdem, dass viele der Blasphemie beschuldigte Personen für längere Zeit in Einzelhaft bleiben. Die Regierung argumentiert, dies diene der Sicherheit der Betreffenden (USDOS 12.4.2022).
Insgesamt wurden seit Beginn der stringenten Anwendung der Blasphemiegesetze im Jahr 1987 bis inklusive 2021 von der NGO Commission on Social Justice (CSJ) 1.949 Blasphemieanzeigen registriert, wobei diese besonders in der letzten Dekade zugenommen haben. Die tatsächliche Zahl an Anzeigen dürfte laut ihrer Einschätzung höher sein. Von der Gesamtzahl betrafen 47,6 Prozent Muslime, 33 ProzentAhmadis, 14,4 Prozent Christen und 2,15 Prozent Hindus. Regional liegt der Schwerpunkt mit knapp 76 Prozent aller Anzeigen im Punjab (CSJ 2.2022).
Insgesamt ist zu beobachten, dass zwar Muslime die numerische Mehrheit der wegen Blasphemie Inhaftierten bilden (USDOS 12.4.2022; vgl. AA 8.8.2022), gleichzeitig sind religiöse Minderheiten jedoch deutlich überproportional im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung betroffen (AA 8.8.2022). Besonders Mitglieder der Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft sind ein Hauptziel der Strafverfolgungen nach den Blasphemiegesetzen. Anschuldigungen gehen oft von militanten Gruppen und der islamistischen politischen Partei Tehreek-e-Labbaik (TLP) aus, die Ahmadis, beschuldigen, sich „als Muslime auszugeben“ - ein Straftatbestand nach dem pakistanischen Strafgesetzbuch (HRW 13.1.2022; vgl. AI 29.3.2022). Gegenüber Christen und Angehörigen der Ahmadi-Minderheit wird die Blasphemie-Gesetzgebung benutzt, um diese aus verschiedensten Motiven unter Druck zu setzen, die nur zum Teil einen religiösen Hintergrund haben. Oft geht es um Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Geschäftsleuten und um Auseinandersetzungen um Grundbesitz (AA 8.8.2022; vgl. USCIRF 8.2022, FH 2022).
Auch bestimmte politische Ereignisse können solche Anschuldigungen gegen Christen auslösen (UKHO 2.2021).
Im Jahr 2020 wurden die Blasphemiegesetze auch gegen Künstler, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten angewendet (AI 7.4.2021). Außerdem wurden in den letzten Jahren einige Todesurteile aufgrund blasphemischer Inhalte in Nachrichten in sozialen Medien, wie Facebook und WhatsApp verhängt (The Guardian 19.1.2022). Die Blasphemiegesetze und ihr Missbrauch durch religiöse Fanatiker beschränken somit auch die Meinungsfreiheit von Muslimen (FH 2022).
Echte Beweise liegen in den seltensten Fällen vor. Die Verurteilungen wegen angeblicher Blasphemie stützen sich oft ausschließlich auf Zeugenaussagen. Außerdem können Personen, denen „Prophetenbeleidigung“ vorgeworfen wird, kaum Rechtsbeistand finden. Pflichtverteidiger lehnen dieAnnahme der Fälle nicht selten ab oder verfolgen das Mandanteninteresse aus Furcht vor persönlichen Konsequenzen nicht ernsthaft (BAMF 5.2020). Gruppen wie die TLP bedrohten in einigen Fällen auch die Anwälte der Angeklagten, ihre Familien oder Unterstützer (USDOS 2.6.2022).
Problematisch bleibt damit die Wirkung der Blasphemie-Gesetzgebung auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung. Blasphemie-Vorwürfe werden immer wieder zum Anlass oder Vorwand für Mob-Gewalt oder Mordanschläge genommen (AA 8.8.2022; vgl. FH 2022). Jemand, der einmal wegen Blasphemie verurteilt wurde, wird auch nach Freispruch durch ein Berufungsgericht vielfach von extremistischen Organisationen verfolgt. Insbesondere bei Angehörigen religiöser Minderheiten geraten Familienangehörige von Angeklagten häufig ebenfalls ins Visier von Extremisten (AA 8.8.2022; vgl. USCIRF 8.2022). Auch wenn die Behörden noch keine Person wegen Blasphemie hingerichtet haben, führen Anschuldigungen wegen Blasphemie oft zu Selbst- und Lynchjustiz durch aufgebrachte Menschenmengen (USDOS 12.4.2022; vgl. DFAT 25.1.2022). Seit 1987 wurden laut den Aufzeichnungen von CSJ mindestens 84 Personen nach Vorwürfen der Blasphemie oder Apostasie getötet, davon waren 42 Muslime, 23 Christen, 14 Ahmadis, zwei Hindus und ein Buddhist (CSJ 2.2022).
Die Polizei griff zwar bei mehreren Gelegenheiten ein, um die Gewalt von Mobs gegen Personen zurückzudrängen, die der Blasphemie beschuldigt wurden (USDOS 12.5.2021). Oft scheitert sie in solchen Fällen allerdings laut NGOs u.a. aufgrund von Personalengpässen oder Angst vor Gegenangriffen. Meist erhebt die Polizei gegen Personen, die falsche Blasphemievorwürfe äußern, auch keine Anklage (USDOS 2.6.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Pakistan 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2070227.html , Zugriff 24.11.2022 AI - Amnesty International (7.4.2021): Pakistan 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048601 .html, Zugriff 22.2.2022 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.2020): Länderreport 24 Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031016/laenderreport-24-pakistan.pdf, Zugriff 12.5.2021 CSJ - Commission on Social Justice (2.2022): Human Rights Observer 2022, http://csjpak.org/pdf /HR_Observer_2022.pdf, Zugriff 22.2.2022 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 22.2.2022 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/docu ment/2071945.html, Zugriff 18.8.2022 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2066474.html, Zugriff 19.2.2022 The Guardian (19.1.2022): Woman sentenced to death in Pakistan over ‘blasphemous’ WhatsApp activity, https://www.theguardian.com/world/2022/jan/19/pakistan-woman-aneeqa-ateeq-sentenc ed-to-death-blasphemous-whatsapp-messages, Zugriff 17.2.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (2.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Christians and Christian converts, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046017/Country_information_and_guidance_Christian_and_Christian_converts__Pakistan__February_2021.pdf, Zugriff 2.3.2022 USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom [USA] (8.2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2077153/2022+Pakistan+Country+Update.pdf, Zugriff 24.11.2022 USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2073961.html, Zugriff 20.7.2022 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 29.7.2022 USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Country Report on Religious Freedom: Pakistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2051590.html, Zugriff 19.2.2022
Ethnische Minderheiten
Pakistan ist eine pluralistische Gesellschaft mit einer Vielzahl an religiösen und ethno-linguistischen Identitäten. Die pakistanischen Minderheiten lassen sich im Wesentlichen in die Kategorien „ethnisch und sprachlich“ sowie „religiös“ einteilen. Der Begriff „Minderheit“ wird in der Verfassung der Islamischen Republik Pakistan von 1973 an mehreren Stellen verwendet, es gibt jedoch keine Definition dieses Begriffs. Aufeinanderfolgende Bundesregierungen haben die Position vertreten, dass Minderheiten innerhalb Pakistans notwendigerweise religiös sind, und dass es keine ethnischen oder sprachlichen Minderheiten oder indigene Völker gibt (MRGI 6.2019).
Laut dem letzten Zensus von 2017 sprechen 38,8 Prozent der Bevölkerung Punjabi, 18,2 Prozent Paschtu, 14,6 Prozent Sindhi, 12,2 Prozent Saraiki, 7,1 Prozent Urdu, 3 Prozent Belutschisch, 2,44 Prozent Hindko, 1,2 Prozent Brahvi, 0,2 Prozent Kashmiri und auf weitere, kleinere Sprachen entfallen 2,26 Prozent (PBS o.D.).
Durch das Ein-Mandats-Wahlkreis-System bei nationalen Wahlen ist sichergestellt, dass die wichtigsten ethno-linguistischen Gruppen jeder Provinz auch in der Nationalversammlung vertreten sind und an Regierung, Opposition und Parteipolitik teilhaben können (FH 2022).
Quellen: MRGI - Minority Rights Group International (6.2019): Pakistan, https://minorityrights.org/country/p akistan/, Zugriff 22.11.2022 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/docu ment/2071945.html, Zugriff 18.8.2022 PBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (o.D.): Population and Housing Census 2017 Report, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/census_reports/ncr_pakistan.pdf, Zugriff 16.11.2022
Belutschen
Laut dem letzten Zensus aus dem Jahr 2017 haben ca. drei Prozent der pakistanischen Bevölkerung Belutschisch als Muttersprache. Ungefähr 50 Prozent der belutschischen Bevölkerungsgruppe leben in der Provinz Belutschistan, die auch von Paschtunen besiedelt ist. Weitere ca. 40 Prozent der Belutschen leben in der Provinz Sindh (PBS o.D.). Die Belutschen sind mehrheitlich Sunniten und folgen der Hanafi-Rechtsschule (MRGI 6.2018). Belutschistan ist zwar die größte Provinz - es nimmt 44 Prozent der Fläche Pakistans ein - hat aber mit sechs Prozent der Gesamtbevölkerung die geringste Bevölkerungszahl und -dichte (UNDP 6.4.2021).
Die Ausstattung mit Infrastruktur, sowohl in Bezug auf Straßen, Wasserversorgung und Elektrizität als auch in Bezug auf Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen ist spärlich und unter dem Niveau der anderen Provinzen. UNDP gibt die Armutsrate für Belutschistan mit 70 Prozent an. Im Vergleich dazu weisen die reichsten Bezirke Pakistans im Norden und in der Mitte des Punjabs eine Armutsrate von unter 10 Prozent auf (UNDP 6.4.2021). Dabei ist Belutschistan reich an Bodenschätzen, jedoch klagen unterschiedliche nationalistische Gruppen über eine unfaire Verteilung der Gewinne aus dem Ressourcenabbau. Seit Dekaden gibt es separatistische aufständische Bewegungen (EASO 10.2021). Verschiedene belutschisch-nationalistische Rebellengruppen führen auch weiterhin Anschläge durch, hauptsächlich in Belutschistan. Darunter sind die Belutschische Befreiungsarmee (Balochistan Liberation Army / BLA) und die Belutschische Befreiungsfront (Baloch Liberation Front / BLF). Im Jahr 2021 nahmen sowohl die Intensität als auch die Anzahl und Opferzahl der Anschläge der belutschischen nationalistischen Gruppen zu. Fünf Gruppen waren im Jahr 2021 in Belutschistan aktiv und führten 71 Anschläge mit 95 Todesopfern durch. Im Jahr 2020 waren es 32 Anschläge mit 59 Todesopfern. Die meisten Anschläge richteten sich gegen Sicherheitskräfte. Einige Anschläge dieser Gruppen wurden auch außerhalb Belutschistans durchgeführt, z.B. in Karachi (PIPS 17.1.2022).
Das umfassende Vorgehen der Sicherheitskräfte hat die aufständischen Gruppen geschwächt.
Allerdings griffen die Sicherheitskräfte dabei - Berichten zufolge - auch zu Mitteln wie erzwungenem Verschwindenlassen. Gerade die Probleme des gewaltsamen Verschwindenlassens und der außergerichtlichen Tötungen heizen wiederum die nationalistischen Bestrebungen an (EASO 10.2021). Für belutschische Aufständische, die ihre Waffen niederlegen, gibt es immer wieder Amnestien seitens des Staates. Dessen ungeachtet gibt es weiterhin Fälle von illegalen Verhaftungen und Verschwindenlassen von belutschischen Anführern, Menschenrechtsaktivisten und Nationalisten - aber auch von anderen Bürgern (USDOS 12.4.2022).
Verschwindenlassen bleibt damit ein ernstes Menschenrechtsproblem in Belutschistan. Der föderalen Untersuchungskommission für erzwungenes Verschwindenlassen wurden seit ihrer Einrichtung im Jahr 2011 bis Ende 2020 537 Fälle in Belutschistan vorgetragen (HRCP 2021).
Allerdings stieg im Jahr 2021 die Zahl der vor die Kommission gebrachten Fälle von Verschwindenlassen für Belutschistan um 1.108 an. Von allen insgesamt über die Jahre vor die Kommission gebrachten Fällen konnten mit Stand 31. Dezember 2021 1.139 Fälle geklärt werden, davon kehrten 1.095 Personen zurück, 13 konnten in Haft aufgefunden werden und 31 waren tot. 352 Fälle blieben anhängig (HRCP 2022).
Menschenrechtsaktivisten halten die Zahlen der Kommission für unzuverlässig und gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl höher liegt. Die NGO Human Rights Council of Balochistan berichtet z.B. von 450 verschwundenden Personen im Jahr 2020 (USDOS 12.4.2022). Die Balochistan National Party-Mengal (BNP-M) trat unter anderem aufgrund der ihrer Ansicht nach zu wenig ambitionierten Suche nach den Vermissten aus der Koalition mit der Partei des damaligen Premierministers Imran Khan aus (USDOS 30.3.2021; vgl. HRCP 2021). Familienmitglieder von Verschwundenen berichten außerdem, dass ihnen von Sicherheitskräften gedroht wurde, dass der Verschwundene nicht mehr wiederkehren würde, falls der Fall öffentlich gemacht werden sollte (HRCP 2021).
Quellen: EASO - European Asylum Support Office (10.2021): Pakistan Security Situation, https://www.ecoi .net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Report_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 16.1.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_re moved.pdf, Zugriff 20.1.2022 MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): Pakistan - Baluchis, https://minorityrights.org /minorities/baluchis-2/, Zugriff 22.1.2022 PBS - Pakistan Bureau of Statistics [Pakistan] (o.D.): Population and Housing Census 2017 Report, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/census_reports/ncr_pakistan.pdf, Zugriff 16.11.2022 PIPS - Pak Institute of Peace Studies (17.1.2022): Pakistan Security Report 2021, http://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Sr2021FinalWithTitles.pdf, Zugriff 20.11.2022 UNDP - United Nations Development Program (6.4.2021): Pakistan National Human Development Report 2020, https://www.pk.undp.org/content/pakistan/en/home/library/human-development-rep orts/PKNHDR-inequality.html, Zugriff 22.11.2022 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 18.11.2022 USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048102.html, Zugriff 20.11.2022
Hazara
Hazara sind eine ethnische Gruppe mongolisch-turkischer Abstammung mit persischer Sprache. Die meisten praktizieren den schiitischen Islam, einige wenige sind Sunniten. Hazara unterscheiden sich von anderen Schiiten in Pakistan durch ihre Sprache und ihre Gesichtszüge (MRGI 6.2019; vgl. UKHO 7.2022). Die Zahl der Hazara in Pakistan wird auf 600.000 bis eine Million Menschen geschätzt, von denen ungefähr eine halbe Million in Quetta, der Provinzhauptstadt Belutschistans, lebt (UKHO 7.2022; vgl. AA 8.8.2022). Innerhalb Quettas leben Hazara aufgrund der Sicherheitslage vor allem in zwei Enklaven, Hazara Town und Mariabad. Hazara-Gemeinschaften finden sich auch in anderen Teilen des Landes, in nennenswerter Größe z.B. in Karatschi, Lahore und Islamabad. Hazara in ländlichen Gebieten sprechen häufig einen persischen Dialekt namens Hazaragi, in den Städten sprechen sie auch andere Sprachen wie Urdu, Standard-Persisch oder Englisch (UKHO 7.2022).
Die schiitische Hazara-Gemeinde in Belutschistan ist aufgrund ihrer zentralasiatischen Abstammung leicht zu identifizieren und war jahrelang in besonderem Maße Opfer anti-schiitischer Anschläge (AA 8.8.2022). Laut offiziellen Angaben des belutschischen Innenministeriums wurden von Anfang 2012 bis Ende 2017 509 Hazara bei inter-konfessionellen Anschlägen, vor allem in Quetta getötet. Zur Gewährleistung der Sicherheit wurden dauerhaft Kontingente verschiedener militärischer Einheiten für Hazara-Enklaven sowie für häufig von ihnen genutzte Routen abgestellt und Patrouillen und Checkpoints eingerichtet. Seit 2014 gab es keine größeren Anschläge mehr, kleinere allerdings (NCHR 2.2018). Außerhalb Belutschistans gab es seit 2014 keine Anschläge auf Hazara (DFAT 25.1.2022; vgl. UKHO 7.2022). In der Summe liegt das Gewalt-Niveau gegen Hazara heute deutlich niedriger als vor 2015 (AA 8.8.2022).
Für das Jahr 2019 berichtete PIPS von 32 Todesopfern bei Anschlägen gegen Schiiten, davon seien die meisten Hazara gewesen (PIPS 5.1.2020). CRSS zählte 2019 24 Hazara als Anschlagsopfer (CRSS 28.1.2020). Die Menschenrechtsorganisation HRCP berichtete für das Jahr 2020 von vier Angriffen auf Hazara (HRCP 2021). Weder das Sicherheitsanalyseinstitut PIPS (PIPS 15.6.2021) noch das Forschungszentrum CRSS listen für das Jahr 2020 Anschläge auf Hazara (CRSS 10.2.2021). Nach einem längeren Zeitraum relativer Ruhe kamen im Jänner 2021 bei einemAnschlag auf Bergbauarbeiter der Hazara in Belutschistan elf Hazara ums Leben (AlJazeera 3.1.2021). Sowohl PIPS (PIPS 17.1.2022) als auch CRSS führen diesen Anschlag als einzigen Anschlag gegen Hazara im Jahr 2021 an (CRSS 18.5.2022). Für 2022 führt PIPS einen anscheinend gegen Hazara motivierten Anschlag auf ein Geschäft in Quetta an. Dabei wurden drei Menschen getötet, darunter ein Hazara (PIPS 11.1.2023).
Die Behörden sorgen für Sicherheit bei schiitischen religiösen Prozessionen, beschränken die öffentlichen Gottesdienste jedoch auf die Hazara-Enklaven (USDOS 20.3.2023). In den Enklaven gewährleistet der Staat die Sicherheit durch Checkpoints und Durchsuchungen bei Ein- und Austritt (DFAT 25.1.2022). Vertreter der Hazara beklagen allerdings andererseits, dass die Sicherheitsmaßnahmen zu einer Gettoisierung ihrer Viertel führen, und dies wiederum zu wirtschaftlicher Ausbeutung. Konsumgüter sind in den Enklaven zu überhöhten Preisen erhältlich. Die Sorge um die Sicherheit hindert Hazara daran, sich außerhalb der Enklaven frei zu bewegen. Die Möglichkeiten, Arbeit zu finden oder eine höhere Bildung zu erlangen, sind erheblich eingeschränkt (USDOS 20.3.2023).
Im Zuge des Höhepunkts der Gewalt zwischen 2011 und 2015 zogen sich viele - auch hochrangige - Hazara aus staatlichen Anstellungen zurück. Die meisten Betreiber von Geschäften zogen sich ebenfalls in die Enklaven zurück. Dennoch bestreitet weiterhin ein großer Teil der Hazara sein Einkommen im staatlichen Dienst. Die meisten anderen betreiben kleinere Geschäfte oder sind im Bereich der ungelernten Arbeit tätig. In beiden Enklaven pendeln Hazara auch täglich für ihre Arbeit. Nicht-Hazara stellen allerdings häufig keine Hazara ein, weil sie fürchten, dass ihre Präsenz sie ebenfalls Gewalt aussetzen könnte. Die Enklaven sind gut organisiert, das Bildungsniveau ist im belutschischen Durchschnitt fortschrittlich, ein großer Teil der Bewohner gehört der Mittelklasse oder unteren Mittelklasse an (CREID 12.2020; vgl. UKHO 7.2022). Andere Quellen beschreiben die ökonomische Lage der Bevölkerung als prekär (BAMF 5.2020) bzw. untere Einkommensklasse (JMH 2023).
Viele Hazara bieten ihre Dienstleistungen innerhalb der Enklave an. Grundlegende medizinische und andere Dienstleistungen sind in den Enklaven vorhanden. Die Möglichkeiten für eine höhere Ausbildung sind allerdings beschränkt. Schulen sind innerhalb der Enklaven angesiedelt (DFAT 25.1.2022). Auch höhere Schulen sind in den Enklaven vorhanden, allerdings gibt es in Quetta nur drei öffentliche Universitäten und aufgrund der Anschläge auf Busse mit Hazara-Studenten in den Jahren 2012/13 besuchen viele Hazara diese nicht mehr (CREID 12.2020). Eine kleine Anzahl an reicheren Hazara schickt ihre Kinder an Universitäten in Lahore oder Islamabad, wo sie sich sicherer fühlen, viele andere streben aus Sicherheitsbedenken keine Universitätsbildung mehr an (DFAT 25.1.2022).
Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurden die Enklaven der Hazara bereits vor den allgemeinen Lockdowns abgeriegelt, da man vermutet hatte, dass das Virus dort weiter verbreitet ist (UKHO 7.2022). In Hassreden wurde Hazara vorgeworfen, das Virus von Pilgerreisen aus dem Iran eingeschleppt zu haben (HRCP 2021; vgl. UKHO 7.2022). Hazara wurden in Quetta als Überträger des Virus stigmatisiert und bereits vor der Abriegelung der Enklaven wurden viele durch Arbeitgeber außerhalb der Enklaven - auch im staatlichen Bereich - aufgefordert, nicht zur Arbeit zu kommen (IDS 3.2021; vgl. UKHO 7.2022).
Einige Hazara geben an, dass sie von Behörden bei der Ausstellung von Personalausweisen und Pässen diskriminieren werden (USDOS 20.3.2023). Sie müssen Berichten zufolge nachweisen, dass sie Staatsbürger und keine afghanischen Flüchtlinge sind (UKHO 7.2022). Außerdem beklagen Hazara Belästigungen bei den Checkpoints und Kontrollen durch die Sicherheitskräfte (CREID 12.2020; vgl. UKHO 7.2022). Des Weiteren berichten sie nach der Ankunft von afghanischen Hazara-Flüchtlingen von verstärkter Überwachung (USDOS 20.3.2023). Laut einer Analyse des UNHCR gehört ein überproportional hoher Anteil der seit der Machtübernahme der Taliban neuankommenden Flüchtlinge aus Afghanistan der Hazara-Minderheit an (PIPS 17.1.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 Al Jazeera (3.1.2021): Gunmen kill many Hazara Shia coal miners in southwest Pakistan, https: //www.aljazeera.com/news/2021/1/3/gunmen-kill-at-least-11-from-shia-minority-in-south-west-p akistan, Zugriff 20.1.2023 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.2020): Länderreport 24, https: //www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laenderreporte/2020/lae nderreport-24-pakistan.pdf?__blob=publicationFile v=3, Zugriff 20.3.2023 CREID - Coalition for Religious Equality and Inclusive Development (12.2020): The Multi-Layered Minority: Exploring the Intersection of Gender, Class and Religious-Ethnic Affiliation in the Marginalisation of Hazara Women in Pakistan, https://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/handle/20.500.12413/15870/The%20Multi-Layered%20Minority_v2.pdf?sequence=1 isAllowed=y, Zugriff 23.3.2023 CRSS - Center for Research Security Studies (18.5.2022): Annual Security Report 2021, https: //crss.pk/crss-annual-security-report-2021-2/, Zugriff 20.3.2023 CRSS - Center for Research Security Studies (10.2.2021): Annual Security Report 2020, https://crss.pk/wp-content/uploads/2021/02/CRSS-Annual-Security-Report-2020.pdf, Zugriff 20.1.2023 CRSS - Center for Research Security Studies (28.1.2020): Annual Security Report 2019, https: //crss.pk/wp-content/uploads/Annual-Security-Report-2019.pdf, Zugriff 20.1.2023 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.2.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-21_re moved.pdf, Zugriff 20.1.2023 IDS - Institute of Development Studies (3.2021): Religious Marginality, Covid-19, and Redress of Targeting and Inequalities In: IDS Bulletin, Vol. 52 No. 1 ‘Building a Better World: The Crisis and Opportunity of Covid-19’, S 133-153, https://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/handle/20.500.12413/16502/IDSB52.1_10.190881968-2021.111.pdf?sequence=1 isAllowed=y, Zugriff 20.1.2023 JMH - Journal of Migration and Health (2023): The migrant Hazara Shias of Pakistan and their social determinants for PTSD, mental disorders and life satisfaction, Volume 7, https://www.ncbi.n lm.nih.gov/pmc/articles/PMC9922968/#bib0035, Zugriff 23.3.2023 MRGI - Minority Rights Group International (6.2019): Pakistan, https://minorityrights.org/country/p akistan/, Zugriff 20.1.2023 NCHR - National Commission of Human Rights [Pakistan] (2.2018): Understanding the agonies of ethnic Hazaras [liegt als pdf in der Staatendokumentation auf] PIPS - Pak Institute for Peace Studies (11.1.2023): Pakistan Security Report 2022, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Safdar_ASR-22-reviewed.pdf, Zugriff 20.1.2023 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (17.1.2022): Pakistan Security Report 2021, http://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Sr2021FinalWithTitles.pdf, Zugriff 20.1.2022 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (15.6.2021): Pakistan Security Report 2020 - Final Report, https://www.pakpips.com/web/wp-content/uploads/2021/06/Final-Report-2020.pdf, Zugriff 20.1.2022. PIPS - Pak Institute for Peace Studies (5.1.2020) Pakistan Security Report 2019, https://www.pa kpips.com/web/wp-content/uploads/2020/03/sr2019full.pdf, Zugriff 20.1.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (7.2022): Country Policy and Information Note Pakistan: Hazaras https://www.ecoi.net/en/file/local/2076103/Country_policy_and_information_note_Hazar as__Pakistan__July_2022.pdf, Zugriff 28.3.2023 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 22.3.2023
Paschtunen, inkl. Pashtun Tahafuz Movement (PTM)
Pschtunen besiedeln hauptsächlich die Region zwischen dem Hindukusch im Nordosten Afghanistans und dem nördlichen Abschnitt des Indus in Pakistan. Sie teilen die Sprache Paschtu, die Religion des sunnitischen Islam und den Verhaltenskodex des Paschtunwali. Die Clanzugehörigkeit ist die Grundlage der paschtunischen Gesellschaft. Dispute über Grund und Boden, Frauen oder persönliche Kränkungen können zu langen Blutfehden führen, sofern sie nicht durch Stammesgerichte, Jirgas, gelöst werden. Paschtunen teilen sich auf ungefähr 60 Stämme auf, die jeder ein bestimmtes Territorium bewohnen (EB 6.1.2023).
Paschtu wird laut dem letzten Zensus aus dem Jahr 2017 von circa 18 Prozent der pakistanischen Bevölkerung gesprochen und ist damit, nach dem Punjabi mit 38,8 Prozent, noch vor dem Sindhi mit 14,6 Prozent, die zweitgrößte Sprache in Pakistan (PBS o.D.). Paschtunen stellen die Bevölkerungsmehrheit vom Norden von Quetta [Belutschistan] bis zum Gebiet zwischen dem Sulaiman-Gebirge und dem Indus. Die Städte Peschawar und Quetta sind wichtige Zentren der paschtunischen Kultur (EB 6.1.2023). Die Bevölkerung der Provinz Khyber Pakhtunkhwa ist hauptsächlich paschtunisch und überwiegend sunnitisch, die meisten Schiiten der Provinz sind Paschtunen des Turi- oder Bangash-Stammes (UKHO 7.2021). Bekannte Stämme der Bergregion Khyber Pakhtunkhwa sind Waziri, Turi, Bangash, Mahsud, Orakzai und Afridi. Viele Paschtunen dienen im Heer, einige halten politische Ämter (EB 6.1.2023).
Paschtunen werden in Pakistan traditionell mit einem kriegerischen Image stereotypisiert und rezenter mit dem Terror der Taliban verbunden. Tatsächlich machen Paschtunen die Mehrheit der Mitglieder der afghanischen und der pakistanischen Taliban aus (Ghandhara 15.10.2021). Dementsprechend klagen Paschtunen aus den ehemaligen FATA, dass sie häufig als Terroristen verdächtigt werden aufgrund ihrer Kleidung, ihrer Stammeszugehörigkeit oder auch aufgrund ihrer geografischen Herkunft (USDOS 20.3.2023). Tausende Paschtunen wurden über die Jahre durch die Anschläge der pakistanischen Taliban getötet und Millionen von paschtunischen Zivilisten durch die Militäroperationen gegen die Taliban vertrieben, der Frieden ist vielen ein Anliegen (Ghandhara 15.10.2021; vgl. RFE 14.1.2023). Die Stämme der Region haben versucht, gegen die militanten Gruppen vorzugehen. Die meisten der Stammesälteren hatten mit dem Staat kooperiert, indem sie Militante ausgehändigt oder über Jirga [Ratsversammlungen] Lashkars [Stammestruppen] gebildet haben, um sie zu vertreiben (Sage 9.2.2019).
Pro-staatliche Stammesführer sind so auch weiterhin ein Hauptangriffsziel der Terrorgruppen in Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 11.1.2023; vgl. USDOS 20.3.2023).
Als rezente Entwicklung wies das Jahr 2022 in den Stammesgebieten auch vielfach Proteste gegen die Zunahme terroristischer Aktivitäten in verschiedenen Teilen der ehemaligen FATA und Khyber Pakhtunkhwas auf (PIPS 11.1.2023). Im Frühjahr 2023 verstärkten sich die Demonstrationen nach einer Zunahme der Terroranschläge und dem Anschlag auf eine Polizeimoschee in Peschawar im Jänner (Siasat 4.2.2023).
Die eingeschränkte Unterstützung des Staates für die Stämme und die Probleme durch die Anti-Terror-Operationen in der Region haben auch zu Verstimmungen innerhalb der paschtunischen Stämme gegenüber der Armee geführt (Sage 9.2.2019). Es gibt Kritik an den Aufklärungsoperationen des Militärs, dass dabei Gruppen wie Paschtunen oder afghanische Migranten undifferenziert ins Visier genommen werden (EASO 10.2021). So werfen Paschtunen den Sicherheitskräften Verschwindenlassen, extralegale Tötungen und andere Menschenrechtsverletzungen vor (USDOS 20.3.2023).
Viele Menschen aus Khyber Pakhtunkhwa, darunter viele Händler, sind in den Punjab und andere Teile Pakistans gezogen. Nicht nur die Re-Gruppierungen der Terrororganisationen oder der mangelhafte Wiederaufbau nach den Militäroperationen, sondern auch die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven und Bildungsmöglichkeiten haben dazu beigetragen. Doch werden Paschtunen - in erster Linie im Punjab - oft mit Terror oder illegalen Aktivitäten assoziiert. So unterliegen paschtunische Händler und Studenten im Punjab zusätzlichen Kontrollen, was auf ein ethnisches Profiling durch die Strafverfolgungsbehörden hindeutet. Außerdem berichten Paschtunen von Belästigungen bei den Kontrollen. Die Problematik veranlasste die Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa, bereits 2017 eine Resolution zu verabschieden, in der sie die zunehmenden Vorurteile gegenüber Paschtunen im Punjab verurteilte und die Vorgehensweisen der punjabischen Provinzregierung als rassistisch [„racial“] bezeichnete (TCP 13.5.2021).
Im Juli 2022 kam es zu ethnischen Spannungen im Sindh zwischen Sindhi und Paschtunen: Nachdem ein Afghane des Mordes an einem Sindhi verdächtigt worden war, wurden Geschäfte und Hotels von Paschtunen in einigen Städten im Sindh attackiert (PIPS 11.1.2023). Verschiedene Führer ethnischer Parteien riefen zur Beruhigung der Lage auf. Es wurden Verletzte gemeldet, allerdings keine Toten (Dawn 15.7.2022; vgl. PIPS 11.1.2023).
In den letzten Jahren entstand das Pashtun Tahafuz Movement (Pashtun Protection Movement / PTM), eine Bürgerrechtsbewegung, die sich für die Rechte der Paschtunen einsetzt. Sie hält dazu Protestumzüge und Sitzstreiks ab. Die Bewegung fordert unter anderem die Aufklärung von Fällen, in denen Personen ohne Anklage festgehalten wurden, außergerichtlicher Tötungen sowie des Verschwindenlassens ebenso wie die Räumung von Landminen in den ehemaligen Stammesgebieten (EASO 10.2021). Die PTM ist kritisch gegenüber dem Militär und den Taliban (BAMF 1.1.2023). Die friedvolle Art der Proteste half dabei, die Anliegen und Beschwerden der Paschtunen in den öffentlichen, nationalen und internationalen Fokus zu bringen. Die Forderungen der PTM fanden bei einem signifikanten Teil der pakistanischen Bevölkerung - auch der nicht-paschtunischen - Zustimmung (Sage 9.2.2019). Zwei Führungspersönlichkeiten der PTM gewannen in den Nationalwahlen 2018 als unabhängige Kandidaten Sitze in der Nationalversammlung (EASO 10.2021). Ab 2018 wurde allerdings damit begonnen, die PTM und ihre Anführer als Verräter, als illoyal oder staatsfeindlich zu bezeichnen. Das Militär unterstellt der Bewegung u.a., sie werde vom indischen Geheimdienst finanziert (EASO 10.2021; vgl. FH 2022). Die PTM bestreitet dies (FH 2022).
Nachdem im Mai 2019 bei einer Demonstration der PTM bei einem Armee-Checkpoint in NordWaziristan 13 Demonstranten durch Soldaten getötet worden waren, ging die Regierung hart gegen die PTM vor. PTM-Aktivisten konnten zwar viele der folgenden Verhaftungen vor Gericht erfolgreich anfechten, allerdings galten einige der dadurch Freigelassenen danach als vermisst (USDOS 11.3.2020; vgl. OFPRA 9.7.2020). Seit der Ankündigung des Militärs im Jahr 2019 härter gegen die PTM vorzugehen und der Unterstellung, sie sei von ausländischen Geheimdiensten finanziert, ist zu beobachten, dass ihre Protestkundgebungen, die Tausende Menschen in den Stammesgebieten zählen, kaum noch Niederschlag in den pakistanischen Medien finden. Journalisten berichten von Druck auf die Verlage und Rundfunkanstalten. Berichte über Proteste werden hauptsächlich über soziale Medien verbreitet (VOA 5.8.2021). Durch ihre Online-Präsenz konnte die PTM trotz der Abwesenheit in den Print- und elektronischen Medien und obwohl Aktivisten verhaftet wurden im ganzen Land zu Kundgebungen mobilisieren (FH 18.10.2022). So gelang es ihr auch im Jahr 2022, ihre Anhänger für massive Demonstrationen und Sit-ins zu mobilisieren, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Allerdings geschieht dies seit 2020 unter größerer Beobachtung. Sicherheitsbehörden nahmen PTM-Anführer im Zusammenhang mit Protesten und Reden fest (USDOS 20.3.2023).
In der Vergangenheit wurden Führungspersonen und Demonstrationsteilnehmer wegen Staatsgefährdung u.a. vor einem Anti-Terrorismus-Gericht angeklagt (FH 2022). Laut Angaben einiger Führer und Aktivisten der Organisation wurden sie bedroht, unrechtmäßig oder ohne Verfahren verhaftet, zensuriert sowie von Inlands- und Auslandsreisen abgehalten (USDOS 20.3.2023). Laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes hat allerdings das Interesse an der inzwischen durch interne Konflikte geschwächten Organisation stark nachgelassen (AA 8.8.2022). In vielen Fällen wurden die Versammlungen und Protestkundgebungen der PTM auch toleriert (HRCP 2023). Im Februar 2023 wurde einer ihrer Führungspersonen - und Abgeordneter der Nationalversammlung - nach zwei Jahren Haft entlassen (RFE 14.2.2023). Kurz darauf führte er noch im Februar mit der PTM eine Demonstration von Tausenden Stammesangehörigen in den Stammesgebieten an, u.a. gegen ein mögliches Wiederaufnehmen der Militäroperationen (Peoples Dispatch 28.2.2023).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.1.2023): Briefing Notes Zusammenfassung, Pakistan – Juli bis Dezember 2022 https://www.ecoi.net/en/file/local/2087092/Deuts chland._Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Briefing_Notes_Zusammenfassung_%E2%80%93_Pakistan%2C_Juli_bis_Dezember_2022._01.01.2023.pdf, Zugriff 30.3.2023 Dawn (15.7.2023): Calls for calm as ethnic strife threatens peace in Sindh,https://www.dawn.com /news/1699697/calls-for-calm-as-ethnic-strife-threatens-peace-in-sindh, Zugriff 22.3.2023 EASO - European Asylum Support Office [jetzt: EUAA - European Asylum Agency] (10.2021): Pakistan Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Re port_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 6.2.2023 EB - 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Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Die Rolle und das Bild der Frau in Pakistan werden in erster Linie von einer islamischen Gesellschaft geprägt, in der weite Teile einer sehr konservativen Denkweise anhängen. Dem setzen sich vor allem Frauen aus der wirtschaftlichen Oberschicht entgegen, denen es zum Teil gelingt, wichtige Positionen in Staat und Gesellschaft zu erringen (AA 8.8.2022). Das Gesetz verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, aber die Behörden setzen dies nicht um. Frauen sind mit Diskriminierung im Beruf, Familien- und Eigentumsrecht sowie im Justizsystem konfrontiert (USDOS 12.4.2022). Aufgrund der Anwendung der Scharia, die in Teilen des materiellen und prozessualen Rechts vorrangig zur Anwendung kommt, sind Frauen deutlich schlechter gestellt. Rechtliche Bestimmungen, die Frauen benachteiligen, finden sich u. a. im pakistanischen Strafgesetz und dem Staatsangehörigkeitsrecht. Im Global Gender Gap Report des World Economic Forum belegte Pakistan 2021 den 153. Platz von 156 erfassten Staaten (AA 8.8.2022). Für das Jahr 2022 belegt es in dieser Wertung den vorletzten Platz, allerdings von 146 bewerteten Staaten (WEF 7.2022). Im Women, Peace and Security Index der Georgetown University und des Peace Research Institute Oslo nimmt Pakistan den 167. Platz von 170 ein. Besonders unter dem Durchschnitt liegt Pakistan dabei bei der Inklusion von Frauen in das Berufsleben und bei der Bildung. Allerdings stellt der Index auch hohe Unterschiede zwischen den Provinzen fest, wobei Punjab für sich genommen mit Platz 80 vergleichbar wäre, während Belutschistan besonders negative Werte aufweist (GIWPS/PRIO 2021). Die weitverbreitete Diskriminierung der Geschlechter zeigt sich auch bei der Erwerbsquote von nur 20,5 Prozent bei Frauen - eine Zahl, die sich, seit einer Dekade nicht geändert hat (BS 25.2.2022).
Frauen beteiligen sich aktiv als Mitglieder in politischen Parteien, aber sie waren nicht immer erfolgreich bei der Sicherung von Führungspositionen innerhalb der Parteien, abgesehen von den Frauenflügeln (USDOS 12.4.2022). Im Jänner 2022 wurde erstmals eine Frau zur Richterin am pakistanischen Supreme Court ernannt (ABC News 8.1.2022).
Gemäß dem 2017 verabschiedeten Wahlgesetz müssen Frauen mindestens fünf Prozent der Kandidatenplätze einer Partei einnehmen. Außerdem sind 60 Sitze in der Nationalversammlung, 17 Sitze im Senat, 132 der 779 Sitze in den Provinzversammlungen und ein Drittel der Sitze in den Gemeinderäten für Frauen reserviert. In ländlichen Gebieten halten kulturelle und traditionelle Barrieren manche Frauen davon ab, zu wählen. Falls weniger als 10 Prozent der Frauen eines Wahlkreises ihre Stimme abgeben, ist es den Behörden möglich, das Ergebnis für den betreffenden Wahlkreis zu annullieren, unter dem Verdacht, dass Frauenstimmen unterdrückt wurden. Dies wurde bei den Parlamentswahlen 2018 auch erstmals in einem Wahlkreis in Khyber Pakhtunkhwa umgesetzt (USDOS 12.4.2022).
Gewalt gegen Frauen und Mädchen - einschließlich Vergewaltigung, Mord, Säureangriffe, häusliche Gewalt und Zwangsverheiratung - ist nach wie vor in ganz Pakistan ein ernstes Problem. NGOs schätzen, dass etwa 1.000 Frauen im Jahr Opfer von Ehrenmorden werden. Die Regierung hat wenig getan, um Zwangsehen zu verhindern. Frauen, die religiösen Minderheiten angehören, sind diesbezüglich besonders gefährdet (HRW 13.1.2022). Studien zeigen außerdem, dass die Gewalt gegen Frauen während der Covid-19-Pandemie drastisch zugenommen hat (AF 2.2021; vgl. Dawn 28.11.2022). Im Jahr 2021 wurden zahlreiche Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt bekannt, was den mangelnden Schutz von Frauen vor Augen führte und erneut Forderungen nach konsequenter Strafverfolgung der Täter und Reformen laut werden ließ (AI 29.3.2022). Laut Angaben des National Police Bureau wurden in den letzten drei Jahren - von 2019 bis 2021 - 63.367 Anzeigen von Gewalt gegen Frauen registriert, davon 11.160 Vergewaltigungen. Hiervon wiederum betrafen 2.390 das Jahr 2021. Für das Jahr 2021 fanden sich unter dieser Gesamtzahl auch 7.651 Fälle von Entführungen von Frauen und 840 Morde. Es wird darüber hinaus davon ausgegangen, dass viele Fälle nicht registriert werden (Dawn 4.12.2022). Hingegen spricht die NGO Sustainable Social Development Organization anhand von Daten der Polizei des Punjabs für die ersten 10 Monate des Jahres 2022 alleine für den Punjab von 3.088 Vergewaltigungen von Frauen und 4.503 Fällen von Missbrauch von Kindern inklusive Vergewaltigung und Entführung (SSDO 31.10.2022; vgl. The Nation 30.11.2022, Dawn 30.11.2022a).
Vergewaltigung ist eine Straftat mit einem Strafrahmen von 10 bis 25 Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe. Gesetzlich ist u.a. die Sammlung von DNA-Beweisen, die Geheimhaltung des Namens des Opfers und das Recht auf juristische Vertretung für Vergewaltigungsopfer vorgesehen. Das Gesetz stellt Vergewaltigung in der Ehe nicht ausdrücklich unter Strafe. Obwohl Vergewaltigungen häufig vorkommen, wird nur sehr selten von ihnen berichtet und sie gelangen nur selten zur Strafverfolgung (USDOS 12.4.2022). Eine Erhebung aus dem Jahr 2020 ergab darüber hinaus, dass nur 0,3 Prozent aller angezeigten Fälle zwischen 2015 und 2020 auch zu einer Verurteilung führten (TNI 13.11.2020; vgl. AA 8.8.2022). NGOs berichten, dass die Polizei mitunter Bestechungsgelder von Tätern annimmt, Opfer missbraucht oder sie bedroht und Druck ausübt, damit die Anzeige fallengelassen wird, insbesondere wenn der Täter in der Gemeinde einflussreich ist. Darüber hinaus gibt es Berichte, wonach im traditionellen Jirga- und Panchayat-Rechtssystem in ländlichen Gebieten Fälle von Vergewaltigung häufig so gelöst werden, dass das Opfer gezwungen wird, den Täter zu heiraten, oder dass ein Familienmitglied des Opfers berechtigt wird, ein Familienmitglied des Angeklagten zu vergewaltigen. Allerdings gibt es Berichte, wonach in letzter Zeit die Strafverfolgung zunimmt. Die meisten Vergewaltigungsopfer, insbesondere in ländlichen Gebieten, haben keinen Zugang zum vollständigen Spektrum an grundlegenden Versorgungsleistungen. Eine begrenzte Anzahl an Frauenhilfszentren bietet im Rahmen von Netzwerken mit lokalen Hilfeleistern Opfern sexueller Gewalt das gesamte Spektrum an grundlegenden Versorgungsleistungen an (USDOS 12.4.2022). Die NGO War against Rape unterstützt z.B. Überlebende sexueller Gewalt mit Langzeit-Psychotherapie (WAR o.D.a) und unterhält ein Netzwerk zur ergänzenden Unterstützung der Opfer unter anderem im medizinischen, sozialen und rechtlichen Bereich (WAR o.D.b).
Häusliche Gewalt ist weit verbreitet (USDOS 12.4.2022). Einige Berichte gehen davon aus, dass bis zu 90 Prozent aller Frauen häusliche Gewalt durch Partner oder die Familie erfahren haben (vgl. T-Magazin 7.8.2022, Friday Times 27.6.2022). Es gibt kein Bundesgesetz gegen häusliche Gewalt. Die Polizei kann Taten häuslicher Gewalt gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches zu Körperverletzung anklagen (USDOS 12.4.2022; vgl. T-Magazin 7.8.2022).
Im Juni 2021 verabschiedete zwar der pakistanische Senat ein Bundesgesetz gegen häusliche Gewalt. Nach Protesten verschiedener islamischer Rechtsgelehrter wurde es allerdings vor seinem möglichen Inkrafttreten dem Council of Islamic Ideology zur Revision im Hinblick auf die Übereinstimmung mit islamischen Prinzipien vorgelegt (The Nation 11.8.2021). Der Rat befand, dass das Gesetz gegen einige dieser Prinzipien verstößt (HRW 13.1.2022). Mit Stand November 2022 war das Gesetz damit noch im Gesetzgebungsprozess anhängig (UKHO11.2022).
Belutschistan, Sindh und Punjab haben bereits eigene Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt verabschiedet - ohne die Anrufung des Councils of Islamic Ideology. Im Jänner 2021 trat in Khyber Pakhtunkhwa, als letzter der vier Provinzen, ein eigenes Provinzgesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt in Kraft. Dort hatte die Anrufung des Councils Änderungen zufolge und das Inkrafttreten um vier Jahre verzögert (TNI 25.7.2021). Neben einem rechtlichen Regelwerk sieht das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt in Khyber Pakhtunkhwa auch die Verpflichtung zur Einrichtung verschiedener Infrastrukturen zum Schutz und zur Prävention auf Bezirksebene vor (Dawn 8.4.2021; vgl. HRCP 2022). Als progressives Zeichen wird gewertet, dass der Federal Shariat Court in einem Urteil das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt des Punjabs als den islamischen Prinzipien nicht widersprechend sowie den Schutz von Frauen als islamisches Anliegen anerkannt und die Provinzregierung zur Umsetzung in allen Distrikten aufgefordert hat.Ausgangspunkt waren mehrere Klagen, die gegen das Gesetz als „unislamisch“ eingereicht wurden (Dawn 30.11.2022b; vgl. Dawn 2.12.2022,TPO 13.12.2022).
Ein rechtliches Regelwerk zum Schutz von Frauen existiert somit, die Umsetzung ist allerdings sehr schwach (T-Magazin 7.8.2022). Frauen stehen hinsichtlich einer Anzeige von Misshandlungen vor großen Hürden (USDOS 12.4.2022). Oft nehmen Polizisten die Anzeigen nicht auf, da sie solche Taten als Familienangelegenheit erachten. Es gibt Berichte, wonach die Behörden Frauen einschüchterten oder belästigten (New Frame 1.9.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Außerdem berichten Aktivisten, dass Polizisten Frauen nicht ausreichend über die Verfahrensregeln aufklären, z.B. über die Verpflichtung zur medizinischen Untersuchung für die Beweisaufnahme (New Frame 1.9.2021).Statt Anzeigen aufzunehmen, ermutigt die Polizei oft die Streitparteien, sich zu versöhnen, und schickt Missbrauchsopfer regelmäßig zu den sie misshandelnden Familienangehörigen zurück. Um den sozialen Normen entgegenzuwirken, die Opfer davon abhalten, geschlechtsspezifische Gewalt anzuzeigen, wurden in der Region Islamabad in einigen Polizeistationen eigene Schalter mit Polizistinnen eingerichtet, um Frauen einen sicheren Ort für Anzeigen zu bieten. Landesweit operieren auch auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisierte Gerichte (USDOS12.4.2022).
Die Regierung unterhält ein Krisenzentrum für Frauen in Notlagen, das misshandelte Frauen an NGOs zur Unterstützung weitervermittelt. Weiters gibt es landesweit zahlreiche staatliche Shaheed-Benazir-Bhutto-Frauenschutzzentren, die rechtliche Hilfe sowie medizinische und psychologische Betreuung bieten. Von diesen werden die Frauen in eines von landesweit mehreren Hundert Frauen- und Kinderwohnheimen (Dar-ul-Aman) weitergeleitet. Dort wird ebenfalls medizinische Versorgung gewährt, allerdings gibt es keine rechtliche oder psychologische Beratung. Viele der staatlichen Zentren sind überfüllt und nicht ausreichend mit Ressourcen, sanitären Einrichtungen und Personal ausgestattet. Es gibt Berichte, wonach Frauen in staatlichen Schutzhäusern missbraucht, zur Prostitution gezwungen, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt oder gedrängt wurden, zu ihren Misshandlern zurückzukehren. Der Punjab baute im Rahmen seines Gesetzes zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt ein neues Netzwerk von Schutzhäusern auf Bezirksebene auf, die ein breites Angebot an Hilfsleistungen wie Unterkunft sowie medizinische, rechtliche und psychologische Unterstützung bieten. Auch wurden im Punjab für Frauen behördliche Stellen zur Vermittlung preiswerter Unterkünfte während der Arbeitssuche, Programme zur ökonomischen Stärkung sowie Kindertagesstätten eingerichtet (USDOS 12.4.2022).
Zusätzlich gewähren NGOs nicht nur Schutz in Frauenhäusern, sondern leisten Rechtsbeistand, engagieren sich für eine Ausbildung der Frauen und versuchen, eine gütliche Verhandlungslösung herbeizuführen und in weiterer Folge eine Reintegration in die Gesellschaft zu ermöglichen (ÖB 12.2020). Die private Edhi Foundation bietet beispielsweise u.a. auch Unterkunft für Frauen, die häuslicher Gewalt entkommen sind (Edhi o.D.; vgl. The Nation 11.8.2021).
Das Familienrecht gibt klare Richtlinien mit Bezug auf Schutz für Frauen im Falle einer Scheidung vor, unter anderem in Bezug auf Unterhaltsleistungen und das Sorgerecht für minderjährige Kinder. Vielen Frauen sind diese rechtlichen Schutzbestimmungen nicht bekannt oder sie sind nicht in der Lage, zu deren Durchsetzung einen Rechtsbeistand heranzuziehen. Geschiedene Frauen stehen oft ohne jegliche Unterstützung da, weil sie von ihren Familien geächtet werden (USDOS 12.4.2022).
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Betroffene von Blutfehden, Ehrverbrechen und anderen schädlichen traditionellen Praktiken
Blutrache ist vor allem im ländlichen Bereich Pakistans noch immer ein verbreitetes Phänomen.
Die meisten Fälle dürfte es in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa geben, Blutfehden kommen aber auch in den ländlichen Gebieten Sindhs und Punjabs vor. Auslöser für Blutfehden zwischen Familien sind Ehrverletzungen, die aus einem Mord, einer Beleidigung, Verletzung von Eigentumsrechten etc. bestehen können. Das Konzept der Ehre - Ghairat - das vor allem in der paschtunischen Bevölkerung Khyber Pakhtunkhwas besonders stark ausgeprägt ist, verlangt es, eine Ehrverletzung zu rächen. Blutfehden führen oft dazu, dass Familien über Generationen miteinander verfeindet sind und in ständiger Angst davor leben, dass eines ihrer Familienmitglieder aus Rache getötet wird (ÖB 12.2020).
In von Stämmen bewohnten Gebieten werden manchmal zur Beendigung von Blutfehden oder Landstreitigkeiten Frauen und Mädchen durch die traditionellen Jirga-Gerichte in eine Zwangsehe übergeben (DFAT 25.1.2022; vgl. UKHO 11.2022). Der „Criminal Law (Third Amendment) Act 2011“ stellt diese Praxis der Gabe eines Mädchens/einer Frau zur Beilegung von Streitigkeiten, badla-a-sulh, wanni oder swara genannt, unter Strafe von bis zu sieben Jahren Haft (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 12.4.2022). Weitere schädliche traditionelle Praktiken, die durch diese auch „Prevention of Antiwomen Practices Amendment Act“ genannte Gesetzesänderung unter Strafe gestellt wurden, sind die Zwangsheirat und die illegale Vorenthaltung der Erbrechte von Frauen mit jeweils einer Strafandrohung von bis zu 10 Jahren sowie die Praxis der Verheiratung von Frauen mit dem Koran mit einer Strafandrohung von bis zu sieben Jahren (PCSW o.D.). Die Praxis der Verheiratung mit dem Koran beinhaltet die Ablegung eines Eides der betroffenen Frauen, dass sie unverheiratet bleiben und nicht ihren Anteil an einem Erbe einfordern. Trotz des Verbots werden diese Praktiken in einigen Gebieten Pakistans weiterhin angewendet (USDOS 12.4.2022).
Sogenannte „verbotene“ Eheschließungen, d.h. sozial unerwünschte, gegen den Willen der Eltern geschlossene Liebesheiraten, und die im Extremfall darauffolgenden Ehrenmorde ziehen zwar ein besonderes Medienecho auf sich, sind jedoch landesweit nicht die Norm. Üblich sind nach wie vor arrangierte Ehen, besonders in ländlichen Gebieten. Diese sind nicht mit Zwangsehen gleichzusetzen (ÖB 12.2020; vgl. UKHO 11.2022). Einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2019 zufolge wurden 85 Prozent aller Eheleute einander über die Familien vorgestellt und nur 5 Prozent hatten eine Liebesheirat ohne Vermittlung (GGP 21.10.2019; vgl. UKHO 11.2022). Liebesheiraten können mit oder ohne Einverständnis der Eltern stattfinden (UKHO 11.2022). Sozial unerwünschte Ehen sind gemäß pakistanischer Rechtsordnung gültig (ÖB 12.2020; vgl. RLAP 21.5.2022). Auch Frauen können grundsätzlich ohne Einwilligung der Eltern heiraten.
Allerdings werden Ehen, die gegen die Vorgaben des Islams geschlossen werden, nicht anerkannt: So wäre z.B. eine Heirat einer muslimischen Frau mit einem nicht-muslimischen Mann, selbst wenn er einer der Buchreligionen angehört, nicht gültig, der umgekehrte Fall dagegen schon. Als Problem könnte sich bei sozial nicht akzeptierten Ehen allerdings die Anwendung der Hudood-Verordnungen wegen Unzucht erweisen, wobei die Polizei hier häufig nicht auf den Schutz der Betroffenen, sondern vielmehr auf deren Verfolgung bedacht ist. Es existieren in Pakistan keine Institutionen, die vom Staat dezidiert zum Schutz von Personen, die eine solche Art Ehe schlossen, eingerichtet wurden (ÖB 12.2020). Liebesheiraten nehmen zu und werden heutzutage auch als normal gesehen, eine Heirat ohne Einverständnis der Familie allerdings wird im Allgemeinen missbilligt (RLAP 21.5.2022).
Laut Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen werden jedes Jahr etwa 1.000 Frauen bei sogenannten Ehrenmorden getötet (HRW 13.1.2022; vgl. AA 8.8.2022). Unter Ehrenmord wird der Mord an Männern oder Frauen verstanden, die beschuldigt werden, soziale - insbesondere sexuelle - Tabus gebrochen zu haben (FH 2022; vgl. The Diplomat 28.7.2022). Beispielsweise können die selbständige Wahl der Kleidung, der Anstellung oder der Bildung einer Frau, die Weigerung einer Zwangsheirat, eine Scheidung, eine unerwünschte Heirat, eine (angebliche) unerlaubte Beziehung, aber auch Opfer einer Vergewaltigung zu werden, Gründe für einen Ehrenmord sein (The Diplomat 28.7.2022; vgl. AA 8.8.2022). Die Menschenrechtsorganisation HRCP berichtet für das Jahr 2021 anhand der Polizeistatistik von 478 Fälle von Ehrenmorden (HRCP 2022). Viele Fälle werden allerdings nicht gemeldet, schließlich tragen sich diese Verbrechen großteils innerhalb der Familie zu (USDOS 12.4.2022; vgl. AF 2.2021).
Wiewohl Männer und Frauen theoretisch von Ehrenmorden betroffen sein können, dürfte der Großteil der Fälle auf Frauen entfallen (ÖB 12.2020). So wird berichtet, dass sich in den JirgaGerichten, ein auf dem Stammesrecht beruhender Rat in den ehemaligen Stammesgebieten, männliche Angeklagte mit Geldleistungen der Verhängung schwerer Strafen entziehen können, während Frauen bei Verstößen gegen den Sittenkodex hart bestraft werden (AA 8.8.2022). Von den 430 Fällen von Ehrenmorden, welche HRCP für 2020 aus Medienberichten ermittelte, waren 148 männliche und 363 weibliche Opfer (HRCP 2021). Für das Jahr 2021 hat HRCP keine Aufschlüsselung nach Geschlecht vorgenommen, nennt aber einige Beispiele, wo Paare aufgrund einer nicht akzeptierten Ehe/Beziehung ermordet wurden (vgl. HRCP 2022).
Das Gesetz über Ehrenmorde, „Anti-Honour KillingAct“, aus dem Jahr 2004 stellt Ehrentötungen, Karo Kari genannt, unter Strafe. 2016 wurde zusätzlich ein Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozessordnung mit dem Ziel der Reduzierung der Ehrenmorde verabschiedet. Es ist allerdings keine grundlegende Verbesserung der Anwendung eingetreten (AA 8.8.2022; vgl. HRCP 2021). Derartige Straftaten gelten seit der Einführung dieses Änderungsgesetzes als Verbrechen gegen den Staat. Es besteht damit im Fall eines Mordes mit dem Tatmotiv der Ehre nicht mehr die Möglichkeit, dass dem Täter durch die Familie des Opfers unter der Qisas- und Diyat-Verordnung vergeben wird, die Straffreiheit durch eine finanzielle Kompensation für die Familie des Opfers bei Mord und Körperverletzung vorsieht (UKHO 11.2.2020; vgl. The Diplomat 28.7.2022). Das Recht zu vergeben durch Familienangehörige des Opfers (diyat) und damit die Straffreiheit des Täters ist in Bezug auf Ehrenmorde besonders problematisch, da die Täter oft Mitglieder derselben Familie sind (The Diplomat 28.7.2022). Der Strafrahmen für Ehrenmorde wurde außerdem auf eine lebenslängliche Freiheitsstrafe angehoben. Der Implementierung des „Anti Honour Killing Act“ steht unter anderem aber die große Bedeutung des informellen Justizwesens in vielen ländlichen und von Stammesstrukturen geprägten Teilen Pakistans entgegen (ÖB 12.2020). Doch auch in einem staatlichen Gerichtsverfahren obliegt die Entscheidung, ob es sich um einen Mord im Namen der Ehre handelt, dem Richter. Gelingt es den Tätern, diese zu überzeugen, dass ein anderes Motiv bestand, können wiederum die Qisas- und Diyat-Regelungen zur Vergebung angewendet werden (UKHO 11.2.2020; vgl. The Diplomat 28.7.2022). In der überwiegenden Mehrheit der Fälle, in denen es zu einer Strafverfolgung kommt, werden die Angeklagten nach wie vor freigesprochen (AA 8.8.2022). In einigen Fällen ermöglichen es die staatlichen Behörden selbst, den an einem mutmaßlichen „Ehrenverbrechen“ beteiligten Männern zu fliehen. Jedoch berichten Polizei und NGOs, dass die zunehmende Berichterstattung in den Medien es den Strafverfolgungsorganen ermöglicht, gegen derartige Verbrechen vorzugehen (USDOS 12.4.2022).
Es gibt eine Reihe von NGOs, die sich um von Zwangsheiraten betroffene Frauen kümmern, sowie staatliche Einrichtungen wie Crisis Center for Women in Distress und Shaheed Benazir Bhutto Centers for Women, die jeweils einer kurzfristigen Erstbetreuung dienen, wie auch rund 200 Frauenhäuser, die Dar-ul-Amans [Anm.: zu Tätigkeit und Problematiken von Frauenhäusern siehe Kapitel Frauen] (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 12.4.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 AF - Aurat Foundation (2.2021): Annual Report on Violence Against Women and Girls January – December 2020, https://www.af.org.pk/PDF/VAW%20Reports%20AND%20PR/VAWG%20Report %202020.pdf, Zugriff 16.12.2022 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.12.2022 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/docu ment/2071945.html, Zugriff 16.12.2022 GGP Gallup Gilani Pakistan (21.10.2019): Majority of Pakistanis (85%) say they met their spouse through parents or close relatives; only 5% say it was a love marriage, http://gallup.com.pk/wp/w p-content/uploads/2019/10/21st-October-2019-English.pdf, Zugriff 16.12.2022 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 HRCP - Human Rights Commision of Pakistan (2021): State of Human Rights in 2020, http://hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/website-version-HRCP-AR-2020-5-8-2 1_removed.pdf, Zugriff 5.12.2021. HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2066474.html, Zugriff 19.12.2022 ÖB - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (12.2020): Asylländerbericht Pakistan, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2050270/PAKI_%C3%96B-Bericht_2020_12.pdf, Zugriff 5.12.2022 PCSW - Punjab Commission on the Status of Women [Pakistan] (o.D.): Prevention of Anti-Women Practices Act, 2011, https://pcsw.punjab.gov.pk/prevention%20of%20anti%20women%20practice s, Zugriff 10.12.2022 RLAP - Right Law Associates Pakistan (21.5.2022): Love Marriage Or Civil Marriage In Pakistan, https://www.court-marriage.com/love-marriage/, Zugriff 16.12.2022 The Diplomat (28.7.2022): Honor Killings’ Continue Unabated in Pakistan, https://thediplomat.co m/2022/07/honor-killings-continue-unabated-in-pakistan/, Zugriff 16.12.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (11.2022): Country Policy and Information Note Pakistan: Women fearing genderbased violence, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082511/PAK_CPIN_wo men_fearing_gender-based_violence.pdf, Zugriff 16.12.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (11.2.2020): Country Policy and Information Note Pakistan: Women fearing genderbased violence, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025241/Pakista n-Women-CPIN-v4.0_Feb_2020_.pdf, Zugriff 10.12.2021 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 14.7.2022
Kinder
Registrierung und Staatsbürgerschaft
Die Staatsbürgerschaft wird im Allgemeinen über die Geburt im Land bestimmt. Kinder, die nach 2000 im Ausland geboren wurden oder werden, können ihre Staatsbürgerschaft über Abstammung geltend machen, wenn entweder die Mutter oder der Vater Staatsbürger sind und die Kinder bei den zuständigen Behörden registriert sind (USDOS 12.4.2022). Seit 2000 werden auch alle Kinder einer pakistanischen Mutter und eines Vaters mit fremder Staatsbürgerschaft automatisch als pakistanische Staatsbürger betrachtet (UKHO 6.2020). Kinder von Flüchtlingen oder staatenlosen Personen in Pakistan erhalten nicht die Staatsbürgerschaft über die Geburt im Land (USDOS 12.4.2022).
Die Geburtenregistrierung hat sich verbessert, doch waren beim letzten Demographic and Health Survey 2017-18 immer noch 57,8 Prozent aller Unter-5-Jährigen nicht registriert. Pakistan liegt sowohl im internationalen als auch im regionalen Vergleich zurück. Eine Geburtenregistrierung ist für die Ausstellung einer Identitätskarte sowie eines Reisepasses notwendig [siehe auch Kapitel Registrierungswesen] (UniB 16.7.2021). Sie ist damit auch Voraussetzung für den offiziellen Zugang zu vielen staatlichen Dienstleistungen, wie die Einschreibung an öffentlichen Schulen (bolo 9.2022; vgl. CRCA 11.2021).
Schulbesuch
Die Verfassung sieht vor, dass für alle Kinder zwischen dem 5. und 16. Lebensjahr eine Schulpflicht samt kostenlosem Schulbesuch besteht. Dennoch stellen die staatlichen Schuleinrichtungen den Eltern oft Kosten für Bücher, Schuluniformen und andere Materialien in Rechnung (USDOS 12.4.2022). Das Bildungssystem hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Nach wie vor brechen aber zu viele Kinder die Schule vorzeitig ab oder erhalten gar keine Schulbildung (BMZ o.D.). Der Annual Status of Education Report 2021 ergab, dass 19,3 Prozent aller schulpflichtigen Kinder zwischen sechs und 16 Jahren nicht in einer Schule eingeschrieben sind (ASER/ITA 10.3.2022 vgl. HRCP 2022). UNICEF berichtet, dass circa 44 Prozent aller Kinder im Alter von fünf bis 16 keine Schule besuchen (AA 8.8.2022). Schon vor der COVID-19-Pandemie gingen in Pakistan über 5 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur Schule, die meisten von ihnen Mädchen. Gründe für das Fernbleiben vieler Mädchen ist der Mangel an Schulen, die mit dem Schulbesuch verbundenen Kosten, Kinderheirat, schädliche Kinderarbeit und geschlechtsspezifische Diskriminierung (HRW 13.1.2022). Dabei verhindern traditionelle Vorstellungen in den Stammesgebieten oft den Schulbesuch von Mädchen. Aber auch weiter verbreitete kulturelle Vorstellungen gehen davon aus, dass Buben und Mädchen nach der Grundschule getrennt unterrichtet werden sollten. Aber oft gibt es keine getrennten Klassen und es gibt mehr öffentliche Schulen für Buben als für Mädchen. In vielen ländlichen Gebieten sind öffentliche Schulen, insbesondere über die Grundschule hinaus, nicht vorhanden bzw. für Mädchen zu weit weg, um sie nach den herrschenden gesellschaftlichen Normen unbegleitet zu erreichen (USDOS 12.4.2022). Der Bildungsbereich leidet unter einem geringen Budget, fehlender Infrastruktur, Korruption beim Bau von Schulen, disfunktionalen Schulen und Fernbleiben der Lehrer (HRCP 2022). Das Committee on the Rights of the Child (CRC) listet ein geringes Budget für Kinder-, Gesundheits- und Bildungsangelegenheiten als ein Problemfeld im Kinderrechtsbereich auf (ÖB 12.2020).
Die Schulschließungen zum Schutz vor derAusbreitung von COVID-19 betrafen fast 45 Millionen Schüler. Mangelhafte Internetverbindungen behinderten den Onlineunterricht (HRW 13.1.2022). Letzterer kam außerdem nur jenen zu Gute, welche die entsprechende technische Ausstattung hatten. Schüler aus Familien mit niedrigerem Einkommen und außerhalb der großen Städte hatten keinen Zugang zu Onlineunterricht (HRCP 2021; vgl. HRCP 2022). Die längste Phase der allgemeinen Schulschließungen war von März bis August 2020, doch auch danach kam es immer wieder zu Schließungen aufgrund der Pandemie (ASER/ITA 10.3.2022). Nachdem die Schulen wieder öffneten, konnten viele Schüler aufgrund der ökonomischen Probleme, die die Pandemie mit sich brachte, den Unterricht nicht wiederaufnehmen (HRCP 2022).
Für binnenvertriebene Kinder ist es schwierig, nach der Rückkehr in die ehemaligen Konfliktzonen Bildungseinrichtungen zu besuchen. Die Provinzregierung von Khyber Pakhtunkhwa hat einige der 1.800 Schulen in den ehemaligen FATA, wohin eine große Anzahl an Menschen zurückgekehrt ist, wiederaufgebaut. Für die Regierung hat der Wiederaufbau der Schulen und der Schulbesuch der Kinder Priorität. Die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, hat sich verringert (USDOS 12.4.2022).
Die kostenlose und verpflichtende Schulpflicht besteht unabhängig von der Nationalität für alle Kinder zwischen 5 und 16. Theoretisch kann jedes afghanische Flüchtlingskind, das eine Proof of Registration-Karte besitzt, nach Einreichung der entsprechenden Papiere in öffentlichen Bildungseinrichtungen eingeschrieben werden (USDOS 12.4.2022). Der Zugang wird allerdings durch die Verfügbarkeit von Plätzen bestimmt. Die meisten afghanischen Kinder besuchen private Schulen, die durch die internationale Gemeinschaft finanziert werden (USDOS 30.3.2021). Für ältere Schüler, insbesondere Mädchen in den Flüchtlingslagern, ist der Zugang zu Bildung schwierig. Dementsprechend besuchten 2020 nur 20 Prozent der afghanischen Kinder im schulpflichtigen Alter eine Schule; wiederum ein Drittel von diesen eine öffentliche (USDOS 12.4.2022).
Gewalt und Ausbeutung; Kinderarbeit
Häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch sowie sexuelle Ausbeutung von Kindern sind weit verbreitet. Vergewaltigung von Kindern ist ebenfalls verbreitet, darunter auch traditionelle Formen des Missbrauchs von Knaben in den Stammesgebieten (DFAT 25.1.2022). Die Kinderrechtsorganisation Sahil sammelte in einer Auswertung verschiedener Tageszeitungen für das Jahr 2021 Medienberichte zu 3.852 Fällen von sexueller Gewalt gegen Kinder, wozu sie auch 80 Fälle von Kinderheiraten und 1.303 Entführungen zählt, wo die Gefahr des Handels zur sexuellen Ausbeutung besteht. Das ist ein Anstieg von ungefähr 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die Fälle sexuellen Missbrauchs betrafen zu 54 Prozent Mädchen und zu 46 Prozent Buben
(Sahil o.D.a). Die Dunkelziffer dürfte allerdings massiv sein (AA 8.8.2022). Die NGO Sustainable Social Development Organization berichtet für die ersten 10 Monate 2022 von 4.503 bei der bei der Polizei im Punjab angezeigten Fällen von Kindesmissbrauch, wie Entführung, sexueller Missbrauch und Vergewaltigung (SSDO 11.2022). 159 Fälle minderjähriger Opfer sexueller Gewalt vertrat Sahil im Jahr 2021 kostenlos vor Gericht durch seine fünf Rechtshilfebüros. 139 Opfern sexueller Gewalt, darunter auch erwachsene, konnte sie psychologische Beratung bieten (Sahil o.D.b).
Kinderarbeit ist weit verbreitet, unter anderem in der Teppichindustrie, in Steinbrüchen und in der Landwirtschaft. Viele Kinder arbeiten auch in Schuldknechtschaft (DFAT 25.1.2022). Schätzungen gehen von bis zu 12 Millionen Kindern in verschiedenen Formen der Kinderarbeit aus. Mädchen und Buben, die als Hausangestellte arbeiten, werden oft dazu sowie zu langen Arbeitszeiten gezwungen und misshandelt. Viele dieser Kinder sind Opfer von Menschenhandel (USDOS 12.4.2022). Obwohl auf Provinzebene diverse Gesetze gegen Kinderarbeit existieren, findet eine konsequente Strafverfolgung (mit Ausnahme geringer Geldbußen) meist nicht statt, nicht zuletzt, da es sich bei den Arbeitgebern häufig um einflussreiche Personen handelt (AA 8.8.2022).
Maßnahmen zum Schutz von Kindern wurden in einigen Teilen Pakistans eingeführt, darunter der Criminal Law Amendment Act (2016), der sexuellen Missbrauch von Kindern und Kinderpornografie strafrechtlich behandelt, sowie Gesetze gegen Kinderarbeit. Die Maßnahmen werden aber nicht effektiv umgesetzt (DFAT 25.1.2022). Im März 2020 wurde der ZainabAlert, Response and Recovery Act verabschiedet, der durch einen schnellen Eingreifmechanismus Verbrechen gegen Kinder reduzieren soll (HRCP 2021; vgl. Sahil o.D.a). Er stellt Kindesmisshandlung unter Strafe, die bis zu lebenslänglicher Haft reichen kann. In den ersten 6 Monaten nach der Einführung wurden 1.489 Anzeigen registriert, allerdings kam es nur in 20 Fällen zu einer Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021).
Kinderehen, Zwangskonversionen
Kinderheirat ist nach wie vor ein ernstes Problem in Pakistan. 18 Prozent der Mädchen werden vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, 4 Prozent vor dem 15. (HRW 13.1.2022). Für die Provinz Belutschistan ergab eine Analyse des United Nations Population Fund, dass mehr als 21 Prozent aller Frauen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden (HRCP 2022). Bundesgesetze legen das Heiratsalter auf 18 Jahre für Männer und 16 für Frauen fest. Gemäß Provinzgesetz liegt im Sindh das Heiratsalter für beide Geschlechter bei 18 Jahren. In ärmeren, ländlichen Gegenden verkaufen Familien ihre Töchter manchmal in eine Ehe und in einigen traditionellen Konfliktlösungspraktiken werden Mädchen trotz Verbots dieser Praxis zur Beilegung von Konflikten oder zur Tilgung von Schulden übergeben (USDOS 12.4.2022). Der Criminal Law (Third Amendment) Act 2011 führte u.a. eine härtere Bestrafung bestimmter Formen von Kinderzwangsheirat (Wanni, Swara, Budla-a-sulh) ein (ÖB 12.2020). Die Strafen für Kinderehen wurden außerdem 2017 deutlich auf fünf bis zehn Jahre Haft verschärft (USDOS 30.3.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Obwohl Kinderehen und Zwangsehen verboten sind, bleibt in vielen Fällen eine Strafverfolgung begrenzt, und diese Praktiken kommen weiterhin vor (USDOS 12.4.2022).
Verschiedene Minderheitengruppen berichten über Entführungen mit Zwangsheiraten sowie Zwangskonversionen von christlichen, hinduistischen und Sikh-Mädchen durch muslimische Männer (HRCP 2021; vgl. USDOS 2.6.2022, HRCP 2022, HRW 13.1.2022). Die Zahl an Entführungen von Mädchen sollen Berichten zufolge mehrere Hundert pro Jahr betragen und auch sehr junge Mädchen betreffen. Religiöse Minderheiten sind dabei aufgrund ihrer wirtschaftlich marginalen Lage und der Auffassung, ihre Konversion zum Islam wäre wünschenswert, ein besonderes Ziel (DFAT 25.1.2022). Die NGO CSJ sammelte für das Jahr 2021 78 dokumentierte Fälle von Zwangskonversionen an Frauen und Mädchen der christlichen, hinduistischen und Sikh-Minderheit. Mindestens 76 Prozent waren minderjährig, 33 Prozent unter 14 Jahren (CSJ 2.2022). Die Regierung hat wenig unternommen, um solche Verheiratungen zu unterbinden (HRW 13.1.2022).
Marginalisierte Gruppen
Das Familienrecht gibt im Falle einer Scheidung klare Richtlinien vor, unter anderem in Bezug auf das Sorgerecht und Unterhaltsleistungen für minderjährige Kinder.Vielen Frauen sind diese rechtlichen Schutzbestimmungen nicht bekannt oder sie sind nicht in der Lage, zu deren Durchsetzung einen Rechtsbeistand heranzuziehen.Geschiedene Frauen stehen oft ohne jegliche Unterstützung da, weil sie von ihren Familien geächtet werden. Die Regierung unterhält landesweit zahlreiche staatliche Shaheed-Benazir-Bhutto-Frauenschutzzentren für Opfer von Ausbeutung und Gewalt. Von diesen werden die Frauen in eines von landesweit mehreren Hunderten Frauen- und Kinderwohnheimen (Dar-ul-Aman) weitergeleitet (USDOS 12.4.2022).
Außerdem gewähren NGOs Schutz in Frauenhäusern [siehe Kapitel Frauen, u.a. zu Problematiken der Frauenhäuser] (ÖB 12.2020).
Außereheliche sexuelle Beziehungen sind verboten und Kinder, die außerhalb einer Ehe gezeugt wurden, können nicht durch die staatliche Registrierungsbehörde NADRA registriert werden, solange sie nicht unter staatlicher Vormundschaft in einem Waisenheim leben. Außerdem erfahren sie starke gesellschaftliche Stigmatisierung (DFAT 25.1.2022). Für Waisen und Kinder, deren Eltern unbekannt sind, sind spezielle Regelungen für die Registrierung bei der NADRA festgelegt (CSC 1.2021). 4,6 Millionen Kinder in Pakistan sind laut UN Schätzung Waisen (TET 28.4.2021).
Schätzungen zufolge leben in Pakistan zwei Millionen Straßenkinder. Sexueller Missbrauch und Prostitution ist unter diesen weit verbreitet. Oft haben sie bereits vor ihrem Leben auf der Straße Gewalt erfahren. Die Regierung vernachlässigt die Thematik der Straßenkinder (CAPMH 13.11.2021).
Militante Gruppierungen rekrutieren Buben und Mädchen - manche davon erst zwölf Jahre alt - um sie als Späher, Kämpfer oder Selbstmordattentäter einzusetzen. Bei manchen wird den Eltern Geld bezahlt. Oftmals werden die Kinder sexuell und körperlich missbraucht und unter psychischen Druck gesetzt, um sie zu überzeugen, dass die Handlungen, die sie begehen, gerechtfertigt sind (USDOS 30.3.2021). Die Regierung betreibt in Swat eine Einrichtung zur Rehabilitation, Bildung und Wiedereingliederung ehemaliger Kindersoldaten (USDOS 12.4.2022).
Schutzeinrichtungen
Das Committee on the Rights of the Child listet die Einrichtung von nationalen und regionalen Kinderschutzzentren und Rehabilitationszentren für ehemalige Kinderarbeiter und Unterkünfte für Waisenkinder als Erfolg im Kinderrechtsbereich auf. Es gibt allerdings nach wie vor kein Pflegeelternmodell und private Waisen- und Schutzhäuser entsprechen oft nicht den erforderlichen Qualitätsstandards. Mehrere Hilfs- und Kinderrechtsorganisationen sind in den meisten größeren Städten Pakistans tätig (ÖB 12.2020). Pakistan Sweet Homes z.B. bietet in 36 Zentren in mehreren Städten Platz für 3.600 Waisenkinder (PSH o.D.a; vgl. PSH o.D.b). In den SOS Children Villages Pakistan sind um die 2.000 Waisenkinder untergebracht (SOS o.D.). Pakistan Children Relief unterhält Safe Homes für Straßenkinder (PCR o.D.a) und Projekte für die finanzielle Versorgung und Ausbildung von Waisen (PCR o.D.b). Die private Edhi Foundation unterhält Frauenhäuser für Frauen, die häuslicher Gewalt entkommen sind sowie Heime für Waisen und verlassene Kinder (Edhi o.D.a). Die meisten Edhi-Einrichtungen verfügen über Babyklappen für ungewollte Kinder, z.B. aus illegitimen Beziehungen, die an Adoptiveltern vermittelt werden (Edhi o.D.b). Obwohl Adoptionen in einem strikten, westlichen Sinn in Pakistan nicht möglich sind, können Einzelpersonen die rechtliche Vormundschaft für ein Kind über den Guardians and Wards Act übernehmen (Shahid 3.7.2019).
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Sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität
Homosexualität ist gemäß § 377 des pakistanischen Strafgesetzbuchs („gewollter unnatürlicher Geschlechtsverkehr“) verboten. Für eine Verurteilung ist der Beweis des Geschlechtsaktes zwingend erforderlich. Das Strafmaß beträgt im Regelfall zwei bis zehn Jahre Haft, in besonders schweren Fällen bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Laut deutschem Auswärtigem Amt sind keine Strafverfahren gegen männliche oder weibliche Homosexuelle, die Beziehungen auf einvernehmlicher Basis unterhalten, bekannt. Diese können aber leicht Opfer von Erpressungen seitens der Polizeibehörden werden, sofern ihre Beziehungen bekannt werden (AA 8.8.2022). Die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen setzt Männer, die Sex mit Männern haben und Transgender-Personen dem Risiko polizeilicher Übergriffe und anderer Gewalt und Diskriminierung aus (HRW 12.1.2023; vgl. ILGA 1.7.2021).
Der Islam erklärt im Koran Homosexualität zur Sünde und viele Hadithen richten sich dagegen.
Jegliche gesetzliche Änderung in Bezug auf die Rechtslage in Pakistan müsste durch die Begutachtung des Council of Islamic Ideology gehen (ILGA 1.7.2021). Homosexualität wird auch in der Gesellschaft als Sünde und abweichendes Verhalten gesehen (OFPRA 19.8.2021). Grundsätzlich akzeptieren Familien homo- und bisexuelle Individuen nicht, wenn diese sich „outen“. Sie müssen ihre Orientierung verstecken, um Stigmatisierung und Diskriminierung zu vermeiden (ILGA 1.7.2021). Viele denken, dass es eine unmoralische Abweichung ist, über die man hinweg und zurück auf den „geraden“ Weg kommen muss. Das führt dazu, dass viele homosexuelle Männer früh mit Frauen verheiratet werden, entweder freiwillig oder unter Zwang. So werden sie gezwungen, ein Leben zu führen, wie es ihnen von der Gesellschaft zugeschrieben wird (Diplomat 19.4.2021; vgl. ILGA 1.7.2021). Sex zwischen Männern und auch gleichgeschlechtliche Prostitution sind durchaus verbreitet, offene homosexuelle Identitäten allerdings nicht. Angehörige sexueller Minderheiten vermeiden es, offen in Bezug auf ihre Sexualität zu sein, da sie ansonsten mit Kränkungen, Diskriminierung, Ausgrenzung, aber auch mit Gewalt bis hin zu Ehrenmorden oder mit Zwangsheiraten konfrontiert sein können (UKHO 4.2022).
In Pakistan gibt es keine durchgängige, lebhafte Gemeinde von Angehörigen sexueller Minderheiten. Doch Letztere haben gelernt, in Cliquen in einem selbst geschaffenen und vom Rest der Bevölkerung abgeschirmten Raum zu bestehen. Die sozialen Medien bieten dabei eine starke Unterstützung. Durch die wachsende Vernetztheit ist es einfacher geworden, miteinander zu kommunizieren (Diplomat 19.4.2021; vgl. UKHO 4.2022). Homo- und bisexuelle Personen können zwar nicht offen als solche auftreten, sie organisieren sich aber virtuell über soziale Medien wie Facebook oder Chat-Applikationen wie WhatsApp in Gruppen, bevor sie sich physisch treffen. Die Gruppen sind geheim und nur Angehörige sexueller Minderheiten werden hinzugefügt. Dies dient zum Austausch, aber auch zur gegenseitigen Unterstützung. Im Vergleich zu früher ist die Gemeinschaft gestärkt (ILGA 1.7.2021).
In reicheren Gegenden können die Mitglieder der Community ohne Angst leben (LAB 13.8.2022). Ein kleiner Teil der Gesellschaft akzeptiert homo- und bisexuelle Personen. Die meisten dieser Menschen gehören zur privilegierten Schicht, doch auch sie können nicht offen für die Rechte von Homo- und Bisexuellen eintreten. Mehrere Organisationen und Bewegungen arbeiten für die Rechte von Homo- und Bisexuellen, doch veröffentlichen sie ihre Arbeit nicht, da sie Stigmatisierung fürchten. Die Mitglieder dieser Organisationen kommen hauptsächlich aus der Gemeinschaft sexueller Minderheiten. Es gibt auch Allianzen mit der feministischen Bewegung. Sie arbeiten unter dem Deckmantel der Transgender-Rechtsbewegung (ILGA 1.7.2021). Lokale NGOs im Bereich sind z.B. Naz Health Alliance, O Collective, Forum for Dignity Initiatives und Track T (LAB 13.8.2022).
Der Islam akzeptiert das Phänomen der Intersexualität. In der Bevölkerung werden intersexuelle und Transgender-Personen als dieselbe Kategorie wahrgenommen, wodurch Transgender unter dem Deckblatt des Phänomens der Intersexualität wahrgenommen werden, das als „khawaja sira“ bekannt ist. Grob gesprochen ist die Lage für Transgender-Personen besser als für homo- und bisexuelle Menschen. Transgender- und intersexuelle Personen verfügen über einen rechtlichen Schutz und Unterstützung durch den Staat. Im Transgender Persons (Protection of Rights) Act (TGPA) aus dem Jahr 2018 wurden die Rechte von Transgender-Personen und deren Schutz festgehalten (ILGA 1.7.2021; vgl. UKHO 4.2022). Das Gesetz gewährt ihnen das Recht, entsprechend ihrer selbst wahrgenommenen geschlechtlichen Identität anerkannt zu werden. Es sieht Grundrechte vor und verbietet Belästigung und Diskriminierung von Transgender-Personen in den Bereichen Beschäftigung, Wohnung, Bildung, Gesundheitsversorgung und bei anderen Diensten (USDOS 20.3.2023). Das Gesetz verpflichtet den Staat zum Schutz der Rechte von Transgender- Personen, darunter das Versammlungsrecht, das Recht auf Sozialeistungen und auf Teilnahme am kulturellen Leben. Laut diese Gesetz dürfen ihre selbst gewählte Geschlechtsidentität in ihrem Personalausweis (CNIC) eintragen lassen, der ein drittes Geschlecht vorsieht. Ein Recht auf eine Ehe wird nicht erwähnt. Für die Umsetzung des TGPA werden in Konsultationen mit Mitgliedern der Gemeinschaft Richtlinien auf Provinzebene entwickelt. Jedoch setzen weder die föderale Regierung noch die Provinzregierungen Schritte für eine effektive Implementierung des TGPA (ILGA 1.7.2021; vgl. UKHO 4.2022).Der Federal Shariat Court hat allerdings im Mai 2023 einige Artikel des Gesetzes als entgegen den Prinzipien des Islams stehend für ungültig erklärt. Diese betreffen die selbstständige Wahl des Geschlechts als männlich oder weiblich. Er bestätigte allerdings den Schutz vor Diskriminierung und die Möglichkeit affirmativer Maßnahmen für intersexuelle Personen (Dawn 19.5.2023). Ein entsprechendes Gesetz zum Schutz der Rechte aller Angehörigen sexueller Minderheiten gibt es nicht (USDOS 20.3.2023).
Die Regierung hat auch bei Stellenanzeigen das Konzept der drei Geschlechter übernommen und spricht sowohl Männer und Frauen als auch Transgender an. Anstellungsmöglichkeiten für Transgender sind in beschränktem Ausmaß vorhanden. Auch wenn es verschiedene Grade der Diskriminierung gibt, herrscht gegenüber Transgender- und intersexuellen Personen in Gesellschaft und Kultur eine gewisse Akzeptanz. In der Gesellschaft ist es möglich, über das Thema zu sprechen - im Gegensatz zum Thema der Homosexualität (ILGA 1.7.2021). BeimAurat-Frauenmarsch wurden Transgender inkludiert. Einige Organisationen halten im Zuge der Implementierung des TGPA für die Polizei, Gesundheitsdienstleister, Medien und andere gesellschaftliche Bereiche Schulungen ab, um Diskriminierung entgegenzuwirken (ILGA 1.7.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Im Sindh wurde im Juli 2022 eine Quote von 0,5 Prozent für Anstellungen von Transgender-Personen im öffentlichen Dienst beschlossen (USDOS 20.3.2023).
Gewalt und Diskriminierung gegen Angehörige sexueller Minderheiten halten allerdings an. Die Verbrechen werden oft nicht gemeldet, und die Polizei unternimmt im Allgemeinen wenig, wenn sie Meldungen erhält (USDOS 20.3.2023; vgl. HRW 12.1.2023). Die Gesellschaft grenzt Transgender, Eunuchen und Intersexuelle generell aus. Die Behörden verweigern Transgender-Personen oft ihren Anteil am Erbe sowie den Zugang zu Schulen und Krankenhäusern. Außerdem weigern sich Eigentümer häufig, ihnen Unterkünfte zu vermieten. Es gibt zwar Gemeinschaften von bekennenden Transgenderfrauen, diese werden aber marginalisiert und häufig Ziel von Gewalt und Belästigung (USDOS 20.3.2023). Viele Transgender werden von ihren Familien verstoßen und gehen aufgrund mangelnder anderer Auskommensmöglichkeiten der Prostitution nach (UKHO 4.2022). Nach Angaben lokaler Menschenrechtsgruppen wurden zwischen den Jahren 2015 und 2020 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa mindestens 65 Transgenderfrauen getötet (HRW 13.1.2021; vgl. UKHO 4.2022). Im Jahr 2022 wurden in der Provinz mindestens sieben Transgender-Personen getötet (HRW 12.1.2023).
2020 startete die Polizei in Rawalpindi ein Pilotprojekt zum Schutz von Transgender-Personen. Das Projekt mit der Bezeichnung „Tahafuz-Center“ umfasste den ersten Opferschutzbeauftragten für Transgender. Dieser ist selbst Mitglied der Transgendergemeinschaft. 2022 richtete auch Islamabad ein „Tahafuz-Center“ ein. In mehreren Provinzen wurden Sensibilisierungsschulungen für Polizisten abgehalten, darunter auch in Khyber Pakhtunkhwa (USDOS 20.3.2023).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 Dawn (19.5.2023): Gender can’t be changed at will, FSC rules on pleas against transgender law, https://www.dawn.com/news/1754350, Zugriff 13.7.2023 HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Pakistan, https://www.hrw.org/worl d-report/2023/country-chapters/pakistan, Zugriff 13.7.2023 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Pakistan, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2043507.html, Zugriff 12.12.2022 ILGA - International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (1.7.2021): Disapproval and rejection: The LGBTIQ struggle for freedom bounded by social and religious beliefs in Pakistan, https://static1.squarespace.com/static/5a84777f64b05fa9644483fe/t/60dd681a1fa553242243d217/1625122864378/Pakistan_Country_Report_ILGAAsia_2021.pdf, Zugriff 12.12.2022 LAB - Los Angeles Blade (13.8.2022): Pakistan’s LGBTQ intersex communities forge ahead, https://www.losangelesblade.com/2022/08/13/pakistans-lgbtq-intersex-communities-in-forge-ahead/, Zugriff 29.12.2022 OFPRA- Office Français de Protection des Réfugiés etApatrides [Frankreich] (19.8.2021): Pakistan: L’accès à la pornographie gay sur Internet, https://www.ofpra.gouv.fr/libraries/pdf.js/web/viewer.html?file=/sites/default/files/ofpra_flora/2108_pak_marche_du_pornogay_15317_web.pdf, Zugriff 29.12.2022 Diplomat - The Diplomat (19.4.2021): The Flickering Edge of Hope: Pakistan’s LGBTQ+ Community Battles Prejudice and Discrimination, https://thediplomat.com/2021/04/the-flickering-edge-of-hop e-pakistans-lgbtq-community-battles-prejudice-and-discrimination/, Zugriff 12.12.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (4.2022): Country Policy and Information Note Pakistan:Sexual orientation and gender identity and expression, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071265 /Pakistan_Sexual_orientation_and_gender_identity_or_expression.pdf, Zugriff 29.12.2022 USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practic es/pakistan/, Zugriff 13.7.2023
Bewegungsfreiheit
Per Gesetz sind die Bewegungsfreiheit im Land sowie ungehinderte internationale Reisen, Emigration und Repatriierung gewährleistet. Diese Rechte werden allerdings eingeschränkt (USDOS 12.4.2022). Die Behörden beschränken aus Sicherheitsbedenken regelmäßig interne Bewegungen bzw. Reisen in einigen Teilen des Landes (FH 2022). So ist der Zugang zu bestimmten Gebieten der ehemaligen FATA und Belutschistans - aufgrund von Sicherheitsbedenken eingeschränkt. Für Reisen in Gebiete, die als sensibel eingestuft werden, ist ein beglaubigtes „No-Objection-Certificate“ notwendig (USDOS 12.4.2022). Innerhalb sensibler Gebiete ist die Bewegungsfreiheit auch durch Checkpoints eingeschränkt (HRCP 2022). In den Wochen vor und während der Gedenkfeierlichkeiten zum schiitischen Trauermonat Muharram werden außerdem die Bewegungs- und Reisefreiheit sowie die Aktivitäten von gelisteten Klerikern unterschiedlicher Sekten eingeschränkt, denen Aufwiegelung von konfessionell motivierten Spannungen vorgeworfen wird. Es wird angegeben, damit Gewalt vermeiden zu wollen (USDOS 2.6.2022).
Das Hauptinstrument zur Einschränkung von Auslandsreisen ist die Exit Control List (ECL), die namentlich genannte Personen von der Nutzung der offiziellen Ausreisepunkte des Landes ausschließt (FH 2022). Personen auf der ECL ist es verboten, ins Ausland zu reisen. Diese Liste soll Personen, welche in staatsfeindliche Aktivitäten und Terrorismus involviert sind oder in Verbindung zu einer verbotenen Organisation stehen bzw. jene, gegen die ein Strafverfahren vor höheren Gerichten anhängig ist, von Auslandsreisen abhalten (USDOS 12.4.2022; vgl. DFAT 25.1.2022). Regelmäßig wird die ECL allerdings als Mittel zur Kontrolle Andersdenkender eingesetzt (FH 2022). Laut Zivilgesellschaft befinden sich auch Menschenrechtsverteidiger und Kritiker der Regierung und des Militärs auf der Liste. Es ist möglich, vor Gericht Einspruch zu erheben und seinen Namen streichen zu lassen (USDOS 12.4.2022). Für Personen, die auf der Liste stehen, ist es schwierig, aber nicht unmöglich, z.B. über illegale Wege das Land zu verlassen (DFAT 25.1.2022).
Regierungsangestellte und Studenten müssen laut Richtlinien vor Reisen ins Ausland ein sogenanntes No-Objection-Certificate einholen, doch von Studenten wird dies selten tatsächlich verlangt (USDOS 12.4.2022).
Ausweichmöglichkeiten
Interne Migration ist weit verbreitet und üblich. Große Städte, wie Karatschi, Islamabad und Lahore haben eine ethnisch und religiös diverse Bevölkerung und bieten für jene Menschen eine gewisse Anonymität, die vor Gewalt durch nicht-staatliche Akteure fliehen (DFAT 25.1.2022; vgl. AA 8.8.2022). Es gibt zahlreiche große Städte mit einer Bevölkerungsgröße von 1 bis 16 Millionen. Karatschi ist die zwölftgrößte Stadt der Welt und ethnisch besonders divers (UKHO 6.2020).
Schiiten sind über das ganze Land verteilt, und es gibt große schiitische Gemeinschaften in den großen Städten (UKHO 7.2021). Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara leben in Pakistan beinahe ausschließlich in der Provinz Belutschistan, die meisten in Quetta (AA 8.8.2022). Einige weitere Gemeinschaften finden sich insbesondere in den großen Städten, wie Karatschi. Diese können in der Einschätzung des britischen Innenministeriums je nach individuellen Umständen eine Ausweichmöglichkeit ergeben (UKHO 7.2022). Die Minderheit ist allerdings aufgrund ihrer zentralasiatischen Abstammung leicht zu identifizieren. Nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes sind inländische Ausweich- oder Fluchtmöglichkeiten zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, erscheinen aber im Falle der Hazara aus Belutschistan deutlich beschränkt (AA 8.8.2022).
Ahmadis bietet ein Umzug nach Rabwah, ihrem religiösen und administrativen Zentrum, nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes einen erheblichen Schutz vor Repressionen, weil sie dort weitgehend unter sich sind, auch wenn sie für ihre Gegner sichtbar sind (AA 8.8.2022). Rabwah erlaubt damit einen größeren Grad an Freiheit, doch durch die große Anzahl anAhmadis ist sie auch ein Ziel für ihre Gegner (UKHO 9.2021). FürAhmadis besteht ebenso die Möglichkeit, in den Schutz größerer Städte zu fliehen, falls es sich nicht um Menschen handelt, die überregional bekannt geworden sind. Dies sehen auch Vertreter unabhängiger pakistanischer Menschenrechtsorganisationen als grundsätzliche Ausweichmöglichkeit (AA 8.8.2022).
Die staatlichen Gesetze betreffend derAhmadiyya-Glaubensauslegung allerdings gelten in ganz Pakistan und damit auch in Rabwah (UKHO 9.2021).
Verfolgte Angehörige der christlichen Minderheit haben generell Ausweichmöglichkeiten in andere Landesteile - abgesehen von Fällen, die überregional bekannt geworden sind (AA 8.8.2022).
Für Angehörige aller Gruppen gilt, dass ein Ausweichen oft das Aufgeben der bisherigen wirtschaftlichen Basis mit sich bringt (AA 8.8.2022). Die Möglichkeit, in einer neuen Umgebung Fuß zu fassen, hängt von finanziellen Mitteln sowie familiären, tribalen und/oder ethnischen Netzwerken ab. Für alleinstehende Frauen ist es schwierig, umzusiedeln (DFAT 25.1.2022).
Alle größeren Städte sind mit Autobahnen verbunden. Die Hauptbahnroute verläuft mehr als 1.600 Kilometer quer durchs Land von Karatschi nach Peschawar, via Lahore und Rawalpindi. Eine weitere Hauptbahnlinie verläuft nordwestlich von Sukkur nach Quetta. Die Hauptflughäfen sind Karatschi, Lahore, Rawalpindi, Quetta und Peschawar (EB 6.1.2023; vgl. UKHO 6.2020).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.2.2022 EB - Encyclopedia Britannica (6.1.2023): Pakistan, Economy, https://www.britannica.com/place/P akistan/Labour-and-taxation, Zugriff 12.1.2023 FH - Freedom House (2022): Freedom in the World 2022 - Pakistan, https://www.ecoi.net/en/do cument/2071945.html, Zugriff 11.1.2023 HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (2022): State of Human Rights in 2021, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2022-State-of-human-rights-in-2021.pdf, Zugriff 2.9.2022 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (7.2022): Country Policy and Information Note Pakistan: Hazaras, https://www.ecoi.net/en/file/local/2076103/Country_policy_and_information_note_Hazar as__Pakistan__July_2022.pdf, Zugriff 11.1.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (9.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Ahmadis https://www.ecoi.net/en/file/local/2059923/PAK_CPIN_Ahmadis.pdf, Zugriff 2.1.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (7.2021): Country Policy and Information Note Pakistan: Shia Muslims, https://www.ecoi.net/en/file/local/2055925/Pakistan-Shia_Muslims-CPIN-v3.0_July _2021_.pdf, Zugriff 3.1.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (6.2020): Country Policy and Information Note Pakistan: Background information, including internal relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2032936/Pakistan-Background_and_IFA-CPIN-v1.0_June_2020_.pdf, Zugriff 2.1.2023 USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2073961.html, Zugriff 3.8.2022 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 3.8.2022
Registrierungswesen
Ein dem deutschen vergleichbares Meldewesen existiert nicht, und es ist kein zentrales Personenstandsregister vorhanden. Es gibt keine zentralen Informations- oder Fahndungsregister, nur regionale in den jeweiligen Provinzen sowie Bundesbehörden - und auch diese werden unvollständig bestückt. Haftbefehle werden nur eingetragen, wenn ausdrücklich erbeten, was oftmals nicht geschieht. Es gibt ein Datensystem der Bundespolizei FIA, worin ebenfalls Personen aufgenommen werden können, die bei der Ausreise überprüft oder festgenommen werden sollen (AA 8.8.2022).
Identitätskarten (NIC) sind verpflichtend vorzuweisen, um Dokumente (z.B. Führerschein, Reisepass) zu erhalten, ein Bankkonto zu eröffnen, sich als Wähler registrieren zu lassen, Wohnungen zu kaufen oder einer legalen Anstellung nachzugehen. Identitätskarten werden allen Bürgern ab dem 18. Lebensjahr auf Antrag ausgestellt. Die für die Ausstellung zuständige Behörde ist die National Database and Registration Authority (NADRA). Beim Registrierungsprozess werden auch Daten wie die Religionszugehörigkeit sowie die permanente und temporäre Adresse erhoben. Die Computerised National Identity Cards (CNIC) sollen allmählich durch die Smart National Identity Card (SNIC) ersetzt werden. Derzeit sind beide gültig (DFAT 25.1.2022). 95 Prozent aller erwachsenen Pakistani sind laut Angaben der NADRA mit den Identitätskarten registriert (BRG 11.2.2022). 2022 berichteten Medien allerdings, dass in mehreren Tausend Fällen ausländische Staatsbürger - überwiegend Afghanen - durch Betrug eine CNIC erlangen konnten (BRG 14.10.2022; vgl. Samaa TV 11.10.2022, Dawn 20.12.2022).
Für im Ausland lebende pakistanische Staatsbürger ist es möglich, bei der NADRA online eine „National Identity Card for Overseas Pakistanis“ zu beantragen (DFAT 25.1.2022; vgl. NADRA o.D.a).
Unter-18-Jährige können eine Juvenile Card beantragen (NADRA o.D.b). Geburten können bei der NADRA oder den dafür zuständigen lokalen Behörden der Provinzregierungen, meist sind dies Union Councils in Kooperation mit der NADRA, registriert und dementsprechend Geburtsurkunden ausgestellt werden (CSC 1.2021). Spitäler stellen automatisch Geburtsurkunden für die bei ihnen geborenen Kinder aus. Außerhalb der Spitäler gibt es keinen automatischen Geburtenregistrierungsprozess, und es gibt keine zentrale Datenbank. UNICEF schätzte 2019, dass 60 Millionen Kinder in Pakistan nicht registriert sind (DFAT 25.1.2022). Der Demographic and Health Survey 2017-18 ergab, dass 57,8 Prozent aller Unter-5-Jährigen nicht registriert sind (UniB 16.7.2021).
Die Proof of Registration Card (PoR), der Identitätsnachweis der circa 1,4 Millionen durch Pakistan registrierten afghanischen Flüchtlinge, wird ebenfalls durch die NADRA ausgestellt. Über-5Jährige erhalten eine eigene Karte, Unter-5-Jährige werden bei den Eltern vermerkt. Im Rahmen des DRIVE-Programms führt die NADRA mit Unterstützung des UNHCR eine aktualisierte Registrierung durch und stellt dabei allen PoR-Karten Besitzern neue, biometrische Smartcards aus (TRAFIG 31.8.2021; vgl. UNHCR 14.1.2022a).
Die Provinzen Belutschistan, Khyber Pakhtunkhwa, Punjab und Sindh sowie das Hauptstadtterritorium Islamabad haben ein System für die Registrierung von Mietern, Hotelgästen bzw. temporären Bewohnern. Die Mieterregistrierung ist verpflichtend und findet auf der lokalen Polizeistation statt (IRB 23.1.2018; vgl. UKHO 6.2020, PKM o.D.). Zweck dieser „Information of Temporary Residents Acts“ ist es, die Möglichkeiten für Terroristen, Wohnungen, Hotelzimmer und Unterkünfte zu mieten, zu vermindern. Bei Mietverträgen ist es die Pflicht des Mieters oder Vermieters, der Polizei zusammen mit dem Mietvertrag vollständige Angaben über den Mieter zu machen. Hotels und Hostels sind verpflichtet, Informationen über ihre Gäste für die Polizei jederzeit einsehbar zu halten. Nach Razzien wurden wegen einer Nicht-Einhaltung dieser Vorschriften mitunter Strafen verhängt. Insgesamt wird das Mietermeldesystem allerdings nicht breit umgesetzt, und nur wenige Personen registrieren ihre Mietübereinkünfte bei den Behörden (IRB 23.1.2018). Die Einführung der verpflichtenden Meldung bei der Polizei und die Androhung hoher Strafen hat allerdings z.B. dazu geführt, dass Immobilienbesitzer im Punjab und in Islamabad zögerlich wurden, an Afghanen zu vermieten. Verstärkt wurde dies, nachdem durch den NationalenAktionsplan gegen Terrorismus Untersuchungen gegen die pakistanischen Hausbesitzer durchgeführt wurden (TRAFIG 31.8.2021).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.8.2022 BRG - Biometrics Research Group, Inc. / BiometricUpdate.com (14.10.2022): NADRA cracks down on suspect IDs, collects biometrics from relatives https://www.biometricupdate.com/202210/nadra -cracks-down-on-suspect-ids-collects-biometrics-from-relatives, Zugriff 11.1.2023 BRG - Biometrics Research Group, Inc. / BiometricUpdate.com (11.2.2022): NADRA goes all out for handling complaints, https://www.biometricupdate.com/202202/nadra-goes-all-out-for-handlin g-complaints, Zugriff 22.2.2022CSC - Consortium for Street Children (1.2021): Pakistan - Legal Identity, https://www.streetchildr en.org/legal-atlas/map/pakistan/legal-identity/can-a-child-obtain-retroactive-or-replacement-birth -registration-documents/, Zugriff 11.1.2023 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 22.2.2022 Dawn (20.12.2022): CNICs and security, https://www.dawn.com/news/1727332, Zugriff 11.1.2023 IRB - Immigration and Refugee Board [Kanada] (23.1.2018): Pakistan: Tenant registration systems, including implementation; whether authorities share information on tenant registration (2015-December 2017), https://www.refworld.org/docid/5aa8d84a7.html, Zugriff 22.2.2022 NADRA - National Database and Registration Authority [Pakistan] (o.D.a): National Identity Card for Overseas Pakistanis (NICOP), https://www.nadra.gov.pk/identity/identity-nicop/, Zugriff 11.1.2023 NADRA - National Database and Registration Authority [Pakistan] (o.D.b): Juvenile Card (JV), https://www.nadra.gov.pk/identity/identity-jvc/, Zugriff 11.1.2023 Punjab Police Khidmat Markaz [Pakistan] (o.D.): Our Services - Tenants Registration, https://pkm. punjab.gov.pk/public/app/our_services?id=i, Zugriff 11.1.2023 Samaa TV (11.10.2022): NADRA launches probe after 8,000 foreigners found holding fake Pakistani nationality, https://www.samaaenglish.tv/news/40019063, Zugriff 11.1.2023 TRAFIG - Transnational Figurations of Displacement (31.8.2021): Figurations of Displacement in and beyond Pakistan: Empirical findings and reflections on protracted displacement and translocal connections of Afghans, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/TRAFIG%20Worki ng%20Paper%20No%207%20-%20Pakistan.pdf, Zugriff 11.1.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (6.2020): Country Policy and Information Note Pakistan: Background information, including internal relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2032936/Pakistan-Background_and_IFA-CPIN-v1.0_June_2020_.pdf, Zugriff 11.1.2023 UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (14.1.2022a): Pakistan - Country Factsheet (January 2022), https://data2.unhcr.org/en/documents/details/90451, Zugriff 24.2.2022 UniB - University of Birmingham / Idris Iffat (16.7.2021): Increasing birth registration for children of marginalised groups in Pakistan, https://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/handle/20.500.12 413/16747/988_Increasing_birth_registration_for_children_from_marginalised_groups_in_Pakista n.pdf?sequence=1 isAllowed=y, Zugriff 11.1.2023
IDPs und Flüchtlinge
IDPs
Swohl Umweltkatastrophen aufgrund der geografischen und klimatischen Lage als auch Gewalt sind Gründe für interne Vertreibungen (IDMC 19.5.2022).
IDPs aufgrund der Flut 2022
Im Zuge der Flutkatastrophe 2022 sind insgesamt mindestens 7,9 Millionen Menschen von vertrieben worden. Mit Stand 2. Jänner 2023 galten in der Provinz Sindh immer noch 89.000 Menschen - im Vergleich zu 6,5 Millionen Menschen im September - als vertrieben (CDP 12.1.2023). In der Provinz Belutschistan waren mit Stand Jänner 2023 weiterhin 116.000 Menschen als Vertriebene registriert. Einer Analyse der UN-Satellitenauswertung zufolge sind 5 Millionen Menschen weiterhin von der Überflutung betroffen oder leben in deren Nähe (UNOCHA 9.1.2023). Es bleibt weiterhin ein humanitärer Hilfsbedarf bestehen, sowohl vonseiten der Rückkehrenden als auch der weiterhin Vertriebenen. Mehr als 2 Millionen Häuser wurden zerstört (UNOCHA 9.12.2022). Die Grundbedürfnisse der Menschen in den am stärksten von den Überschwemmungen betroffenen Gebieten, einschließlich des Zugangs zu Grundnahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und sauberem Trinkwasser, sind nicht ausreichend abgedeckt. Viele Menschen leben auch weiterhin in Zelten und behelfsmäßigen Behausungen, was sie in den Wintermonaten noch vulnerabler macht [Zur Beschreibung der Ausmaße, Schäden und Auswirkungen, inklusive für IDPs siehe Kapitel Flutkatastrophe 2022] (MSF 9.1.2023).
IDPs aufgrund der militanten Aktivitäten und militärischen Operationen
Große Bevölkerungsvertreibungen gehen auch auf militante Aktivitäten und militärische Operationen gegen nicht-staatliche bewaffnete Gruppen in den früheren Federally AdministeredTribal Areas (FATA) und Khyber Pakhtunkhwa zurück (USDOS 12.4.2022). Dies betrifft hauptsächlich den Zeitraum zwischen 2007 und 2014 (IDMC o.D.). Die Zahl der aufgrund dieser Gewalt Intern-Vertriebenen (IDPs) ist seitdem stark zurückgegangen, das International Displacement Monitoring Centre (IDMC) beziffert sie mit Ende 2020 auf 98.000 (IDMC 19.5.2022). EASO (nunmehr EUAA), benennt mit Stand August 2021 die Größenordnung dieser Gruppe mit 16.483 registrierten Familien, wobei laut dieser Aufstellung nur aus Nord-Waziristan und Khyber die Rückkehr noch nicht abgeschlossen war (EASO 10.2021). Mit Stand 31. Jänner 2021 schätzt IDMC die Zahl der IDPs aufgrund von Gewalt in Pakistan auf 104.000. Diese Zahl inkludiert jene aus der ehemaligen FATA, die weiterhin mit 98.000 angenommen wird (IDMC o.D.).
Die Rückkehr wird unter verbesserten Sicherheitsbedingungen fortgesetzt. Es gibt keine Berichte über unfreiwillige Rückkehrer. Berichten zufolge wollen viele IDPs in ihre Heimat zurückkehren, trotz des Mangels an lokaler Infrastruktur, Unterkünften und verfügbaren Dienstleistungen, sowie der strengen Kontrolle, die die Sicherheitskräfte durch umfangreiche Kontrollpunkte über die Bewegungen der Rückkehrer ausüben. Andere IDP-Familien zögern hinsichtlich einer Rückkehr oder entscheiden sich dafür, dass Familienmitglieder in den sogenannten „settled areas“ von Khyber Pakhtunkhwa bleiben, wo ein regulärer Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und anderen sozialen Diensten möglich ist. Für ehemals binnenvertriebene Kinder ist es schwierig, nach der Rückkehr in die ehemaligen Konfliktzonen Bildungseinrichtungen zu besuchen. Die Provinzregierung von Khyber Pakhtunkhwa hat einige der 1.800 Schulen in den ehemaligen FATA, wo eine große Anzahl an Menschen zurückgekehrt ist, wiederaufgebaut. Die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, hat sich verringert (USDOS 12.4.2022).
Für IDPs, die nicht zurückkehren wollen oder können, koordinieren die Regierung, UN und andere internationale Organisationen Unterstützungsleistungen. Die Regierung und UN-Organisationen wie der UNHCR, UNICEF und das Welternährungsprogramm arbeiten zusammen, um Personen zu unterstützen und zu schützen, die durch die Auseinandersetzungen betroffen sind.
Diese leben im Allgemeinen bei Gastfamilien, in gemieteten Unterkünften oder - in geringerem Umfang - in Lagern. Viele IDPs leben auch in informellen Siedlungen außerhalb der größeren Städte (USDOS 12.4.2022).
IDPs gehören zu jenen Bevölkerungsgruppen, die besonders von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. Viele haben Schwierigkeiten beim Zugang zu grundlegenden staatlichen Dienstleistungen. 64 Prozent der IDPs in Khyber Pakhtunkhwa haben einer Erhebung des IDMC zufolge keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, 47 Prozent benutzen verunreinigtes Wasser. Der Zugang zu Registrierung und Dokumentation ist im Punjab und in Sindh kompliziert, da viele Menschen ohne ihre ID-Karten geflohen waren. Es existieren Familienzusammenführungsprogramme (IDMC 3.11.2021). Medien behandelten im Jahr 2021 häufig Proteste von Menschen aus den ehemaligen Stammesgebieten, die noch keine Kompensation für ihre zerstörten Häuser oder Geschäfte erhalten haben (EASO 10.2021).
Aufgrund der Zunahme der Aktivitäten militanter Gruppen kam es im Tirah-Tal der Stammesgebiete außerdem im Herbst 2022 erneut zur behördlich angeordneten Räumung einzelner Dörfer, für welche die Rückkehr erst kurz zuvor freigegeben worden war (Dawn 22.9.2022; vgl. IDMC 22.9.2022, PIPS 11.1.2023). Laut Schätzung von IDMC betraf dies 680 Personen (IDMC 22.9.2022).
Quellen: CDP - Center for Disaster Philanthropy (12.1.2023): 2022 Pakistan Floods, https://disasterphilanth ropy.org/disasters/2022-pakistan-floods/, Zugriff 27.1.2023 Dawn (22.9.2022): Khyber jirga rejects peace bodies, opposes military action in Tirah, https://www.dawn.com/news/1711315/khyber-jirga-rejects-peace-bodies-opposes-military-action-in-tirah, Zugriff 6.2.2023 EASO - European Asylum Support Office [jetzt: EUAA - European Asylum Agency] (10.2021): Pakistan Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063078/2021_10_EASO_COI_Re port_Pakistan_Security_situation.pdf, Zugriff 6.2.2023 IDMC - International Displacement Monitoring Centre (22.9.2022): Country Profile Pakistan - Internal Displacement Updates, https://www.internal-displacement.org/countries/pakistan#internal-dis placement, Zugriff 6.2.2023 IDMC - International Displacement Monitoring Centre (19.5.2022): Country Profile Pakistan - Overview, herunterzuladen unter: https://www.internal-displacement.org/countries/pakistan#internal-d isplacement, Zugriff 6.2.2023 IDMC - International Displacement Monitoring Centre (3.11.2021): Severity of internal displacement, 2021 Report, https://www.internal-displacement.org/sites/default/files/publications/documents/202 1.11.04_IDMC_SeverityOfDesplacement2021Report.pdf, Zugriff 6.2.2023 IDMC - International Displacement Monitoring Centre (o.D.): Figures Analysis 2021 - Pakistan Displacement associated with Conflict and Violence, https://www.internal-displacement.org/sites/ default/files/figures-analysis-2021-pak.pdf, Zugriff 6.2.2023 MSF - Médecins Sans Frontières (9.1.2023): Pakistan flood response is still „an emergency“, https: //www.msf.org/flood-emergency-pakistan-far-over, Zugriff 27.1.2023 PIPS - Pak Institute for Peace Studies (11.1.2023): Pakistan Security Report 2022, https://pakpips. com/app/reports/wp-content/uploads/2022/01/Safdar_ASR-22-reviewed.pdf, Zugriff 20.1.2023 UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (9.1.2023): Pakistan: 2022 Monsoon Floods - Situation Report No. 13 (As of 6 January 2023), herunterzuladen unter: ht tps://reliefweb.int/report/pakistan/pakistan-2022-monsoon-floods-situation-report-no-13-6-january-2023?_gl=1*1gkabfz*_ga*MjA5MTI1NzQxMS4xNjc0MTQyMTc2*_ga_E60ZNX2F68*MTY3NDE0MjE3NS4xLjEuMTY3NDE0MjI4OS4xNi4wLjA, Zugriff 27.1.2023 UNOCHA (9.12.2022): Pakistan 2022 Floods Response Plan Interim Report: Sep – Nov 2022, https://reliefweb.int/report/pakistan/pakistan-2022-floods-response-plan-interim-report-sep-nov-2 022-issued-09-dec-2022, Zugriff 27.1.2023 USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Pakistan, https://www.ecoi.net/en/document/2071127.html, Zugriff 1.8.2022
Afghanische Flüchtlinge
Rechtlicher Status
Pakistan hat kein nationales Asylsystem und ist kein Unterzeichnerstaat der Flüchtlingskonvention von 1951, allerdings blickt es auf eine 40 Jahre währende Tradition des Schutzes afghanischer Flüchtlinge zurück (UNHCR 10.8.2023; vgl. AA 21.9.2023). Die Regierung arbeitet dazu mit UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen (USDOS 20.3.2023). Afghanische Flüchtlinge wurden [bisher] vom Fremdengesetz ausgenommen und gegenüber den registrierten afghanischen Flüchtlingen hielt Pakistan das Non-Refoulement ein (UNHCR 16.3.2023).
Insgesamt schätzt UNHCR die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf 3,7 Millionen (UNHCR 27.10.2023), womit es eines der weltweit größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen ist (AA 21.9.2023). Diese unterteilen sich nach ihrem rechtlichen Status in drei Kategorien (VB Islamabad 6.5.2021):
Zum einen sind dies registrierte afghanische Flüchtlinge. UNHCR beziffert sie mit Stand 30.6.2023 auf 1.333.749 (UNHCR 30.6.2023). Sie sind sogenannte Proof-of-Residence-(PoR)Karteninhaber [Anm.: Unterschiedliche Bezeichnungen je nach Quelle - UNHCR: Proof of Registration] unter UNHCR-Mandat. Die Lage dieser registrierten Flüchtlinge ist aufgrund ihres legalen Aufenthaltsstatus in der Regel gezeichnet von höherer Rechtssicherheit und einem besseren Zugang zu Unterstützungsangeboten des UNHCR sowie zu bestimmten staatlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitswesen (AA 21.9.2023). Die PoR-Karten dienen dabei als Identitätsdokumente, die afghanische Flüchtlinge u.a. dazu berechtigen, in Pakistan zu leben, Unterkünfte zu mieten und Bankkonten zu eröffnen (UNHCR 6.2.2023). Seit 2007 hat Pakistan allerdings keine Personen mehr als Flüchtlinge registriert (FP 22.11.2021; vgl. AA 21.9.2023) - mit Ausnahme von Familienangehörigen (AA 21.9.2023).
Die PoR-Karten wurden seit 2015 durch Kabinettsbeschlüsse in unregelmäßigen Abständen verlängert, liefen aber 2020 aus. Im März 2021 begann die Regierung in Zusammenarbeit mit UNHCR mit der Document Renewal and Information Verification Exercise - DRIVE, um den registrierten afghanischen Flüchtlingen aktualisierte biometrische Karten auszuhändigen (USDOS 20.3.2023). Der Vorgang dient dazu, die Daten der Inhaber von PoR-Karten zu bestätigen und erneuern. Die Smartcards ermöglichen einen schnelleren und sichereren Zugang zu Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und Bankwesen (UNHCR 10.8.2023). Sie sind technologisch kompatibel mit Systemen, die in Pakistan zur Verifikation der Identität der eigenen Staatsbürger beim Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwendet werden (VB Islamabad 6.5.2021; vgl. UNHCR 15.4.2021). Für 2023 wurde DRIVE nochmals verlängert, um weitere PoR-Karteninhaber zu erfassen, und mit März 2023 abgeschlossen (UNHCR 27.10.2023). PoR-Karteninhaber können ihre Registrierungsdaten in elf speziellen Zentren im ganzen Land laufend aktualisieren (UNHCR 10.8.2023). Hier können z.B. auch Kinder registriert, oder Kindern ab 5 Jahren eigene PoR-Karten ausgestellt werden (UNHCR 27.10.2023). Die Gültigkeit der PoR-Karten wurde im November 2023 auf den 31. Dezember 2023 verlängert (TNl 9.11.2023).
Die zweite Kategorie umfasst rund 840.000 afghanische Staatsangehörige im Besitz der sogenannten „Afghan Citizen Card“ (ACC), die ebenfalls einen legalen Aufenthaltstitel bietet (AA 21.9.2023). Die Inhaber der ACC haben keinen Flüchtlingsstatus. Die Gültigkeit dieser Karten wurde typischerweise für kurze Zeiträume verlängert, dies lief am 30. Juni 2020 aus. Die Regierung gab zu diesem Zeitpunkt allerdings eine Erklärung aus, dass keine Maßnahmen gegen ACC-Inhaber gesetzt werden dürfen bis eine endgültige Entscheidung getroffen ist (USDOS 20.3.2023).
Schließlich halten sich neben den beiden Kategorien von Afghanen mit Rechtsstatus nach Schätzungen des UNHCR etwa 1,5 Millionen nicht-dokumentierte afghanische Staatsbürger in Pakistan auf. Zu den afghanischen Staatsbürgern ohne Status zählen dabei auch alle Neuankünfte seit August 2021 [Anm.: Machtübernahme der Taliban in Afghanistan]. Sie konnten sich weder für eine PoR-Karte, noch eine ACC registrieren (AA 21.9.2023).
Neuankommende seit August 2021
Die pakistanische Politik zeigte sich ambivalent gegenüber der Annahme der neuen Flüchtlinge seit der Machtübernahme der Taliban. Trotz der Aussage, keine neuen Flüchtlinge zu akzeptieren, passierten viele die offiziellen Grenzübergänge. Bereits 2021 kam es allerdings im Sindh zu Protesten von Parteien ethnischer Sindhi gegen den Zuzug neuer afghanischer Flüchtlinge in die Provinz, Fällen von sofortiger Abschiebung von Neuankömmlingen und Räumungen provisorischer Camps (EUAA 5.2022). Grenzrestriktionen wurden verstärkt. Der Hauptteil der Grenze zu Afghanistan ist außerdem mit einem Zaun gesichert und wird von der Armee patrouilliert (FP 22.11.2021).
Spezielle Maßnahmen für den Einlass von Personen, die um Asyl ansuchen wollen, gibt es nicht (UNHCR 15.12.2021; vgl. UNHCR 16.3.2023). Der Grenzübertritt am Übergang Torkham [Khyber Pakhtunkhwa – Nangarhar] ist beschränkt auf Personen mit gültigen Pässen und Visa. Am Grenzübergang Chaman [Belutschistan – Kandahar] galt eine Ausnahmeregelung für Einwohner der benachbarten Grenzregionen, mit dem afghanischen Identitätsausweis Tazkira einzureisen (TET 2.10.2023). Mit 1. November 2023 wurde diese Möglichkeit aufgehoben und es gilt nun für alle eine Pass- und Visa-Vorschrift zur Einreise (Dawn 17.11.2023; vgl. VOA 2.10.2023).
Die Regierung schätzt die Zahl der seit August 2021 neu angekommenen Afghanen auf 600.000. UNHCR berichtet im Oktober 2023, es haben sich seitdem 330.872 Neuankommende an ihn gewandt (UNHCR 27.10.2023). Von den zwischen Jänner 2021 und Februar 2022 neu in Pakistan angekommenen 117.547 Afghanen schätzte UNHCR, dass 62 Prozent Paschtunen, 17 Prozent Hazara und 11 Prozent Tadschiken waren (UNHCR 11.2.2022).
UNHCR stellte Zertifikate aus, die auch die Neuankommenden als Asylsuchende bestätigen und verhandelt mit der pakistanischen Regierung über deren Rechte (FP 22.11.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Regierung forderte 2022 allerdings, die Ausstellung der Zertifikate auszusetzen (USDOS 20.3.2023). Zusätzlich führt UNHCR auch eine Identifizierung der am stärksten gefährdeten und besonders schutzbedürftigen Personen für sein Resettlementprogramm in Partnerländer durch (UNHCR 10.8.2023).
Ein- und Umsetzung des Repatriierungsplans
Bereits im Dezember 2022 teilte die Regierung mit, dass die Amnestieregelung für Ausländer, die sich illegal in Pakistan aufhalten, am 31.12.2022 auslaufen wird, und erklärte, dass diese ab dem 1. Jänner 2023 mit Geldstrafen belegt werden (MinuteMirror 29.12.2022; vgl. DialoguePakistan 29.12.2022). Im Jänner 2023 kündigten die Behörden an, dass alle ausländischen Staatsangehörigen, einschließlich afghanischer, ohne gültige Papiere inhaftiert und nach einem Gerichtsurteil in ihr Heimatland zurückgewiesen werden (BBC Farsi 23.1.2023). Schließlich brachte die Regierung am 26. September in einem internen Schreiben die Einsetzung eines „Repatriierungsplans für alle illegal aufhältige Fremde (Illegal Foreigners’ Repatriation Plan)“ in Umlauf (IOM/UNHCR 29.11.2023):
Der Plan sieht drei Stufen für die Repatriierung vor. In einer ersten Stufe sollten alle unregistriert aufhältigen Afghanen nach dem Fremdengesetz von 1946 gerichtlich belangt und außer Landes gebracht werden. Die zwei weiteren Stufen sehen ein jeweils aufeinander folgendes Vorgehen auch in Bezug auf ACC-Inhaber und schließlich für PoR-Karteninhaber vor. Festgehalten ist allerdings bereits hier, dass das Vorgehen in Bezug auf die beiden letztgenannten Gruppen mit allen relevanten Akteuren abgestimmt, und im Falle der PoR-Karteninhaber auch in Übereinstimmung mit UNHCR-Konventionen und auf freiwilliger Basis erfolgen soll (MOIP 26.9.2023).
Am 3. Oktober wurde der Plan offiziell durch das Innenministerium veröffentlicht und als Deadline für die freiwillige Ausreise nicht-registrierter Fremder der 1. November gesetzt. Am 10. Oktober wurde in einem regierungsweiten Rundbrief erläutert, dass die Rückkehr von PoR- und ACCKarteninhabern nur auf freiwilliger Basis erfolgen kann (IOM/UNHCR 29.11.2023). Dem war Druck von UN-Behörden vorangegangen (USCRI 7.11.2023). Am 30. Oktober gab das Innenministerium schließlich die Anweisung an alle involvierten Behörden aus, den Repatriierungsplan mit 1. November umzusetzen (IOM/UNHCR 29.11.2023). In der Vergangenheit drohte Pakistan immer wieder mit derartigen Maßnahmen, doch diese wurden nie umgesetzt (ICG 13.11.2023).
Pakistanische Behörden kündigten außerdem an, Geld und Besitztümer von illegal aufhältigen Fremden zu konfiszieren und Strafen gegen pakistanische Bürger bzw. Vermieter zu verhängen, die ihnen Unterschlupf gewähren, sowie auch gegen Firmen, die Afghanen ohne Dokumente beschäftigen (ICG 13.11.2023). Berichte über Entlassungen (USCRI 7.11.2023), Schikanen, Verhaftungen, Razzien, Konfiszierungen und Erpressungen durch Behördenvertreter - auch von registrierten afghanischen Flüchtlingen – häuften sich (ICG 13.11.2023; vgl. HRCP 31.10.2023). Einige afghanische Siedlungen wurden behördlich zerstört (HRCP 18.10.2023). Human Rights Watch resümierte, dass durch das Vorgehen der Behörden ein Umfeld geschaffen wurde, das Afghanen zum Verlassen trieb (HRW 28.11.2023).
Rückkehrer: Entwicklungen der Zahlen und Profile
Mit der Aussicht auf eine tatsächliche Umsetzung ab 1. November stieg die Zahl der Rückkehrer an den Grenzübergängen stark an (IOM 9.10.2023). In den ersten beiden Oktoberwochen - vom 1. bis zum 15. Oktober - kehrten 37.317 Afghanen selbstständig [Anm. „spontanously“ in Abgrenzung sowohl zur behördlichen Rückführung als auch zur Assistierten Freiwilligen Rückkehr durch UNHCR, auf welche nur PoR Karteninhaber Anspruch haben] über die beiden offiziellen Grenzübergänge zurück (IOM 18.10.2023).
In den letzten beiden Oktoberwochen stiegen die Zahlen nochmals signifikant an. 108.782 Afghanen kehrten allein zwischen 16. und 31. Oktober selbstständig zurück, der Großteil - 85.076 davon über die Grenze Torkham, 23.706 über Chaman. Von diesen waren um die 20 Prozent erwachsene Frauen, um die 21 Prozent erwachsene Männer und um die 59 Prozent Minderjährige. In der Befragung durch IOM nach den Rückkehrgründen gaben 92 Prozent der interviewten Familien an, dass sie Pakistan aufgrund der Angst vor Verhaftungen verlassen hätten, 23 Prozent gaben auch sozialen Druck durch die Aufnahmegemeinden als Grund an (IOM 8.11.2023).
Im direkten Vergleich dazu waren im letzten zweiwöchigen Erhebungszeitraum vor der Ankündigung des Repatriierungsplans, also in den beiden Wochen vom 1. bis zum 15. September, 3.808 Afghanen selbstständig über die Grenzübergänge zurückgekehrt. In den Interviews dieses Erhebungszeitraums hatten nur 11 Prozent Angst vor Verhaftungen als Grund für die Rückkehr angegeben (IOM 22.9.2023).
In den ersten November-Tagen erhöhten sich die Zahlen nochmals erheblich. UNHCR berichtet, dass allein zwischen 1. und 9. November 139.200 Afghanen nach Pakistan zurückkehrten – Abschiebungen, assistierte sowie selbstständige Rückkehr zusammengenommen (UNHCR 10.11.2023). Insgesamt haben laut den Daten von IOM und UNHCR zwischen 15. September und 25. November 2023 413.745 Afghanen Pakistan verlassen. Darunter waren 10.623 PoRKarten-Inhaber im Rahmen des Unterstützungsprogramms des UNHCR und 378.589 selbstständige Rückkehrer. In Bezug auf den Aufenthaltstitel waren 96 Prozent der Rückkehrer ohne Aufenthaltstitel, 2 Prozent ACC- und 2 Prozent PoR-Karteninhaber (IOM/UNHCR 29.11.2023).
Zuvor waren im gesamten Jahr 2023 bis zum 15. September erst 63.852 Personen nach Afghanistan selbstständig (IOM 22.9.2023) sowie zusätzlich bis zum 30. September 12.283 Afghanen mit PoR-Karte unter dem assistierten Rückkehrprogramm des UNHCR zurückgekehrt (UNHCR 18.10.2023). Im Vorjahr - 2022 - waren 74.132 afghanische Migranten ohne Aufenthaltspapiere selbstständig an den beiden Grenzübergängen nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 9.1.2023) sowie 6.029 PoR-Karteninhaber unter dem Voluntary Repatriation Programme des UNHCR (UNHCR 25.1.2023).
Im Jahr 2022 und dem Großteil des Jahres 2023 wurde damit ein Durchschnitt von ungefähr 260 Rückkehrern pro Tag an der Grenze verzeichnet. Der rasante Anstieg führte zu chaotischen Zuständen, welche auch die Ressourcen der internationalen Hilfsorganisationen an den Grenzübergängen überforderten (USCRI 7.11.2023). Um die Massen der ausreisenden Afghanen abfertigen zu können, öffnete Pakistan zusätzliche Grenzübergänge (Dawn 13.11.2023; vgl. IOM/UNHCR 29.11.2023).
Seit dem Höhepunkt - den Tagen um die Deadline - sinkt die Zahl der selbstständigen Rückkehrer wieder - in der Erhebungswoche bis zum 11. November um 56 Prozent (IOM/UNHCR 15.11.2023).
Quelle: IOM/UNHCR 29.11.2023 Entwicklung der Rückkehrzahlen nach Art und Grenzübergang
15.9-25.11
Verhaftungen
Bereits seit Oktober 2022 haben die Festnahmen und Inhaftierungen von afghanischen Flüchtlingen zugenommen (Guardian 10.1.2023). Für den Zeitraum zwischen Jänner und Juni 2022 zählte UNHCR noch 446 Festnahmen von Flüchtlingen durch die Sicherheitsbehörden. Davon wurden 67 Prozent ohne formale Anklage freigelassen, 28 Prozent wurden nach dem Fremdengesetz angeklagt und festgehalten und fünf Prozent aufgrund verschiedener Verstöße angeklagt (USDOS 20.3.2023).Allein im Dezember 2022 nahm die Polizei in Karatschi Berichten zufolge bei mehreren Razzien mindestens 1.200 afghanische Staatsangehörige fest, die ohne gültige Reisedokumente nach Karatschi eingereist waren (AP News 7.1.2023; vgl. TorontoStar 7.1.2023). Unter den Inhaftierten waren mindestens 129 Frauen und 178 Kinder (Guardian 10.1.2023). Die afghanische Botschaft in Pakistan berichtete daraufhin im Jänner 2023 zuerst von der Freilassung von 1.300 Afghanen, weitere folgten (Siasat 2.2.2023; vgl. weitere Berichte im Zeitraum mit unterschiedlichen Daten zu Verhaftungen und Freilassungen:AP News 7.1.2023, TorontoStar 7.1.2023, ModernDiplomacy 1.3.2023).
Mit der Umsetzung des Repatriierungsplans ist die Zahl der Verhaftungen seit dem 1. November stark gestiegen, am stärksten sind davon nicht-registrierte Afghanen betroffen. Insgesamt wurden von UNHCR und IOM im Jahr 2023 bis zum 25. Novmeber 26.099 Verhaftungen von Afghanen dokumentiert, wobei diese jedoch von höheren tatsächlichen Zahlen, insbesondere bei nicht-registrierten Afghanen, ausgehen. Inkludiert in den Zahlen sind 4.250 Afghanen mit PoR-Karte. Im Vergleich dazu wurden im gesamten Jahr 2022 997 PoR-Karteninhaber verhaftet - Daten zu Verhaftungen unregistrierter Flüchtlinge wurden vor 2023 nicht durch UNHCR aufgezeichnet. Ein direkter Vergleich der Verhaftungen von PoR-Karteninhabern zwischen November 2023 und November 2022 zeigt eine Verdreizehnfachung. Der regionale Schwerpunkt liegt derzeit in Belutschistan (IOM/UNHCR 29.11.2023).
Quelle: UNHCR 29.11.2023; Verhaftungszahlen pro Jahr; Anteil der Verhaftungen pro Provinz; Einschränkung: vor 2023 zeichnete UNHCR die Verhaftungen von undokumentierten Afghanen nicht auf
Abschiebungen
Die Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan hatte sich bereits nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan erhöht. Direkt im Folgezeitraum wurden zwischen September und Oktober 2021 laut UNHCR 1.800 Personen zurückgeführt (UNHCR 15.12.2021). Im gesamten Jahr 2022 wurden laut IOM insgesamt 1.740 Personen rückgeführt (IOM 7.3.2023). Ab Jänner 2023 nahm die Zahl der Abschiebungen wieder stark zu, der weitaus überwiegende Anteil der Abschiebungen erfolgte aus der Provinz Sindh (VB Islamabad 27.2.2023). So wurden laut Medienbericht innerhalb weniger Tage im Jänner 2023 mehr als 600 Afghanen aus Sindh nach Afghanistan abgeschoben, darunter 63 Frauen und 71 Kinder (Guardian 10.1.2023).
Nach der Verkündung des Repatriierungsplanes registrierte IOM schließlich allein für Oktober 2023 - also noch vor Ablauf der Deadline zur freiwilligen Ausreise - 959 Abschiebungen (Daten aus IOM 8.11.2023 und IOM 18.10.2023). Für den Zeitraum nach der gesetzten Deadline verzeichnete UNHCR vom 1. bis zum 23. November 22.300 Abschiebungen (UNHCR 24.11.2023). Im Erhebungszeitraum vor der Ankündigung des Plans von 1. bis 15. September wurden zum Vergleich 228 Afghanen abgeschoben (IOM 22.9.2023).
Während die Zahl der selbstständigen Ausreisen nach Ablauf der Frist stark abnahm, nahm der Anteil der Abschiebungen an der Gesamtrückkehrzahl indessen stark zu (UNHCR 22.11.2023).
Vor der Ankündigung des Plans resümierte das deutsche Auswärtige Amt, die PoR-Karte bietet einen recht weitreichenden Schutz vor Abschiebungen (AA 21.9.2023). Die pakistanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Commission of Pakistan, HRCP, berichtete, dass bereits vor Ablauf des Ultimatums am 1. November 77 afghanische Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis abgeschoben wurden (HRCP 31.10.2023). Laut IOM und UNHCR waren 0,2 Prozent der Abgeschobenen im Erhebungszeitraum vom 15. September bis zum 18. November PoRKarteninhaber (IOM/UNHCR 22.11.2023). Im Durchrechnungszeitraum vom 15. Oktober bis 25. November hatte sich der Anteil der PoR-Karteninhaber an den Abgeschobenen wieder auf 0,1 Prozent gesenkt (IOM/UNHCR 29.11.2023).
Freiwillige Assistierte Rückkehr unter UNHCR-Mandat
UNHCR unterhält in Pakistan zwei Zentren zur Unterstützung einer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, eines in Khyber Pakhtunkhwa und eines in Belutschistan (UNHCR 15.11.2023). Das Unterstützungsprogramm ist für PoR-Karteninhaber vorgesehen (UNHCR 24.11.2023) und beinhaltet finanzielle Leistungen, medizinische Versorgung sowie, wenn nötig, vorübergehende Unterbringung in Afghanistan (UNHCR 25.1.2023). In Anbetracht der gestiegenen Lebenserhaltungskosten erhöhte UNHCR 2023 auch die finanziellen Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Afghanistan (UNHCR 18.10.2023).
Für das Jahr 2023 verzeichnete UNHCR bis zum 31. Oktober 16.354 Rückkehrer unter dem Unterstützungsprogramm, davon waren 48 Prozent männlich sowie 52 Prozent weiblich; 39,2 Prozent Erwachsene und 60,8 Prozent Minderjährige. 13.509 waren Paschtunen (UNHCR 15.11.2023).
Im Zuge des Repatriierungsplans bietet UNHCR nun finanzielle Unterstützung für rückkehrende Afghanen, die in Pakistan nur eine UNHCR-eigene Flüchtlingsregistrierung erhalten haben, womit UNHCR insgesamt über 40.000 Rückkehrer aus Pakistan im Jahr 2023 mit Stichtag 23. November in Afghanistan unterstützte (UNHCR 24.11.2023).
Quelle: UNHCR 15.11.2023: Assistierte freiwillige Rückkehrer 2022:2023
Verteilung, Zugang zu Grundversorgung, Gesundheit, Bildung und Rechtsschutz
Laut UNHCR sind 53 Prozent der circa 1,39 Millionen von UNHCR registrierten afghanischen Flüchtlinge (mittels PoR-Karten sowie verschiedenen UNHCR-Schutzkarten) männlich und 47 Prozent weiblich. 50 Prozent sind minderjährig. 1.170.813 aller registrieren afghanischen Flüchtlinge sind Paschtunen (UNHCR 16.11.2023). Ungefähr 52,6 Prozent leben in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, 24,1 Prozent in Belutschistan, 14,3 im Punjab, 3,1 im Sindh und 3,1 in der Hauptstadt Islamabad (UNHCR 30.6.2023). Ungefähr 68,4 Prozent leben dabei in städtischen Gebieten (UNHCR 16.3.2023; vgl. AA 21.9.2023).
Von den registrierten afghanischen Flüchtlingen leben 31,1 Prozent in einem der Flüchtlingslager oder Flüchtlingsdörfer, die restlichen 68,7 Prozent in Aufnahmegemeinden außerhalb (UNHCR 16.11.2023). Sie setzen damit die bereits belasteten lokalen Systeme öffentlicher Dienstleistungen, wie für Bildung und Gesundheit sowie den Arbeitsmarkt zusätzlich unter Druck (UNHCR 6.7.2020). Die Zahl der Neuankömmlinge stellte eine zusätzliche Belastung dar (UNHCR 27.10.2023).
Quelle: UNHCR 14.6.2023: Lokalisierung der Flüchtlingscamps und - siedlungen
Schwierig ist die soziale und wirtschaftliche Lage der Afghanen in den Flüchtlingssiedlungen, v.a. aber in den Ballungszentren der Großstädte (AA 21.9.2023). Die pakistanische Menschenrechtsorganisation HRCP berichtet z.B. über schlechte hygienische Bedingungen in Flüchtlingslagern sowie von Schikanen und Xenophobie gegenüber Flüchtlingen durch die lokalen Behörden und die Bevölkerung (HRCP 22.11.2021).
Die Lage registrierter Flüchtlinge ist aufgrund ihres legalen Aufenthaltsstatus in der Regel geprägt von höherer Rechtssicherheit und einem verbesserten Zugang zu Unterstützungsangeboten des UNHCR sowie zu bestimmten Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit (AA 21.9.2023).
Afghanische Flüchtlinge haben Zugang zu Polizei und Gerichten, doch insbesondere Ärmere fürchten sich davor (USDOS 12.4.2022). Es gibt Berichte, wonach die Polizei insbesondere von marginalisierten Gruppen, wie afghanischen Flüchtlingen, Bestechungsgelder verlangt, diese unrechtmäßig verhaftet oder schikaniert (USDOS 20.3.2023). UNHCR betreibt neun Zentren zur Rechtsberatung und Unterstützung in jenen Gebieten, in denen die Mehrheit der Flüchtlinge lebt.
Ein Fokus liegt auf der Freilassung von festgenommenen und inhaftierten Personen (UNHCR 10.8.2023). Insbesondere nach dem Großanschlag auf die Army Public School in Peschawar wurde ab 2014 von einer Erhöhung der Kontrollen, Razzien, Verhaftungen und auch Schikanen durch die Polizei berichtet. Ab 2017 ist u.a. anhand der Daten zu Razzien und Festnahmen ein Rückgang dieser Vorgehensweise erkennbar. Mit dem neuen Zufluss afghanischer Flüchtlinge nach der Machtübernahme der Taliban verstärkte sich der argwöhnische Umgang der Polizei mit Afghanen wieder. Allerdings korreliert dies auch mit verstärkten Sicherheitskontrollen aufgrund der Zunahme der Anschlagszahlen (EUAA 5.2022). Im Zuge der Umsetzung des Repatriierungsplans haben die Razzien und damit auch Verhaftungen stark zugenommen. Die Rechtshilfezentren des UNHCR wurden als Reaktion personell aufgestockt (UNHCR 24.11.2023).
Die Bedingungen für afghanische Flüchtlinge haben sich durch die Verschlechterung der ökonomischen Situation erschwert. Die Lebenserhaltungskosten sind gestiegen, die Einkommensmöglichkeiten gesunken, was besonders Ärmere betrifft. Außerdem hatte die Flutkatastrophe 2022 in Pakistan auch Auswirkungen auf die Flüchtlingspopulationen. Geschätzt 800.000 von ihnen leben in Distrikten, die besonders von der Flut betroffen waren (UNHCR 16.3.2023). Aus diesem Grund unterstützte UNHCR mehr als 1 Million afghanische Flüchtlinge zwischen Jänner und Juni 2023 mit einem zusätzlichen Zahlungsprogramm (UNHCR 20.9.2023).
Es gibt keine formale Berechtigung für Flüchtlinge, legal zu arbeiten, aber es gibt auch kein Gesetz, das es ihnen verbietet, im privaten oder im informellen Sektor zu arbeiten. Viele Flüchtlinge arbeiten als Tagelöhner oder in der informellen Wirtschaft. Die lokalen Arbeitgeber beuten die Flüchtlinge auf dem informellen Arbeitsmarkt oft mit niedrigen oder unbezahlten Löhnen aus. Frauen und Kinder sind besonders gefährdet und nehmen unterbezahlte und unerwünschte Arbeit an (USDOS 20.3.2023).
UNHCR unterhält Projekte zur Förderung des eigenständigen Lebensunterhalts und der wirtschaftlichen Eingliederung von Flüchtlingen. Der Schwerpunkt liegt auf der sozialen und wirtschaftlichen Stärkung in den Flüchtlings- und Aufnahmegemeinschaften. Die Unterstützung konzentriert sich auf den Aufbau landwirtschaftlicher und handwerklicher Fertigkeiten sowie auf verschiedene Berufsausbildungen, die an den lokalen Markt, aber auch an eine Rückkehr, angepasst sind (UNHCR 10.8.2023). Laut der mit den Smartcards verbundenen Information Verification Exercise haben 61 Prozent aller registrierten afghanischen Flüchtlinge keine Ausbildung und von jenen mit Ausbildung sind nur 38 Prozent Frauen (UNHCR 16.3.2023).
Die Verfassung garantiert kostenfreie und verpflichtende Bildung für alle Kinder zwischen fünf und sechzehn, unabhängig von ihrer Nationalität. Alle registrierten Flüchtlingskinder haben theoretisch Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen. Von Kindern mit ACC-Status gibt es Berichte, dass eine Einschreibung an Schulen möglich ist, zumindest aus der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, während afghanische Kinder ohne Dokumentation sich nicht an öffentlichen Schulen einschreiben können. Für ältere Kinder, besonders Mädchen in Flüchtlingslagern, ist der Zugang zu Bildung schwierig. Registrierte afghanische Flüchtlinge haben das Recht auf Einschreibung an den Universitäten, allerdings limitieren einige Universitäten die Plätze, die an Afghanen vergeben werden (USDOS 20.3.2023).
Das Gesundheitswesen in Pakistan ist vollständig integrativ, d.h. PoR- und ACC-Karteninhaber haben im Prinzip gleichen uneingeschränkten Zugang zu allen Ebenen der Gesundheitsversorgung wie pakistanische Staatsangehörige. Durch die schwierige wirtschaftliche Lage wird dies erschwert (UNHCR 17.11.2022; vgl. UNHCR 16.3.2023). Auch Afghanen ohne Aufenthaltsdokument haben Zugang zu den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (UNHCR 16.3.2023). Ein kostenloser Zugang zu Gesundheitsdiensten ist allerdings verbunden mit dem Status als registrierter Afghane, also PoR- und ACC-Kartenbesitzer. PoR-Karteninhaber werden auch in einige Vorsorgeprogramme miteinbezogen. Für undokumentierte Afghanen ist der Zugang schwieriger. In öffentlichen Einrichtungen erhalten sie zwar Behandlungen, Medikamente müssen sie allerdings selbst erwerben. Eine Studie aus dem Jahr 2021 zeigte, dass Betroffene mit Schwierigkeiten rechnen und es so eine gängige Praxis ist, PoR- oder ACC-Karten auszuborgen (EUAA 5.2022).
UNHCR unterstützt den Zugang der Flüchtlinge und der lokalen Aufnahmebevölkerung zur staatlichen medizinischer Versorgung, indem es z.B. medizinische Ausrüstung für öffentliche Spitäler zur Verfügung stellt. Damit geht UNHCR von der früheren Strategie, Parallelstrukturen für Flüchtlinge zu unterstützen, im Sinne einer Inklusion zu Programmen über, die sowohl die lokale als auch die Flüchtlingspopulation begünstigen (UNHCR 10.8.2023). Im Bereich der psychischen Gesundheit unterzeichneten UNHCR und das Balochistan Institute of Psychiatry and Behavioral Sciences im Dezember 2022 ein Memorandum of Understanding um die Zusammenarbeit zu verstärken und den Zugang von afghanischen Flüchtlingen zu Unterstützungsleistungen der psychischen Gesundheit und Drogenrehabilitation zu verbessern (UNHCR 6.2.2023).
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Grundversorgung
Wirtschaft und Arbeitsmarkt
Allgemeine Wirtschaftsleistung
Pakistan weist eine gemischte Wirtschaft auf, in der Firmen in staatlichem Eigentum für einen großen Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich sind. Früher überwiegend landwirtschaftlich geprägt, hat sich die Wirtschaft deutlich diversifiziert. Der Handels- und Dienstleistungssektor ist stark gewachsen und trägt heute den größten Anteil an der Wirtschaftsleistung. Die Landwirtschaft trägt noch zu einem Fünftel zum BIP bei (EB 30.11.2023). Sie bleibt aber die größte Deviseneinnahmequelle (PBS o.D.). Handwerk und Produktion machen ein Sechstel des BIP aus. Der Anteil der Finanzdienstleistungen am BIP ist relativ gering, doch signifikant steigend. Eine wichtige Einnahmequelle sind die Rücküberweisungen von Auslandspakistanis (EB 30.11.2023). Sie machen einen Hauptteil der Deviseneinnahmen des Landes aus (MoF PAKI 4.6.2023a).
Die Wirtschaftsleistung schneidet im Vergleich mit vielen anderen Entwicklungsländern gut ab, und Pakistan kann die letzten Jahrzehnte eine solide Wachstumsrate vorweisen. Gleichzeitig ist die Bevölkerung stark angewachsen, sodass die Wirtschaftsleistung pro Kopf trotz des realen Wirtschaftswachstums nur langsam gestiegen ist (EB 30.11.2023). Außerdem weist Pakistan einen sehr großen informellen Wirtschaftssektor auf, dessen Wirtschaftsgröße geschätzt nochmals halb so groß ist wie das offizielle BIP. Diese Größe stellt eine Herausforderung für die Planbarkeit von Maßnahmen und für die Steuereinnahmen dar (BS 25.2.2022).
Die enormen Kosten für Wiederaufbau und Hilfsleistungen in Folge der Flutkatastrophe vom Sommer 2022 fügen eine neue Belastung für den Staatshaushalt hinzu. Die Weltbank schätzt, dass zur Bewältigung der Schäden und Verluste mindestens 16 Milliarden US-Dollar benötigt werden (CNN 2.2.2023). Bei einer UN-Konferenz wurden von internationalen Gebern mehr als neun Milliarden US-Dollar zur Unterstützung der Bewältigung der Schäden zugesagt (Tagesschau 9.1.2023). Davon sind allerdings knapp 90 Prozent Kredite. Mit Stand Herbst 2023 war auch davon erst wenig ausbezahlt. Viele Geberstaaten bezweifeln, dass die finanzielle Unterstützung tatsächlich bei jenen ankommt, die sie benötigen, bzw. zum Schutz vor zukünftigen Katastrophen eingesetzt wird (WOZ 31.8.2023).
Der kräftige Aufschwung nach der Pandemie kam 2023 zum Stillstand. Die Wirtschaft ist im Fiskaljahr 2023 geschrumpft, nachdem sie zwei Jahre in Folge ein starkes Wachstum verzeichnet hatte. So ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2023 insgesamt voraussichtlich um 0,6 Prozent gesunken, nachdem es im Vorjahr um 6,1 Prozent gewachsen war. Dies steht unter anderem im Zusammenhang mit dem längeren Beibehalten der akkommodierenden Geldpolitik [Anmerkung: Erhöhung der Geldmengen, niedrige Zinssätze], dem Anstieg der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt, der Überschwemmungskatastrophe 2022, den innenpolitischen Querelen sowie den damit verbundenen starken Vertrauensverlust und Abstufungen der Kreditwürdigkeit(WB 4.10.2023).
Im Mai 2023 erreichte die Inflation eine noch nie da gewesene Höhe von 37,97 Prozent (TE 1.12.2023). Die Verringerung der Einkommen dürfte Millionen von Arbeitnehmern betreffen, insbesondere diejenigen, die in informelle Arbeitsplätze mit geringerer Produktivität abgerutscht sind. Als Folge des Sinkens der Löhne und der Verringerung der Arbeitsplätze sowie der hohen Inflation wird davon ausgegangen, dass die Armut zugenommen hat, und dies auch die Kaufkraft untergräbt (WB 4.10.2023).
In der ersten Hälfte des Jahres 2023 schien Pakistan sogar auf einen verheerenden wirtschaftlichen Ausfall zuzusteuern. Die Aussetzung der Auszahlungen eines Kreditprogramms des Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgrund der wiederholten Nicht-Erfüllung der Reformverpflichtungen und die folgende Kreditaussetzung weiterer internationaler Geldgeber führte zu einer unmittelbaren Gefahr der Zahlungsunfähigkeit. Schließlich konnten sich der IWF und Pakistan auf ein neunmonatiges Programm mit einer Bereitschaftskreditvereinbarung in Höhe von 3 Mrd. US-Dollar als Überbrückungsmaßnahme einigen (USIP 6.9.2023). In seiner ersten Überprüfung im November attestierte der IWF eine aufkommende Erholung (IMF 15.11.2023). Das Finanzministerium berichtet ebenfalls von einer schrittweisen Erholung sowie von Zuwächsen in wichtigen Wirtschaftszweigen, wie Landwirtschaft und Produktion (MoF PAKI 2.12.2023). Auch die Inflation sank bis Oktober auf 26,89 Prozent, allerdings stieg sie im November wieder leicht (TE 1.12.2023).
Arbeitsmarkt
Pakistan verfügt laut Schätzung der International Organization for Migration (IOM) über mehr als 63 Millionen Arbeitskräfte (IOM 22.3.2023). Laut pakistanischem Finanzministerium stieg die Zahl der Erwerbsbevölkerung von 68,75 Millionen im Erhebungszeitraum 2018-19 auf 71,76 Millionen für 2020-21, die Zahl der Erwerbstätigen im gleichen Zeitraum von 64,03 Millionen auf 67,25 Millionen. Pakistan hat damit eine der höchsten Zahlen an Arbeitskräften weltweit. Allein die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung imAlter von 15-24 Jahren beträgt 41,77 Millionen (MoF PAKI 4.6.2023a). Zusätzlich erreichen fast 2 Millionen Jugendliche jährlich das arbeitsfähige Alter. Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um etwa 2 Prozent (BMZ o.D.). Das Land steht damit vor der Herausforderung, seiner Bevölkerung berufliche Möglichkeiten zu bieten (BS 25.2.2022).
Landwirtschaft und Fischerei stellen den größten Anteil am Arbeitsmarkt und tragen zum Einkommen für ein breites Segment der Bevölkerung bei (EB 30.11.2023; vgl. MoF PAKI 4.6.2023b). So stellt die Landwirtschaft laut der offiziellen Arbeitskräfteerhebung 37,4 Prozent der Beschäftigten (MoF PAKI 4.6.2023b; vgl. IOM 12.2022). Die Tendenz ist hier abnehmend. Der Dienstleistungssektor macht etwa 39 Prozent der Gesamtzahl der Arbeitsplätze aus, die Industrie ca. 24 Prozent - Tendenz steigend (IOM 12.2022). Handwerk und Produktion sind insbesondere durch die Textilindustrie ein bedeutendes Segment des Arbeitsmarktes. Der Handel, als einer der wichtigsten Sektoren der pakistanischen Wirtschaft, beschäftigt auch einen erheblichen Teil derArbeitskräfte. Das Staatswesen ist traditionell ebenfalls ein Hauptarbeitgeber in Pakistan, dort findet sich ungefähr ein Fünftel der Arbeitskräfte (EB 30.11.2023). Regional sind 60 Prozent der Arbeitskräfte des Landes in der Provinz Punjab konzentriert (IOM 22.3.2023).
Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten, die internationalen Sozialstandards entsprechen, sind kaum vorhanden, über 70 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse liegen im informellen Sektor, der breite arbeitsrechtliche Defizite aufweist (BMZ o.D.). Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt zwischen 15.000 und 30.000 PKR [Anm.: ca. 50 bis 100 Euro laut finanzen.at, Stand 26.1.2024] (IOM 12.2022). Die Zahl der arbeitslosen erwerbsfähigen Bevölkerung betrug im Erhebungszeitraum 2021-22 4,71 Millionen. Die offizielle Arbeitslosenquote weist eine Verbesserung von 6,9 Prozent im Jahr 2018-19 auf 6,3 Prozent für das Jahr 2020-21 aus (MoF PAKI 4.6.2023a).
Im Jahr 2022 wanderten 829.549 Pakistaner offiziell registriert im dafür zuständigen Bureau of Emigration Overseas Employment ins Ausland aus, um dort zu arbeiten. Diese Migration konzentriert sich vor allem auf die Länder des Golf-Kooperationsrates (GCC) (96 Prozent), wobei Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate die Mehrheit stellen (MoF PAKI 4.6.2023a; vgl. BEOE 8.12.2023). Der Großteil der pakistanischen Migranten in den GCC-Staaten sind alleinstehende Männer, die in überfüllten Arbeitslagern leben und Geld in ihre Heimat schicken (BPB 6.7.2022).
Arbeitslosenunterstützung, Berufsförderung
Pakistan verfügt über einige Programme zur Unterstützung Arbeitsloser. Diese beinhalten z.B. eine bezahlte Weiterbildung, die Förderung von Geschäftsgründungen oder auch Programme zur Anstellung im staatlichen Sektor (ILO 1.9.2021). Weiterbildungs- und Berufsausbildungseinrichtungen der pakistanischen Regierung wie die National Vocational Technical Education Commission (NAVTEC) oder die Technical Education and Vocational Training Authorites (TEV-TA) der jeweiligen Provinzregierungen des Punjab, des Sindh, Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistans bieten eine Vielzahl von Kursen an. Abgedeckte Bereiche sind z.B. IT, Autoelektrik, Motorradmechanik oder Stickerei, Schneiderei und Kosmetik (IOM 22.3.2023; vgl. TVET o.D.a).
Die wichtigste Maßnahme zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt ist das National Vocational Educational Technical Sector Support Programme (TVET-Reform). Das Programm hat zum Ziel die Lücke zwischen dem Bedarf am Arbeitsmarkt und der Ausbildung zu schließen und den Zugang, die Qualität und die Treffsicherheit der technischen und beruflichen Ausbildung zu verbessern. Eine wichtige Säule des Programms ist die Reintegration von Rückkehrern (IOM 22.3.2023; vgl. TVET o.D.a). Für diese und andere Personengruppen werden Karriereberatung, Unterstützung beim Aufbau eines Kleinunternehmens, Fortbildung, Berufsmessen, Vermittlung von Mikrokrediten zum Aufbau eines Kleinunternehmens und andere Dienste angeboten (TVET o.D.a; vgl. IOM 22.3.2023).
Das Tameer-e-Pakistan-Programm, dessen Zielsetzung die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch die Schaffung von Arbeitsplätzen ist, wurde in die Drought Emergency Relief Assistance (DERA) integriert. Als weiteres Programm wurde das Khushal Pakistan Program eingeführt. Mit Schwerpunkt auf den ländlichen Bereich zielt es auf die Förderung ökonomischer Aktivität durch die Schaffung von Infrastruktur und öffentlicher Arbeit, u.a. im Bereich, Straßenbau, Wasserversorgung, Schulbau und Bodenkonservierung (IOM 22.3.2023).
Ebenfalls im ländlichen Gebiet leistet das National Rural Support Program bzw. das Punjab Rural Support Program als staatliches Programm durch Ausbildung, Mikrokredite und Beratung für Kleinunternehmen Unterstützung zum eigenständigen Einkommenserwerb. Ein besonderer Fokus liegt auf weibliche Haushaltsvorstände (IOM 22.3.2023). Im Bereich der Berufsförderung für Frauen hat außerdem die staatliche Sozialhilfeeinrichtung Pakistan Bait-ul-Mal (PBM) ein Projekt zur Ausweitung ihres Netzes von Berufsbildungszentren für Frauen (Women Empowerment Centres - WECs) von der Distrikt- auf die Tehsil-Ebene eingesetzt (TET 12.12.2022). Derzeit sind rund 163 WECs im ganzen Land tätig, um Witwen, Waisen und unterprivilegierten Mädchen eine kostenlose Berufsausbildung in Berufen wie Schneiderei, Stickerei, Stoffmalerei oder grundlegende und weiterführende Computerkurse zu bieten (TET 12.12.2022; vgl. TNI 7.12.2023).
Ein staatliches Projekt speziell zur Förderung der Berufstätigkeit junger Menschen ist z.B. das PM Youth Business and Agriculture Loan Scheme 2023 (IOM 30.3.2021; vgl. INCPAK 25.1.2023; MCB o.D.). Im Jänner 2023 startete die pakistanische Regierung außerdem ein Programm für bezahlte Praktika zur Unterstützung von 30.000 arbeitslosen Hochschulabsolventen (TC 6.1.2023).
Staatliche Stellen zur Vermittlung von Arbeitsplätzen sind z.B. Career Pakistan, die Small and Medium Enterprises Development Authority, die Onlineportale der Job Placements Center (IOM 12.2022) oder das staatliche Online Portal NEXT - National Employment Exchange Tool (NAVTTC o.D.).
Quellen: BEOE - Bureau of Emigration Overseas Employment [Pakistan] (8.12.2023): Reports Statistics, https://beoe.gov.pk/reports-and-statistics,Zugriff 8.12.2023 BMZ - Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (o.D.): Soziale Situation - Fortschritte in Gefahr, https://www.bmz.de/de/laender/pakistan/soz iale-situation-15408, Zugriff 5.12.2023 BPB - Bundeszentrale für politische Bildung (6.7.2022): Labor migration from South Asia to the Gulf: Pakistan as an example, https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/en glish-version-country-profiles/510112/labor-migration-from-south-asia-to-the-gulf-pakistan-as-a n-example/, Zugriff 3.12.2023 BS - Bertelsmann Stiftung (25.2.2022): Bertelsmann Transformation Index, Pakistan Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/PAK#pos13, Zugriff 2.12.2023 CNN - Cable News Network (2.2.2023): Blackouts and soaring prices: Pakistan’s economy is on the brink, https://edition.cnn.com/2023/02/02/economy/pakistan-economy-crisis/index.html, Zugriff 2.12.2023 EB - Encyclopedia Britannica (30.11.2023): Pakistan, Economy of Pakistan, https://www.britanni ca.com/place/Pakistan/Economy, Zugriff 5.12.2023 Finanzen.at (26.1.2024): Währungsrechner: Pakistanische Rupie - Euro, https://www.finanzen.at/ waehrungsrechner/pakistanische-rupie-euro, Zugriff 26.1.2024 ILO - International Labour Organization (1.9.2021): World Social Protection Report 2020-22, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_protect/---soc_sec/documents/publication/wcms_817572.pdf, Zugriff 3.12.2023 INCPAK - The Independent News Coverage Pakistan (25.1.2023): PM’s Youth Business and Agriculture Loan Scheme 2023, https://www.incpak.com/national/pms-youth-business-and-agriculture -loan-scheme-2023/, Zugriff 3.12.2023 IOM - International Organization for Migration (22.3.2023): Information on the socio-economic situation in the Islamic Republic of Pakistan, [E-Mail mit pdf liegt in der Staatendokumentation auf] IOM - International Organization for Migration (12.2022): Länderinformationsblatt Pakistan 2022, ht tps://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2022_Pakistan_DE.pdf, Zugriff 5.12.2023 IMF - The International Monetary Fund (15.11.2023): Pakistan: IMF Reaches Staff-Level Agreement on the First Review for the 9-Month Stand-By Arrangement, https://www.imf.org/en/News/Articles /2023/11/15/pr23392-pakistan-imf-reaches-sla-first-review-9-month-sba, Zugriff 5.12.2023 MCB - MCB Bank Limited o.D. [letztes Bezugsdatum 6.2023]: Prime Minister’s Youth Business Agriculture Loan Scheme, https://www.mcb.com.pk/business/prime-minister-youth-business-and
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Versorgungssicherheit bei Nahrungsmitteln und Wohnraum
Armut
Das solide Wirtschaftswachstum trägt dazu bei, dass das hohe Bevölkerungswachstum nicht wie in anderen südasiatischen Ländern zu einem hohen Anteil an absoluter Armut geführt hat. Dennoch lebt ein bedeutenderAnteil der Bevölkerung unterhalb derArmutsgrenze (EB 30.1.2023). In den vergangen zwei Jahrzehnten konnte Pakistan die Armut deutlich reduzieren und mehr als 47 Millionen Pakistanern ermöglichen, zwischen 2001 und 2018 der Armut zu entkommen (TWB 7.10.2022). Die COVID-19-Pandemie und Maßnahmen zur sozialen Distanzierung hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Haushaltseinkommen und haben vorübergehend zu mehr Armut geführt (TWB 10.2022). Laut dem Bertelsmann Transformations Index lebten 2020 geschätzt 24,3 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 38,4 Prozent waren von multidimensionaler Armut nach den Kriterien des UNDP betroffen (BS 25.2.2022). Im letzten Human Development Index 2021/22 von UNDP, der 191 Staaten umfasst und Fortschritte in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Einkommen im internationalen Vergleich misst, liegt Pakistan auf Rang 161 (UNDP 8.9.2022).
Verschärft wird die Situation durch einen scharfen Kontrast zwischen der relativen Prosperität der industrialisierten Regionen um Karatschi und Lahore und der Armut in den semi-ariden Gebieten in Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa (EB 30.1.2023). So gibt UNDP die Armutsrate für Belutschistan und in den Newly Merged Districts von Khyber Pakhtunkhwa (ehemalige FATA) mit 70 Prozent an. Im Vergleich dazu weisen die reichsten Bezirke Pakistans im Norden und in der Mitte des Punjabs eine Armutsrate von unter 10 Prozent auf (UNDP 6.4.2021).
Ernährungssicherheit
Pakistan ist eine überwiegend agrarisch geprägte Gesellschaft und aus verschiedenen Gründen von Ernährungsunsicherheit bedroht. Um die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage bei Grundnahrungsmitteln zu überbrücken, muss Pakistan regelmäßig u.a. Weizen und verschiedene Hülsenfrüchte importieren, was eine ernste Ursache für die Nahrungsmittelunsicherheit darstellt (DT 23.1.2023). Die Landwirtschaft wurde im Jahr 2022 vor allem durch die Auswirkungen der verheerenden Überschwemmungen schwer getroffen. Über 1,4 Million Hektar Anbaufläche fielen den Fluten zum Opfer (siehe hierzu Unterkapitel „Flutkatastrophe 2022“) (UNHCR 5.10.2022), über 1,1 Million Nutztiere wurden getötet (IOM 12.1.2023).
Die Inlandspreise für Grundnahrungsmittel wie Weizenmehl, Reis, Speiseöl, Hülsenfrüchte, Milch und Fleisch sind seit Jänner 2022 gestiegen (TET 29.12.2022). Ein durchschnittlicher pakistanischer Haushalt wendet 50,8 Prozent seines monatlichen Einkommens für Nahrungsmittel auf (WFP o.D.). Steigende Lebensmittel- und Energiepreise haben die reale Kaufkraft vieler Haushalte geschmälert und arme und gefährdete Haushalte unverhältnismäßig stark betroffen (TWB 10.2022).Auch die Flutkatastrophe 2022 hatte Auswirkungen auf die Nahrungsmittelpreise. Ein Vergleich des World Food Program zwischen den Nahrungsmittelpreisen vor der Flut und nach der Flut zeigen hohe Preissteigerungen. So stieg der Preis für Weizenmehl um 32 Prozent, für Tomaten um 138 Prozent und Kartoffeln um 45 Prozent (IOM 12.1.2023). Die Inflation erreichte mit 31,5 Prozent im März 2023 den höchsten Wert seit 1975 (UNHCR 9.3.2023).
Die Ernährungsunsicherheit wirkt sich auf Frauen, Kinder und ländliche Haushalte aus, was zu sozio-ökonomischen Ungleichheiten führt und einen Anstieg der Zahl der Haushalte, die unter Ernährungsunsicherheit leiden, verursacht (TOI 21.10.2022). 18 Prozent der Kinder unter 5 Jahren leiden an akuter Mangelernährung, 40 Prozent sind unterentwickelt und 29 Prozent untergewichtig. Es gibt auch eine starke Korrelation zwischen dem Bildungsniveau von Mädchen und allen Formen der Unterernährung, wobei generell der Zugang von Mädchen zu Bildung eine Herausforderung bleibt - insbesondere in Gebieten, die an Afghanistan grenzen, und in Belutschistan. Außerdem sind aufgrund sozialer und kultureller Normen und Praktiken Frauen und Mädchen mit Schwierigkeiten beim Zugang zu humanitärer Unterstützung konfrontiert (WFP o.D.).
Von starker Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung betroffen waren laut einer staatlichen Studie während des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie 2020 10 Prozent der Haushalte gegenüber 3 Prozent bei der letzten Erhebung von 2018/2019; von einer moderaten Versorgungsunsicherheit betroffen waren 30 Prozent im Vergleich zu 13 Prozent davor. 60 Prozent der Haushalte konnten ihre Versorgungssicherheit beibehalten (PBS o.D.b). Die damalige Regierung reagierte auf die Krise mit der Einführung des Ehsaas Emergency Cash Programme im April 2020 (WFP 1.2.2022). Etwa 15-16 Prozent der pakistanischen Bevölkerung leben aufgrund der Überschwemmungen und verfehlten politischen Maßnahmen unter akuter Ernährungsunsicherheit (TOI 21.10.2022).
Wohnraum
Pakistan ist mit einer kritischen Wohnraumknappheit konfrontiert. Das Bevölkerungswachstum, die Abwanderung aus ländlichen Gebieten und der Verfall bestehender Wohnhäuser führen zu einer zunehmenden Knappheit in städtischen Gebieten. Ein großes Problem ist die Qualität der vorhandenen Wohnungen. Die Hälfte aller städtischen Haushalte ist überbelegt oder besteht aus informellen Siedlungen mit unzureichendem Zugang zu grundlegender Infrastruktur und Dienstleistungen. Reguläre Wohnungen sind für den Großteil der Bevölkerung unerschwinglich und befinden sich hauptsächlich im Besitz von Männern (WBB 11.3.2022). Die Mehrheit des Wohnraums findet sich in Slums, meist in informellen Siedlungen. 30 bis 50 Prozent der Stadtbewohner leben nach Schätzungen in Slums. Laut UNHABITAT sind andererseits 74 Prozent der Stadtbewohner auch Eigentümer ihrer Unterkunft und Städte mit einem großen Anteil an Staatsdienern, wie Islamabad, verfügen über einen großen Anteil an mietfreiem oder stark subventioniertem Wohnraum (UKHO 6.2020).
Konkret wird der Mangel auf 12 Millionen Wohneinheiten geschätzt, wobei der Bedarf im Vergleich zum Angebot weiterhin hoch bleibt. Die Regierung hat Maßnahmen eingeführt, um die Möglichkeit der Finanzierung speziell für niedrig- bis mittelpreisige Wohneinheiten zu verbessern. Die Förderungen wurden erhöht, Regelungen für die Vergabe von Finanzierungen gelockert und die Dauer für die Rückzahlung verlängert (TET 27.2.2022).
IOM berichtet, dass in Großstädten Wohnungen und Einzelhäuser zwar leicht verfügbar sind, aber die Miet- und Nebenkosten, insbesondere für Strom und Gas, sehr hoch sind. In ländlichen Gebieten und am Stadtrand kleinerer Städte sind allerdings Wohnungsmöglichkeiten nicht nur kostengünstig, sondern auch zahlreich vorhanden (IOM 2021).
Durch die Flut 2022 wurden mehr als 2,2 Millionen Häuser und 13.100 Kilometer an Straßen zerstört (IOM 12.1.2023).
Quellen: BS - Bertelsmann Stiftung (25.2.2022): Bertelsmann Transformation Index, Pakistan Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/PAK#pos13, Zugriff 3.3.2022 DT - Daily Times (23.1.2023): Food Security in Pakistan, https://dailytimes.com.pk/1054801/food -security-in-pakistan/, Zugriff 3.2.2023 EB - Encyclopedia Britannica (30.1.2023): Pakistan, Economy of Pakistan, https://www.britannica .com/place/Pakistan/Economy, Zugriff 2.2.2023 IOM - International Organization for Migration (12.1.2023): IOM Pakistan, Situation Report No. 2: Pakistan Floods Response, Stand December 31, 2022, https://reliefweb.int/report/pakistan/iom-p akistan-situation-report-no-2-pakistan-floods-response-december-31-2022, Zugriff 2.2.2023 IOM - International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Pakistan 2021, https: //files.returningfromgermany.de/files/CFS_2021_Pakistan_DE.pdf, Zugriff 3.2.2023 PBS (o.D.b): Special Survey for Evaluating Socio-Economic Impact of Covid-19 on Wellbeing of People, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files//other/covid/Final_Report_for_Covid_Survey_0.pdf, Zugriff 3.2.2023 TET - The Express Tribune (29.12.2022): An unyielding year for agriculture in Pakistan, https: //tribune.com.pk/story/2393236/an-unyielding-year-for-agriculture-in-pakistan, Zugriff 3.2.2023 TET - The Express Tribune (27.2.2022): SBP further eases housing finance, https://tribune.com.pk/story/2345420/sbp-further-eases-housing-finance, Zugriff 3.2.2023 TOI - Times of India (21.10.2022): Around 16 per cent people face acute food insecurity in Pakistan: FAO official, https://timesofindia.indiatimes.com/world/pakistan/around-16-per-cent-people-face-a cute-food-insecurity-in-pakistan-fao-official/articleshow/95018141.cms, Zugriff 3.2.2023 TWB - The World Bank (7.10.2022): The World Bank in Pakistan, https://www.worldbank.org/en/c ountry/pakistan/overview, Zugriff 3.2.2023 TWB - The World Bank (10.2022): Poverty Equity Brief, https://databankfiles.worldbank.org/publ ic/ddpext_download/poverty/987B9C90-CB9F-4D93-AE8C-750588BF00QA/current/Global_POV EQ_PAK.pdf, Zugriff 3.2.2023 UKHO - UK Home Office [Großbritannien] (6.2020): Country Policy and Information Note Pakistan: Background information, including internal relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2032936/P akistan-Background_and_IFA-CPIN-v1.0_June_2020_.pdf, Zugriff 3.2.2023 UNDP - United Nations Development Programme (8.9.2022): Human Development Report 2021/2022, https://hdr.undp.org/system/files/documents/global-report-document/hdr2021-22pdf _1.pdf, Zugriff 2.2.2023 UNDP - United Nations Development Programme (6.4.2021): Pakistan National Human Development Report 2020, https://www.pk.undp.org/content/pakistan/en/home/library/human-developme nt-reports/PKNHDR-inequality.html, Zugriff 3.2.2023 UNHCR (9.3.2023): Afghanistan Situation Regional Refugee Response Plan (RRP) January-December 2023, herunterladen unter: https://reliefweb.int/report/pakistan/afghanistan-situation-regio nal-refugee-response-plan-rrp-january-december-2023, Zugriff 29.3.2023 UNHCR (5.10.2022): Pakistan Flood Response: UNHCR Supplementary Appeal, September 2022 – December 2023, herunterzuladen unter: https://reliefweb.int/report/pakistan/pakistan-flood-res ponse-unhcr-supplementary-appeal-september-2022-december-2023, Zugriff 2.2.2023 WBB - World Bank Blog (11.3.2022): Managing supply and demand: The key to getting ´housing’ right in Pakistan, https://blogs.worldbank.org/endpovertyinsouthasia/managing-supply-and-dem and-key-getting-housing-right-pakistan, Zugriff 6.2.2023 WFP - World Food Programme (1.2.2022): Food security and diets in urban Asia : How resilient are food systems in times of Covid 19?, https://docs.wfp.org/api/documents/WFP-0000136366/download/, Zugriff 2.2.2023 WFP - World Food Programme (o.D.): Pakistan, https://www.wfp.org/countries/pakistan, Zugriff 2.2.2023
Sozialwesen
Soziale Wohlfahrt
Pakistan unterhält einige Programme für soziale Wohlfahrt, die auf das Bereitstellen eines rudimentären sozialen Sicherheitsnetzes für die Bürger ausgerichtet sind. Staatliche Schulen und Krankenhäuser bieten eine hoch subventionierte Bildung und Gesundheitsversorgung und Einrichtungen wie Pakistan Bait-ul-Mal (PBM) [Anm.: eine von der Regierung gegründete Sozialorganisation] verteilen wohltätige Beträge, die über Steuern eingenommen werden. Doch die Versorgung mit effektiven öffentlichen Dienstleistungen ist aufgrund ernster Kapazitätsengpässe schwach (BS 25.2.2022). Die staatlichen Sozialsicherungssysteme sind schwach entwickelt und völlig unterfinanziert (BMZ o.D.), obwohl Pakistan auf eine lange Geschichte von Maßnahmen zur Armutsbekämpfung zurückblicken kann. Das anhaltend hohe Armutsniveau zeigt jedoch die Unzulänglichkeit dieser Maßnahmen, die vor allem auf eine begrenzte Reichweite und mangelhafte Umsetzung zurückzuführen sind. Zwar gibt die pakistanische Regierung etwa 2 Prozent ihres BIP für Programme zur Armutsbekämpfung aus, doch ist dies wesentlich weniger als in Nachbarländern wie Indien oder Sri Lanka (CDDRL 6.6.2022). Die Notwendigkeit von Investitionen u.a. in Bildung, berufliche Entfaltung und soziale Absicherung wird den pakistanischen Eliten allerdings immer mehr bewusst (BMZ o.D.).
Während ernste Herausforderungen weiterhin bestehen, gibt es auch Fortschritte im Bereich der öffentlichen sozialen Wohlfahrt. Das 2008 eingeführte Benazir Income Support Program (BISP) ist ein auflagenfreies Geldtransferprogramm zur Armutsreduktion, das auf Frauen fokussiert ist. Die Regierung hat als Erweiterung des BISP das Ehsaas Programm eingeführt (BS 25.2.2022). Diese Initiative der pakistanischen Regierung wurde 2019 gegründet und zielt als größtes Armutsbekämpfungsprogramm der Regierung (IOM 22.3.2023) darauf ab, die Armut zu lindern und den sozialen Wohlstand im Land zu verbessern (EP 2022). Sie bietet eine Reihe von Dienstleistungen für bedürftige Pakistaner an, darunter bedingungslose Bargeldtransfers, gezielte Subventionen und eine bessere Versorgung mit Gesundheits- und Nahrungsmitteln (CDDRL 6.6.2022). Ehsaas verstärkt das BISP, indem es die Kriterien zur Anspruchsberechtigung erweitert hat und somit mehr Menschen mit einschließt (WFP 1.2.2022). Im Rahmen des Ehsaas Programms stellt das BISP nun nur noch eine von 34 Einheiten dar (TET 11.7.2021; vgl CDDRL 6.6.2022). Als Schirmorganisation führt Ehsaas alle verschiedenen Bereiche der Armutsbekämpfung auf Bundes- und Provinzebene in mehreren Ministerien unter einer Strategie und Institution zusammen. Die Ehsaas-Strategie verfolgt einen gesamtstaatlichen Ansatz zur Armutsbekämpfung. Dabei werden die verschiedenen bestehenden Programme, die ursprünglich nicht unbedingt unter die Armutsbekämpfung fielen (z.B. Zakat) gebündelt, und auch Änderungen zur Armutsbekämpfung eingeleitet. Insgesamt ist die Anzahl der Programme auf mehr als 292 Einzelmaßnahmen angewachsen (CDDRL 6.6.2022).
Quelle: CDDRL 6.6.2022
Derzeit gibt es drei große Geldtransferprogramme, die vom BISP als Durchführungsorganisation umgesetzt werden (CDDRL 6.6.2022). Weitere Leistungen umfassen Subventionen für Nahrungs- und Haushaltsartikel (Ehsaas Rashan Programm), finanzielle Unterstützung in Form von Darlehen (Ehsaas Amdan Program/Ehsaas Loan Program), Nahrungsmittelhilfen für Mütter und Kinder (Ehsaas Nashonuma Program), Rentenleistungen (Ehsaas Buzurg Program) und Stipendien (Ehsaas Scholarship Program) (ENP 6.2.2023). Das Programm Ehsaas Waseela Taleem zielt darauf ab, Kindern aus benachteiligten Verhältnissen kostenlose Bildung zu ermöglichen. Das Programm soll bis zu 1,5 Millionen Kindern in ganz Pakistan den Zugang zu hochwertiger Bildung ermöglichen, wobei der Schwerpunkt auf Kindern in ländlichen und unterversorgten Gebieten liegt (EP 6.2.2023). Buben erhalten in der Primarstufe 1.500 PKR [Anm.: ca. 17 Euro], in den Sekundarstufen 2.500 PKR [Anm.: ca. 28 Euro], Mädchen jeweils 500 PKR [Anm.: ca. 6 Euro] mehr. Für die höheren Stufen erhöhen sich die Beihilfen. So erhielten 2021 nach offiziellen Angaben eine Million Schüler der Grundschule, 500.000 der Sekundarstufe und 225.000 Schüler der höheren Schulstufen diese Beihilfe (TET 19.7.2021). Ein anderes Programm beinhaltet eine monatliche Zahlung von 2.000 PKR [Anm.: ca. 10 Euro] an ärmere Familien mit einem behinderten Familienmitglied. Es umfasst 2 Millionen Familien. Im Rahmen der Ehsaas-Strategie erhielten während der COVID-19-Pandemie etwa 15 Millionen pakistanische Haushalte (100 Millionen Bürger) jeweils 12.000 PKR [Anm.: ca. 134 Euro] (TET 11.7.2021).
Mit Abschluss der Entwicklung der nationalen sozio-ökonomischen Registrierung können nun Daten zu den sozialen Bedingungen erhoben und auf deren Grundlage die Förderungswürdigkeit bestimmt werden. Das Sozialregister ermöglicht eine dynamische Aufnahme, jeder kann sich jederzeit in ein Sozialregister eintragen lassen (BISP o.D.). Die Erhebung der Bedürftigkeit und Anspruchsberechtigung geschieht über die Bürgerkarte der NADRA (PPI o.D.). Die Geldtransferprogramme sind ein wichtiges Mittel zur Armutsreduktion, auch wenn ihre Nachhaltigkeit Fragen offenlässt. Das Ehsaas-Programm stellt eine bedeutende Ausdehnung des Benazir Bhutto Income Program dar, das auf ganz Pakistan angewendet wird. Es ist damit eine signifikante Erweiterung des Systems der sozialen Wohlfahrt, doch Verbesserungen in anderen Formen der Wohlfahrt bleiben begrenzt (BS 25.2.2022).
Laut IOM sind alle Sozialprogramme (Obdachlosenunterkünfte, Nahrungsmittelverteilung) mit Ausnahme der Krankenversicherung Sehat Insaaf aufgrund der unsicheren politischen und wirtschaftlichen Lage von einer Unterbrechung bedroht (IOM 22.3.2023).
Leistungen der Sozialversicherung, staatliche Altersversorgung
Pakistan hat nur zwei Rentensysteme, die gerade einmal drei Millionen der 15 Millionen älteren Menschen des Landes erreichen (HA 18.2.2021). Mitarbeiter der Bundes- und Provinzregierungen, der Regierung von Azad Jammu Kaschmir, der Streitkräfte und der halbstaatlichen / autonomen Einrichtungen sind rentenberechtigt (IOM 2021). Alle Staatsbediensteten erhalten damit bei Eintritt in den Ruhestand eine Pension, ebenso Mitarbeiter von Unternehmen, die bei der Employees’ Old Age Benefits Institution (EOBI) registriert sind (ILO 2019). Die Pensionen von Zivil- und Militärbeamten werden ausschließlich aus Steuermitteln finanziert, machen allerdings nur etwa 8 bis 9 Prozent der Personen aus, die im Land das Rentenalter erreicht haben (BR 17.10.2022; vgl. IOM 22.3.2023). Alle Unternehmen mit mehr als fünf Beschäftigten müssen sich für die EOBI anmelden. In Wirklichkeit haben sich jedoch nur 84.000 Arbeitgeber für das System angemeldet, das nicht mehr als acht Millionen Menschen erreicht - bei einer Erwerbsbevölkerung von über 70 Millionen (HA 18.2.2021). Innerhalb des EOBI-Systems basiert die Auszahlung auf den Beiträgen der Einzelpersonen. Die Mindestrente für das EOBI-System beträgt derzeit 8.500 PKR (28,08 Euro) pro Monat. Arbeitnehmer, die nicht im Rahmen der Industrie- und Handelskammer arbeiten, profitieren nicht von dem EOBI-Rentensystem (IOM 22.3.2023). Pensionsberechtigt sind Männer ab 60 und Frauen ab 55 Jahren mit mindestens 15 Beitragsjahren (USSSA 3.2019; vgl. HA 18.2.2021).
Das Rentensystem bietet den Versicherten oder ihren Hinterbliebenen folgende vier Arten von Leistungen: Altersrente oder gekürzte Rente, Hinterbliebenenrente, Invaliditätsrente und Altersbeihilfe, wenn ein Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Rente hat. Da nur Arbeitskräfte des formellen Sektors Anspruch auf Renten haben, kann nur ein kleiner Teil der Bevölkerung im fortgeschrittenen Alter die Vorteile des Rentensystems in Anspruch nehmen. Die ältere Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeitet, bekommt diese Sozialversicherungsleistungen nicht (IOM 2021). Einige Altersheime werden in den größeren Städten über das staatliche PBM bzw. die Departments für Soziale Wohlfahrt der Provinzen betrieben (ILO 2019; vgl. PBM o.D). Bedürftige ältere Personen gehören auch zu den Gruppen, die Anspruch auf Leistungen aus dem Zakat-System haben, doch im Allgemeinen ist das Sozialsystem für Ältere begrenzt (ILO 2019).
Pakistan hat auf Ebene der Provinzen Schemen einer Arbeitsunfallversicherung eingeführt. Die Abdeckung ist allerdings ebenfalls begrenzt, zum einen aufgrund der Struktur desArbeitsmarktes mit einem hohen Anteil an Arbeitskräften in der informellen Wirtschaft, sowie zum anderen durch Anstellungspraktiken, die häufig eine Minderregistrierung oder keine Registrierung der Arbeiter aufweisen (ILO 1.9.2021).
In den Provinzen sind Employees’ Social Security Institutions (ESSIs) eingerichtet, die mit den Arbeitsministerien der einzelnen Provinzen verbunden sind (ADB 2.9.2022; vgl. ILO 2019). Sie bieten Renten für die Familien vonArbeitnehmern, die beiArbeitsunfällen ums Leben gekommen sind. Finanziert durch eine zusätzliche Abgabe von 6 bis 7 Prozent der Lohnsumme, die vom Arbeitgeber gezahlt wird, bieten die ESSIs Mutterschafts- und Krankheitsleistungen, Leistungen bei Invalidität und Verletzungen. Einige Dienstleistungen für gering bezahlte Arbeitnehmer in Wirtschaftsunternehmen werden ebenfalls durch die ESSI angeboten (ILO 2019). Der Workers’ Welfare Fund (WWF) finanziert u.a. Projekte zur Errichtung von Wohnsiedlungen oder zum Bau von Häusern für die Industriearbeiter (WWF o.D.)
Die bestehenden Sozialversicherungssysteme schließen die Beschäftigten in der informellen Wirtschaft aus, indem sie nur die Beschäftigten in der formellen Wirtschaft abdecken. Das DWCP (Decent Work Country Programme) (2016-22) soll die bestehenden Sozialschutzsysteme erweitern und nachhaltiger gestalten. In Zusammenarbeit mit der ILO wurde eine Einheit innerhalb des Ehsaas-Programmes eingesetzt (Labour Social Protection Expert Group, Mazdoor ka Ehsaas), die an der Einbeziehung der Arbeitskräfte in der informellen Wirtschaft in das Sozialversicherungssystem arbeitet (ILO o.D.).
Pilotprojekte zur Gesundheitsversicherung der ärmeren Bevölkerung wurden in Khyber Pakhtunkhwa (KP) und Gilgit-Baltistan (GB) mithilfe der German Development Bank (KfW) umgesetzt und auf ganz Pakistan ausgedehnt. Es ist damit eines der weltweit größten Gesundheitsversicherungsschemen für die ärmere Bevölkerung (OPM o.D.)
Die Krankenversicherungskarte Sehat Insaaf ist für permanente Einwohner im Islamabad Capital Territory (ICT), in den Provinzen Punjab, Khyber Pakhtunkhwa (KP) sowie in AJK und Gilgit Baltistan (GB) erhältlich. In Sindh ist sie derzeit nur im District Tharparker umgesetzt. Sie kann in ausgewiesenen Krankenhäusern eingesetzt werden und ihr Limit pro Familie beträgt 1 Mio. PKR (3.303,57 Euro) im Jahr. Anspruchsberechtigt sind auch Rückkehrer, wenn sie in diesen Regionen bei der NADRA registriert sind. Für permanente Einwohner aller anderen Standorte in Pakistan kann allerdings die Computerized National Identity Card (CNIC) ebenso als Krankenversicherungskarte verwendet werden und bietet die Berechtigung für alle medizinischen Dienstleistungen, die unter das Unterstützungsprogramm der Sehat Insaaf Card fallen (IOM 22.3.2023) [für weiterführende Informationen siehe Kap. Medizinische Versorgung].
Private Wohlfahrtsleistungen
Die Edhi Foundation ist die größte private Wohlfahrtstiftung Pakistans und eine der größten weltweit. Das Leistungsspektrum umfasst u.a. kostenlose technische Ausbildung für Bedürftige, kostenlose Bereitstellung von Lebensmitteln und Kleidung, Heime für Waisen, Behinderte, misshandelte Frauen und Senioren, Rettungswägen, kostenlose Versorgung in Krankenhäusern und Apotheken, Rehabilitation von Drogenabhängigen, kostenlose Heilbehelfe oder Hilfsmaßnahmen bei Naturkatastrophen (Edhi o.D.; vgl. GB 5.12.2022).
Die pakistanische Entwicklungshilfeorganisation National Rural Support Programme (NRSP) bietet Mikrofinanzierungen und andere soziale Leistungen zur Entwicklung der ländlichen Gebiete an. Sie ist in 72 Bezirken der vier Provinzen – inklusive Azad Jammu und Kaschmir – aktiv. NRSP arbeitet mit mehr als 3,78 Millionen armen Haushalten zusammen, welche ein Netzwerk von 245.637 kommunalen Gemeinschaften bilden. Sie ist damit die größte Entwicklungshilfeorganisation für die ländliche Region in Pakistan (NRSP o.D.).
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Flutkatastrophe 2022
Im Juni 2022 nahm eine Flut katastrophalen Ausmaßes ihren Anfang (MSF 9.1.2023). Die jährlichen Monsun-Regenfälle erreichten 2022 – mit der drei- bis fünffachen Menge des 30Jahresdurchschnittes – ein noch nie da gewesenes Ausmaß (PPAF 7.10.2022). Während des Höhepunktes der Regenfälle im August und September waren 85.000 Quadratkilometer der Landesfläche durch Flutwasser betroffen (UNOCHA 9.12.2022). Insgesamt waren 33 Millionen Menschen in 90 Distrikten betroffen (WFP 25.1.2023). [Zur geographischen Verteilung siehe Karten weiter unten]
Die National Disaster Management Authority registrierte 1.739 Tote aufgrund der Fluten. Mehr als 2,2 Millionen Häuser wurden zerstört oder beschädigt, 13.100 Kilometer an Straßen zerstört und über 1,1 Million Nutztiere getötet (IOM 12.1.2023). Über 1,4 Millionen Hektar Anbaufläche fielen den Fluten zum Opfer (UNHCR 5.10.2022). Über 34.000 Schulen wurden zerstört oder beschädigt. In 1.159 temporären Unterrichtszentren wurden über 110.000 Schüler unterrichtet (UNICEF 24.1.2023).
An die 2.000 Gesundheitseinrichtungen wurden vollständig zerstört oder beschädigt (WHO 5.10.2022). Die Zerstörung von Infrastruktur zur Wasserversorgung und Sanitäreinrichtungen ließ außerdem Schätzungen zufolge 5,5 Millionen Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser (UNICEF 7.10.2022; vgl. WFP 25.1.2023). Die Wassermassen kontaminierten das Trinkwasser, schneiden die Wege zu Gesundheitseinrichtungen ab und dienen als Brutstätte für Moskitos: Malaria, Dengue Fieber und andere Krankheiten breiteten sich aus (Malteser 7.10.2022). Nach Angaben von Gesundheitsbehörden mussten von Juli bis September 2022 3,5 Millionen Menschen im Sindh aufgrund von Krankheiten behandelt werden, die sich über das Wasser ausbreiten, wie Malaria, Cholera oder Dengue-Fieber (N-TV 4.10.2022). Allein im August verzeichnete Sindh 69.123 Malariafälle - im Vergleich zu 19.826 Fällen im gleichen Monat des Vorjahres. In der ebenfalls schwer betroffenen Region Belutschistan wurden 41.368 Malariafälle für August 2022 bestätigt, beinahe doppelt so viele wie 2021. Insgesamt verzeichnete Pakistan 170.000 bestätigte Fälle von Malaria vom Jänner bis inklusive August 2022 (WHO 17.10.2022).
Landesweit wurden mit Stand Anfang November 2022 1.003 Fälle von Cholera und beinahe 65.000 Fälle von Dengue Fieber, mit 147 Todesfällen, bestätigt (WHO 8.11.2022).
Mit Ende November 2022 waren noch 4.700 Quadratkilometer der Landesfläche durch Flutwasser betroffen. Der Rückgang der Fluten ermöglichte einen verbesserten Zugang und eine Rückkehr in die entsprechenden Gebiete (UNOCHA9.12.2022).Auch die Fälle von Malaria, Dengue und akuten Atemwegsinfekten gingen zurück. In einigen Gebieten könnte das Flutwasser allerdings noch monatelange verbleiben(UNOCHA 9.1.2023).
Insgesamt waren mindestens 7,9 Millionen Menschen von den Fluten vertrieben worden. Mit Stand 2. Jänner 2023 galten in der Provinz Sindh immer noch 89.000 Menschen - im Vergleich zu 6,5 Millionen Menschen im September - als vertrieben (CDP 12.1.2023). Noch im Dezember schätzte IOM diese Zahl auf 240.000 (IOM 12.1.2023). In der Provinz Belutschistan waren mit Stand Jänner 2023 weiterhin 116.000 Menschen als Vertriebene registriert. Einer Analyse der UN-Satellitenauswertung zufolge sind 5 Millionen Menschen weiterhin von der Überflutung betroffen oder leben in deren Nähe. Auf der Grundlage der Schwere der Schäden und der Neigung zu schweren Kälteeinbrüchen wurden landesweit 35 Bezirke als besonders gefährdet für schwierige Winterbedingungen eingestuft (UNOCHA 9.1.2023).
UNICEF schätzt, dass weiterhin an die 20,6 Millionen Menschen - davon 9,6 Millionen Kinder humanitäre Unterstützung benötigen (UNICEF 23.12.2022). 4 Millionen Kinder leben weiterhin in direkter Umgebung von Flutwasser, diese Gebiete sind verstärkt von akuten Atemwegsinfektionen betroffen. Die gleich Anzahl an Kindern hat keinen ausreichenden Zugang zu Gesundheitseinrichtungen (WFP 25.1.2023).
Durch die Vernichtung der Ernte stellt die Ernährung ein Problem dar. Bei über 306.000 Kindern unter 5 Jahren wurde eine schwere akute Unterernährung diagnostiziert. UNICEF schätzt, dass sich die Zahl der Kinder, die darunter leiden, mit der Flut beinahe verdoppelt hat. 1,5 Millionen Kinder brauchen lebenswichtige Nahrungshilfen (WFP 25.1.2023). Schätzungen gehen davon aus, dass 8,6 Millionen Menschen unter der als extrem definierten Form von Nahrungsmittelunsicherheit leiden und 14,6 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind (IRC 23.1.2023).
Es herrscht somit weiterhin eine Notfallsituation mit kritischem humanitärem Bedarf. Auch wenn humanitäre Organisationen und Behörden Hilfe leisten, reicht diese nicht aus. Die Grundbedürfnisse der Menschen in den am stärksten von den Überschwemmungen betroffenen Gebieten, einschließlich des Zugangs zu Grundnahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und sauberem Trinkwasser, sind nicht ausreichend abgedeckt. Auch weiterhin leben viele Menschen in Zelten und behelfsmäßigen Behausungen, was sie in den Wintermonaten noch vulnerabler macht (MSF 9.1.2023).
Quelle: UNOCHA 29.10.2022
Quelle: UNOCHA 9.1.2023
Quelle: UNOCHA 22.9.2022
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Medizinische Versorgung
Isgesamt basiert das System der Gesundheitsversorgung in Pakistan auf zwei Hauptsäulen, dies sind einerseits öffentliche und andererseits private Gesundheitseinrichtungen (IOM 22.3.2023; vgl. WHO o.D.). In öffentlichen Krankenhäusern kann man sich bei Bedürftigkeit kostenlos behandeln lassen. Da Bedürftigkeit offiziell nicht definiert ist, reicht die Erklärung aus, dass die Behandlung nicht bezahlt werden kann. Allerdings trifft dies auf schwierige Operationen, z.B. Organtransplantationen, nicht zu. Hier können zum Teil gemeinnützige Stiftungen die Kosten übernehmen (AA8.8.2022). In den privaten Einrichtungen fallen hohe Kosten für die Behandlung an. Insgesamt kann der Staat derzeit nicht allen Menschen eine gleiche und ausreichende Versorgung anbieten (IOM 22.3.2023).
Der Gesundheitssektor des Landes ist gleichermaßen durch ein Stadt-Land-Gefälle bei der Bereitstellung medizinischer Versorgung und ein Ungleichgewicht bei den Arbeitskräften im Gesundheitswesen charakterisiert. Insbesondere in ländlichen Gebieten mangelt es an medizinischen Fachkräften, Krankenpflegern, Sanitätern und qualifiziertem Gesundheitspersonal (TSOP 2020; vgl. DFAT 25.1.2022). Trotz einer ausgefeilten und umfangreichen Gesundheitsinfrastruktur leidet die Gesundheitsversorgung unter einigen zentralen Problemen wie einem hohen Bevölkerungswachstum, einem Mangel an Arbeitskräften, der ungleichen Verteilung medizinischer Fachkräfte, einer unzureichenden Finanzierung und einem begrenzten Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten (WHO o.D; vgl. Marham 6.8.2022). So entspricht im Allgemeinen die in weiten Landesteilen unzureichende Gesundheitsversorgung medizinisch, hygienisch, technisch und organisatorisch meist nicht europäischem Standards. In Islamabad und Karachi hingegen ist die medizinische Versorgung in allen Fachdisziplinen im Regelfall auf einem hohen Niveau, aber dadurch auch teuer (AA 2.2.2023). Des Weiteren gehört das pakistanische Gesundheitswesen laut Studien der NGO Transparency International zu den korruptesten Sektoren des Landes. Allgemeine Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Menschen mit den Gesundheitsdiensten, die sie erhalten, unzufrieden ist (Marham 6.8.2022; vgl. TIP 9.12.2022). Derzeit ist nach der Einschätzung von IOM der Zugang in ländlichen Gebieten besser, während die Bevölkerung in Städten vor größeren Herausforderungen, sowohl finanziell als auch logistisch, steht (IOM 22.3.2023).
Die Flutkatastrophe von 2022 hatte überwältigende Auswirkungen auf das Gesundheitssystem in den betroffenen Gebieten. Einrichtungen wurden zerstört oder waren nicht mehr zugänglich und die Flutwasser verursachten Ausbrüche von Infektionskrankheiten. Die Nothilfeteams haben effizient eingegriffen, doch ist weiterhin Unterstützung notwendig. Darüber hinaus sind auch in den nicht von der Flut betroffenen Regionen die Gesundheitseinrichtungen durch die intern Vertriebenen überlastet (IOM 22.3.2023).
Nach der Verfassung fällt das Gesundheitswesen in erster Linie in die Zuständigkeit der Provinzregierung. Der Staat stellt die Gesundheitsversorgung über ein dreistufiges Gesundheitssystem und eine Reihe von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zur Verfügung. Medizinische Grundversorgung wird durch Basic Health Units (BHUs) und Rural Health Centers (RHCs) geleistet. Notfall-, ambulante und stationäre Versorgung wird auf der sekundären Versorgungsebene durch Tehsil Headquarter Hospitals (THQs) und District Headquarter Hospitals (DHQs) angeboten. Darauf folgt die tertiäre Versorgungsebene, die auch Lehrkrankenhäuser umfasst (WHO o.D.).
Mit Stand 2020 gibt die WHO eine Ratio von 0,6 Grundversorgungseinrichtungen und 5,8 Spitalsbetten sowie 10,8 Ärzten und 4,9 Krankenpfleger bzw. Krankenpflegerinnen und Hebammen pro 10.000 Einwohner an (WHO 2022). Außerdem waren mit Stand 2019 über 100.000 Lady Health Workers tätig (WHO 2020). Diese versorgen vornehmlich den ländlichen Raum (DFAT 25.1.2022). Angesichts der wachsenden Bevölkerung versucht der private Sektor, die Lücke zwischen der steigenden Nachfrage und den begrenzten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zu schließen. Die Zahl der privaten Krankenhäuser, Kliniken und Diagnoselabors hat erheblich zugenommen. Sogenannte stand-alone clinics - meist von Einzelnen betrieben - sind die wichtigsten Anbieter ambulanter Gesundheitsversorgung (WHO o.D.). Durch die Flut 2022 wurden mehr als 2.000 Gesundheitseinrichtungen zerstört, das sind laut WHO mehr als 13 Prozent der Gesamtzahl des Landes (WHO 2023).
In Übereinstimmung mit den WHO-Empfehlungen zur allgemeinen Gesundheitsversorgung startete die Provinzregierung von Khyber Pakhtunkhwa (KP) 2015 das Sehat Sahulat Programm (SSP) (IJERPH 7.6.2022), das in ausgewiesenen Krankenhäusern zu tragen kommt (IOM 22.3.2023). Im Grunde ist das SSP eine Krankenversicherung, in der die Prämienbeiträge vollständig vom Staat übernommen werden. Es deckt die Sekundär- und Tertiärversorgung bei Unfällen und Notfällen, Diabetes, Nierenkrankheiten (einschließlich Dialyse und Transplantation), Hepatitis B und C, Krebserkrankungen sowie Herz- und Gefäßkrankheiten ab (Lancet 18.10.2022; vgl. SSP 2023b). Außerdem deckt es verschiedene Schwangerschaftsuntersuchungen, Geburtshilfe und Nachsorge ab (IOM 22.3.2023; vgl. SSP 2023b). Der Höchstbetrag ist auf 1 Million PKR (ca. 3.520 Euro) pro Jahr und Familie begrenzt (Lancet 18.10.2022; vgl. IOM 22.3.2023). Dieser gilt allerdings nur unter besonderen Umständen. Für die meisten Familien deckt das SSP bis zu 460.000 PKR (ca. 1.620 Euro) pro Jahr ab (Lancet 18.10.2022). Darüber hinaus bietet es unter bestimmten Bedingungen finanzielle Unterstützung für Lohnausfall während der Behandlung sowie für Transportkosten, Mutterschaftsgeld und Beerdigungskosten im Todesfall während des Krankenhausaufenthalts (Lancet 18.10.2022). Das SSP bietet auch eine individuelle Finanzhilfe für Personen mit schweren Krankheiten/Behinderungen, Witwen und Invalide mit unterhaltsberechtigten Kindern, Waisen, Studenten mit nachgewiesenen und beständigen akademischen Leistungen und mittellose Personen (IOM 30.3.2021). Es handelt sich um ein bargeldloses Programm, bei dem die Begünstigten nur diese Karte benötigen, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können (Dawn 18.1.2022).
Das SSP wurde in KP in drei Phasen ausgerollt (IJERPH 7.6.2022; vgl. IOM 30.3.2021). Zunächst war eine Sehat Insaf Card nur für jene erhältlich, die unter der Armutsgrenze lebten, d.h. mit einem Einkommen von weniger als 2 US-Dollar (1,68 Euro) pro Tag (IOM 30.3.2021; vgl. IJERPH 7.6.2022). Seit 2021 sind jedoch alle Bürger KPs für das SSP vollumfänglich anspruchsberechtigt (SSP 2023c).
Es sind Bemühungen im Gange, die Anwendungsmöglichkeit der Karte auch auf die Bewohner anderer Provinzen auszuweiten (Lancet 18.10.2022; vgl. TNI 12.11.2021). So berichtet IOM im März 2023, dass die Sehat Insaf Card für permanente Einwohner im Islamabad Capital Territory (ICT), in den Provinzen Punjab, Khyber Pakhtunkhwa (KP) sowie in AJK und Gilgit Baltistan (GB), im Sindh jedoch nur im District Tharparker, erhältlich ist (IOM 22.3.2023). Auch staatlich registrierten Menschen mit Behinderungen und Transgender-Personen wurde landesweit der allgemeine Zugang zum SSP angeboten (IJERPH 7.6.2022).
In der Provinz Sindh wurde erst kürzlich mit der Einführung des SSP begonnen, welches zunächst mehr als einer halben Million Familien zugutekam. Die vollständige Einführung in der Provinz steht jedoch noch aus. Auch die Provinz Belutschistan hinkt hinterher. Dort wurde das Programm in sechs Distrikten ausgerollt, in denen zunächst über hunderttausend Familien registriert worden sind (IJERPH 7.6.2022). Mit Stand 6.3.2023 sind laut Angaben der Programmadministration ca. 41 Millionen Familien für das SSP registriert, die auf eine Gesamtzahl von ca. 4,9 Millionen Krankenhausbesuche kommen (SSP 2023a).
Für permanente Einwohner aller noch nicht erfassten Standorte in Pakistan bietet allerdings die Computerized National Identity Card (CNIC) ebenso die Berechtigung für alle medizinischen Dienstleistungen, die unter das Unterstützungsprogramm der Sehat Insaf Card fallen (IOM 22.3.2023).
Die nicht-staatliche Entwicklungshilfeorganisation Aga Khan Development Network (AKDN) betreibt landesweit über 450 Kliniken, fünf weiterführende Krankenhäuser in Karatschi, Hyderabad und Gilgit sowie das Aga Khan University Hospital in Karatschi. Darüber hinaus arbeitet die Aga Khan Foundation (AKF) mit lokalen Regierungen zusammen, um eine Reihe von gesundheitsbezogenen Initiativen zu unterstützen, die den Zugang zur medizinischen Grundversorgung verbessern sollen (AKDN o.D.). Einige staatliche bzw. halbstaatliche Organisationen wie die Streitkräfte, halbstaatliche Unternehmen, die Eisenbahn, und die Employees Social Security Institution, bieten ihren Mitarbeitern und deren Angehörigen Gesundheitsdienste über ihre jeweils eigenen Systeme an, die jedoch insgesamt nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung abdecken (WHO o.D.).
Die Grundversorgung mit nahezu allen gängigen Medikamenten ist sichergestellt, diese sind für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich (AA 8.8.2022).
Psychische Gesundheit gilt in Pakistan als Tabu (Sehat Kajani 25.10.2022). Kulturell bedingt werden psychische Probleme im Allgemeinen als Werk übernatürlicher Kräfte oder als göttliche Strafe gesehen, was zu Stigmatisierung und zu Hürden beim Zugang zur Versorgung führt. Religiöse oder spirituelle Heiler sind meist der erste Ansprechpartner auf der Suche nach Hilfe (PMHC 2022; vgl. Borgen 2022, Sehat Kajani 25.10.2022). Der Zugang zu psychiatrischen Fachkräften ist minimal (Borgen 2022).
Der WHO Mental HealthAtlas 2020 gibt für Pakistan die Zahl der psychiatrischen Krankenhäuser mit elf, der psychiatrischen Abteilungen in allgemeinen Krankenhäusern mit 800, der stationären Einrichtungen speziell für Kinder mit drei und der Einrichtungen, die stationär auf Gemeindeebene arbeiten, mit 578 an. Außerdem erfasst die WHO 3.729 ambulante Einrichtungen, die an Krankenhäuser angeschlossen sind und 624, die auf Gemeindeebene arbeiten. Des Weiteren beziffert sie die Zahl der Psychiater mit 300, der Psychologen mit 100, des psychologischen Gesundheitspersonals mit 200 und der Sozialarbeiter mit psychologischer Ausbildung mit 600 (WHO 15.4.2022).
Laut einer Lancet Studie gibt es 96 Drogenrehablitationseinrichtungen, die sich in mehreren Teilen des Landes befinden. Diese sind meist stationär. 30.000 Patienten pro Jahr werden behandelt. Nur ein kleiner Teil des tatsächlichen Bedarfs wird allerdings damit abgedeckt; die Wartelisten sind lang. Es gibt dabei auch kostenfreie Programme (Lancet 24.2.2023). Die Pakistan Mental Health Coalition berichtet, dass in drei Zentren eine kostenfreie Drogenrehabilitation angeboten wird (PMHC 2022).
Die meisten Dienstleistungen der psychischen Gesundheit müssen selbst bezahlt werden (PMHC 2022). Psychische Gesundheitsdienstleistungen werden als Luxus angesehen. Die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie und der Flut von 2022 haben die Lage der psychischen Gesundheit weiter verschlechtert (Sehat Kajani 25.10.2022). Die COVID-19-Pandemie hat allerdings auch zu einem breiten Angebot an kostenfreien Telefon-Hotlines geführt, die durch verschiedene Geberorganisationen finanziert werden und darauf abzielen, mehr Menschen Zugang zu psychischer Versorgung zu bieten. Eine durchgängige Planung fehlt allerdings. Davon abgesehen wird jegliche Behandlung und Rehabilitation über Spitäler im tertiären Sektor abgewickelt, auf primärer Versorgungsebene müssen diese erst integriert werden (PMHC 2022).
Anm.: Zu weiteren Informationen betreffend die Lage zu COVID-19 und zur Flutkatastrophe 2022 siehe die entsprechend benannten Kapiteln.
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2023): Pakistan: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/pakistansicherheit/204974, Zugriff 8.2.2023 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 8.2.2023 AKDN - Aga Khan Development Network (o.D.): Pakistan – Health, https://the.akdn/en/where-w e-work/south-asia/pakistan/health-pakistan, Zugriff 13.2.2023 Borgen - The Borgen Project (9.9.2022): Mental Health in Pakistan, https://borgenproject.org/me ntal-health-in-pakistan/, Zugriff 11.4.2023 Dawn (18.1.2022): Govt hopes Sehat Sahulat Programme will address health issues, https://www.dawn.com/news/1670009/govt-hopes-sehat-sahulat-programme-will-address-healt h-issues, Zugriff 13.2.2023 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): DFAT Country Information Report Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-report-pakistan. pdf, Zugriff 8.2.2023 Lancet - Lancet / Forman, Shakhar, Shah, Mossialos, Nasir (18.10.2022): „Sehat sahulat: A social health justice policy leaving no one behind“, In The Lancet Regional Health Southeast Asia 7, https://www.thelancet.com/journals/lansea/article/PIIS2772-3682(22)00095-6/fulltext#seccesectitle0001, Zugriff 1.3.2023 IJERPH - International Journal of Environmental Research and Public Health / Hasan, Ul Mustafa, Kow, Merchant (7.6.2022): „Sehat Sahulat Program“: A Leap into the Universal Health Coverage in Pakistan, In International Journal of Environmental Research and Public Health 19, Heft 12, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9223125/, Zugriff 13.2.2023 IOM - International Organization for Migration (22.3.2023): Information on the socio-economic situation in Pakistan, per Email IOM - International Organization for Migration (30.3.2021): Information on the socio-economic situation in Pakistan, per Email Lancet (24.2.2023): Drug use, drug use disorders, and treatment services in the Eastern Mediterranean region: a systematic review, https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0 366(22)00435-7/fulltext, Zugriff 11.4.2023 Marham (6.8.2022): Major Challenges Faced by Health Sector in Pakistan, https://www.marham.p k/healthblog/major-challenges-faced-by-health-sector-in-pakistan/, Zugriff 8.2.2023 PMHC - Pakistan Mental Health Coalition (2022): Pakistan Mental Health Advocacy Landscape Analysis, https://pakmh.com/wp-content/uploads/2022/02/Pakistan-Mental-Health-Advocacy-Lan dscape-Analysis.pdf, Zugriff 11.4.2023 Sehat Kajani (25.10.2022): Mental Health and Why Is It Still a Taboo in Pakistan, https://sehatk ahani.com/mental-health-in-pakistan-and-why-is-it-still-a-taboo/, Zugriff 11.4.2023 SSP - Sehat Sahulat Program [Pakistan] (2023a): Sehat Sahulat Program, Prime Minister National Health Programme (PMNHP) Startseite, https://www.pmhealthprogram.gov.pk/, Zugriff 6.3.2023 SSP - Sehat Sahulat Program [Pakistan] (2023b): Prime Minister National Health Programme (PMNHP),About the Program, https://www.pmhealthprogram.gov.pk/about-us/, Zugriff 1.3.2023 SSP - Sehat Sahulat Program [Pakistan] (2023c): Sehat Card Plus, Sehat Sahulat Programme History, https://sehatsahulat.com.pk/sehat-sahulat-programme-history/, Zugriff 6.3.2023 TIP - Transparency International Pakistan (9.12.2022): National Corruption Perception Survey TI Pakistan 2022, https://transparency.org.pk/wp-content/uploads/2023/01/National-Corruption-Per ception-Survey-2022.pdf, Zugriff 1.3.2023 TNI - The News International (12.11.2021): All set for expansion of Sehat Sahulat Programme, https://www.thenews.com.pk/print/908098-all-set-for-expansion-of-sehat-sahulat-programme, Zugriff 13.2.2023 TSOP - Taiwanese Journal of Psychiatry (2020): Mental Health Care in Pakistan, https://e-tjp.org /article.asp?issn=1028-3684;year=2020;volume=34;issue=1;spage=6;epage=14;aulast=Javed;ty pe=3, Zugriff 8.2.2023 WHO - World Health Organization (2023): Outbreak and Crisis Response Appeal 2023, https: //www.who.int/emergencies/funding/outbreak-and-crisis-response-appeal/2023/2023-appeals/a ppeal-pakistan, Zugriff 11.4.2023 WHO - World Health Organization (2022): Monitoring health and health system performance in the Eastern Mediterranean Region: Core indicators and indicators on the health-related Sustainable Development Goals 2021. 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Rückkehr
Die Rückführung von pakistanischen Staatsangehörigen ist nur mit gültigem pakistanischen Reisepass oder mit einem von einer pakistanischen Auslandsvertretung ausgestellten nationalen Ersatzdokument möglich, nicht aber mit europäischen Passersatzdokumenten (AA 8.8.2022). Für pakistanische Staatsangehörige gibt es keine Einreisebeschränkungen, wenn sie freiwillig zurückkehren wollen (IOM 30.3.2021). Freiwillige Rückkehrer mit gültigen Reisedokumenten werden von den Grenzbehörden normalerweise wie alle anderen Pakistani, die aus dem Ausland einreisen, behandelt. Zwangsweise Rückgeführte erregen mehr Aufmerksamkeit und wenn vermutet wird, dass die Ausreise illegal war, werden sie von den Grenzbehörden befragt. Personen, die Pakistan mit gültigen Reisedokumenten verlassen und keine anderen Straftaten begangen haben, werden normalerweise nach einigen Stunden aus der Befragung entlassen (DFAT 25.1.2022).
Zurückgeführte haben bei ihrer Rückkehr nach Pakistan allein wegen der Stellung eines Asylantrags weder mit staatlichen Repressalien noch mit gesellschaftlicher Stigmatisierung zu rechnen. Eine über eine Befragung hinausgehende besondere Behandlung Zurückgeführter ist nicht festzustellen. Die pakistanischen Behörden erfragen lediglich, ob die Rückkehrer Pakistan auf legalem Weg verlassen haben. Im Falle einer illegalen Ausreise ist grundsätzlich eine Geld- oder Haftstrafe, bis zu sechs Monate, möglich (AA 8.8.2022). Unter gewissen Voraussetzungen verstoßen Pakistani nämlich mit ihrer Ausreise gegen die Emigration Ordinance (1979) oder gegen den Passport Act, 1974. Laut Auskunft der International Organization for Migration IOM werden Rückkehrende aber selbst bei Verstößen gegen die genannten Rechtsvorschriften im Regelfall nicht strafrechtlich verfolgt. Es sind vereinzelte Fälle an den Flughäfen Islamabad, Karatschi und Lahore bekannt, bei denen von den Betroffenen bei der Wiedereinreise Schmiergelder in geringer Höhe verlangt wurden. Rückkehrende, die nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen, um Schmiergelder zu zahlen, wurden in einigen Fällen inhaftiert (ÖB 12.2020). Nach einem anderen Bericht werden Personen, die bei der Ausreise gegen diese gesetzlichen Bestimmungen verstoßen haben und in Haft genommen wurden normalerweise nach einigen Tagen bei Bezahlung einer Strafe entlassen. Personen, die aufgrund eines Verbrechens in Pakistan gesucht werden oder im Ausland eine schwere Straftat begangen haben, werden verhaftet oder müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden. In den meisten Fällen geschieht die Ausreise aus Pakistan mit gültigen Reisepapieren (DFAT 25.1.2022). Dem deutschen Auswärtigen Amt ist kein Fall bekannt, in dem aus Deutschland abgeschobene pakistanische Staatsangehörige inhaftiert wurden. Aus Ländern wie der Türkei und aus den Staaten der Europäischen Union finden regelmäßig Abschiebungen nach Pakistan statt (AA 8.8.2022).
Personen, die nach Pakistan zurückkehren, erhalten keinerlei staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen. EU-Projekte, wie z.B. das European Return and Reintegration Network (ERRIN), sollen hier Unterstützung leisten (AA 8.8.2022). Dieses wird von einer NGO in Pakistan durchgeführt und bietet freiwillig und zwangsweise rückgeführten Personen Wiedereingliederungshilfe an, abhängig von ihrer Berechtigung, die von dem jeweiligen europäischen Land festgelegt wird. Einige Organisationen helfen bei der Gründung von Kleinunternehmen, indem sie finanzielle Unterstützung für Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, in Form von Krediten oder Mikrokrediten unterstützen, z.B. die KASHF-Stiftung oder die Jinnah Welfare Society (IOM 30.3.2021).
Das IOM Landesbüro für Österreich implementiert aktuell kein Programm zur unterstützten freiwilligen Rückkehr nach und Reintegration in Pakistan. Menschen, die aus Österreich freiwillige nach Pakistan zurückkehren möchten, können sich für das Reintegrationsprogramm von Frontex (Joint Reintegration Services/JRS) anmelden. Im Falle der Bewilligung stehen folgende Reintegrationsmaßnahmen zur Verfügung: Post-Arrival Paket zur Abdeckung des unmittelbaren Bedarfs nach der Rückkehr (z.B. für Flughafenunterstützung, Weiterreise, Unterkunft für die ersten 3 Tage sowie medizinische Unterstützung nach der Ankunft). Reintegrationspaket im Wert von 2.000 Euro für den Hauptantragsteller sowie im Wert von 1.000 Euro für jedes weitere Familienmitglied (IOM 24.1.2023).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.202 2.pdf, Zugriff 18.3.2023 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (25.1.2022): Country Information Report - Pakistan - January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067350/country-information-r eport-pakistan.pdf, Zugriff 7.1.2023 IOM - International Organization for Migration (24.1.2023): Re: Anfrage zu Pakistan, E-Mail IOM - International Organization for Migration (30.3.2021): Information on the socio-economic situation in Pakistan, per E-Mail ÖB - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (12.2020): Asylländerbericht Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050270/PAKI_%C3%96B-Bericht_2020_12.pdf, Zugriff 10.3.2023
Dokumentensicherheit
Für eine Beschreibung der wichtigsten Arten der Identitätsnachweise sowie der Registrierungsprozesse siehe Kapitel Registrierungswesen.
Dokumentenfälschungen sind in Pakistan ein weitverbreitetes Phänomen, v.a. von manuell angefertigten Dokumenten. Um gefälschte Dokumente zu erlangen, werden meist Bestechungsgelder bezahlt und/oder politischer Einfluss bzw. Kontakte von Familie und Freunden genutzt. Manche Dokumente sind sogar online oder in Märkten erhältlich. Folgende Dokumente werden regelmäßig gefälscht: Zeugnisse, akademische Titel, Empfehlungsschreiben, Geburts-, Todes-, Heirats- und Scheidungsurkunden, finanzielle Belege/Bestätigungen bzw. Kontoauszüge, Besitzurkunden, polizeiliche Dokumente (u.a. First Information Reports / FIRs), Einreise- und Ausreisestempel in Reisepässen sowie ausländische Visa. Überprüfungen treffen auf Herausforderungen. Vielfach sind Dokumente zwar nicht komplett gefälscht, aber wurden nicht ganz richtig ausgestellt; von verspäteten Eintragungen oder Änderungen sollte z.B. von den Behörden eine Kopie gemacht werden, was nicht immer der Fall ist. In manchen Städten (insbesondere in Gujranwala, Gujrat und Sialkot) kennen die zuständigen Beamten die zu überprüfenden Personen und nehmen Bestechungsgelder an. Darüber hinaus werden mitunter auch vermeintlich echte und in die Register eingetragene Urkunden ausgestellt, die jedoch inhaltlich nicht oder nur zum Teil richtig sind (z.B. Heiratsurkunden) (ÖB 12.2020).
Die Zahl der vorgelegten inhaltlich ge- oder verfälschten antragsbegründenden Unterlagen ist sehr hoch. Angesichts weit verbreiteter Korruption und des unzureichenden Zustands des Zivilstandswesens ist es einfach, einen fiktiven Standesfall (Geburt, Tod, Eheschließung) in ein echtes Personenstandsregister eintragen zu lassen und auf Basis dieser Eintragung eine formal echte Urkunde ausgestellt zu bekommen. Ebenso leicht lassen sich Verfälschungen einzelner Fakten tatsächlicher Personenstandsfälle (z.B. Geburtsdatum) in den Personenstandsregistern erreichen, um damit echte standesamtliche Urkunden zu erhalten, deren Inhalt der tatsächlichen Faktenlage nur teils entspricht. Merkmale auf einigen modernen Personenstandsurkunden zur Erhöhung der Fälschungssicherheit können so mühelos unterlaufen werden. Die Passbehörden haben mit dem Aufbau eines zentralen Passregisters unter Erfassung einzelner Biometrie-Merkmale und der Einführung fälschungssicherer Reisepässe die Fälschung von Pässen theoretisch deutlich erschwert. Die eingebauten Sicherheitssysteme versagen allerdings, da sie bereits bei der Dateneingabe durch korruptionsanfällige Verwaltungsbeamte unterlaufen werden können. Im Übrigen zirkulieren aufgrund der Urkundenproblematik zahlreiche echte Identitätsdokumente falschen Inhalts (AA 8.8.2022).
Es ist in Pakistan problemlos möglich, ein (Schein-)Strafverfahren gegen sich selbst in Gang zu bringen, in dem die vorgelegten Unterlagen (z.B. FIR) dann formal echt sind. Ebenso ist es ohne große Anstrengungen möglich, Zeitungsartikel, in denen eine Verfolgungssituation geschildert wird, gegen Bezahlung oder dank Beziehungen veröffentlichen zu lassen. Auch ist es möglich, religiöse Fatwen gegen sich selbst fälschen oder erstellen zu lassen (AA 8.8.2022).
Quellen: AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.8.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2077279/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrele vante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Pakistan_%28Stand_Juni_2022%29%2C_08.08.2022.pdf, Zugriff 18.8.2022 ÖB - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (12.2020): Asylländerbericht Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050270/PAKI_%C3%96B-Bericht_2020_12.pdf, Zugriff 12.1.2023
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch die Einsichtnahme in den behördlichen Verwaltungsakt unter Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des BF, des Bescheidinhaltes, des Inhaltes der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , durch Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister und Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister und im Wege der Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers.
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der dargelegte Verfahrensgang sowie die dazu getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verfahrensakts der belangten Behörde sowie aus dem Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
2.2.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers und dessen persönlichen und familiären Lebensumständen in Pakistan und in Italien sowie zu seinen Anknüpfungspunkten in Österreich ergeben sich aus den im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers in den Verfahren vor dem Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht, insbesonders den Angaben des BF in der hg. Verhandlung vom XXXX , dem Inhalt des Verwaltungsaktes sowie dem Datenstand des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister. Bereits das BFA stellte die Identität des BF fest und die erkennende Richterin hat keinen Grund daran zu zweifeln.
Die Feststellung, dass der BF gesund und arbeitsfähig ist, war aufgrund seiner Aussagen in der hg. mündlichen Verhandlung und mangels anderslautendem Vorbringen zu treffen.
2.2.2. Dass der BF über familiäre Anknüpfungspunkte in Pakistan und Italien verfügt ergibt sich aus dem Akteninhalt und bestätigte der BF in der hg. Beschwerdeverhandlung. Dass der BF über weitere Verwandte im Schengenraum verfüge oder ein diesbezügliches Abhängigkeitsverhältnis vorliegen würde, wurde nicht vorgebracht und bestätigte der BF in der hg. Beschwerdeverhandlung, dass ihn lediglich aus seiner Kultur heraus eine Unterstützungspflicht hinsichtlich seiner Familie in Italien treffe (VHS, S 9).
2.2.3. Zu seinen Deutschkenntnissen brachte der BF zwar keinen Nachweis in Vorlage, doch konnte sich die erkennende Richterin in der hg. Beschwerdeverhandlung einen Eindruck darüber verschaffen, dass der BF in der Lage ist, sich im Alltag auf Deutsch zu verständigen. Dass der BF gut Italienisch spricht ergibt sich nicht nur aus seinem langjährigen Aufenthalt in Italien, sondern auch aus dem Umstand, dass sowohl die Einvernahme am XXXX vor dem BFA als auch die hg. Beschwerdeverhandlung auf Wunsch des BF in italienischer Sprache erfolgte.
Dass der BF abgesehen von den Zeiten seiner laufenden Anhaltung in Untersuchungs- sowie Straf- und Schubhaft in österreichischen Justizanstalten seit seiner Anhaltung und Festnahme am XXXX zu keinem Zeitpunkt melderechtlich im Bundesgebiet erfasst war, ergibt sich aus einer Abfrage im zentralen Melderegister.
Dass der BF im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt einer angemeldeten Erwerbstätigkeit nachging, ergibt sich zweifelsfrei aus dem Akteninhalt.
Eine Integration des BF im Bundesgebiet ist unzweifelhaft nicht gegeben. Der BF reiste als Mitglied einer kriminellen Vereinigung im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter zum Zwecke der gewerbsmäßigen Schleppung in das Bundesgebiet, wurde am XXXX angehalten, festgenommen und ist seither ausschließlich inhaftiert.
2.2.4. Die Feststellungen hinsichtlich des Aufenthaltstitels des BF für Italien waren aus folgenden Gründen in der vorliegenden Form zu treffen:
Der BF legte im behördlichen Verfahren eine „Permesso di Soggiorno“ aus „motivi familiari“ vor, welche von XXXX gültig war, sowie eine Einzelarbeitserlaubnis (AS 275f); die ebenfalls vorgelegte Gesundheitskarte (AS 275) war bis XXXX gültig, die italienische Identitätskarte (AS 7) war bis XXXX befristet.
Der BF stellte XXXX einen Verlängerungsantrag für seinen Aufenthaltstitel und tätigte an gleichen Tag dazu auch die geforderte Einzahlung (AS 277).
Er erhielt von den italienischen Behörden einen Code, mit dem er online laufend den aktuellen Stand des Verlängerungsverfahrens überprüfen könne.
Die italienischen Behörden beauskunfteten am XXXX die Anfrage der österreichischen Behörde dahingehend, dass der BF im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels, Permesso di Soggiorno Nr. XXXX , ausgestellt am XXXX durch die Questura in XXXX , gültig bis XXXX , sei und am XXXX , dass der BF über keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr verfüge und der aus Arbeitsgründen erlassene Aufenthaltstitel im März XXXX abgelaufen und nicht verlängert worden sei.
In der Beschwerde brachte der BF vor, er habe die Verlängerung des Aufenthaltstitels beantragt und verfüge nunmehr über eine provisorische Aufenthaltsberechtigung (AS 256). Zum Beweis dieses Vorbringens brachte der BF ein Schreiben samt Einzahlungsbeleg, datiert mit November XXXX , in Vorlage (AS 247, AS 277).
In der hg. Beschwerdeverhandlung wurde mit Zustimmung des BF und unter Eingabe des dem BF übermittelten Codes Einsicht in die Webseite www.questure.polizadistato.it/straniere genommen. Dem daraufhin erscheinenden Text (entspricht der AS 257) zufolge liege das Dokument zur Abholung bereit. Es werde dem Antragsteller mitgeteilt, wann und wo er seine Aufenthaltsbewilligung abholen könne bzw. liege das Dokument zur Abholung bei der Fremdenpolizei in XXXX bereit.
Im vom BF vorgelegten Schreiben (AS 247) ist „data e ora: XXXX “ angegeben, und ist – der Übersetzung in der hg. Beschwerdeverhandlung zufolge – der Schluss naheliegend, dass der BF auch tatsächlich die Verlängerung seines Aufenthaltstitels am XXXX hätte abholen können, doch hat er dies – aus welchen Gründen auch immer – offensichtlich unterlassen.
Der Behauptung des BF, über einen aufrechten Aufenthaltstitel zu verfügen, steht zwar die Beauskunftung der italienischen Behörden vom XXXX entgegen, wonach der BF keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr in Italien habe, da der zuletzt gültige Titel aus Arbeitsgründen im März XXXX abgelaufen und nicht verlängert worden sei (AS 1, AS 17 des grün markierten Aktenteils), doch liegt andererseits - der aktuellen Abfrage zufolge – der gewünschte Aufenthaltstitel offenbar noch immer zur Abholung bereit.
Es ist daher festzuhalten, dass der BF zweifellos in der Vergangenheit über ein italienisches Aufenthaltsrecht verfügte. Ob dieser Aufenthaltstitel aber nach wie vor aufrecht ist, konnte hg. nicht zweifelsfrei bzw. abschließend festgestellt werden, weshalb die diesbezüglichen Feststellungen in der vorliegenden Form zu treffen waren.
Wie nachfolgend auszuführen sein wird, ist der Umstand, ob der BF nun tatsächlich über einen aufrechten Aufenthaltstitel für Italien verfügt, insofern nicht von Entscheidungsrelevanz, als – für den Fall der Bejahung - § 52 Abs. 6 FPG Satz 1 und 2 FPG aufgrund der objektiven und subjektvien Tatumstände nicht zur Anwendungen kommen würden, sondern die sofortige Ausreise des BF aus dem Bundesgebiet (gemeint: in den Herkunftsstaat) aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist. Demzufolge ist selbst bei Bejahung eines aufrechten Aufenthaltstitels des BF für Italien im Endergebnis die gleiche Entscheidung zu treffen wie im Fall der Verneinung, nämlich das Erfordernis der umgehenden Ausreise des BF in seinen Heimatstaat (s. dazu die näheren Ausführungen unter 3.3., insbesondere 3.3.2.2.). Eine Zurückverweisung des angefochtenen Bescheides an die belangte Behörde – wie vom Beschwerdeführervertreter in der hg. Beschwerdeverhandlung abermals beantragt – ist deshalb nicht erforderlich.
2.3. Zur Straffälligkeit des BF
2.3.1. Die rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des BF ergibt sich aus einer Abfrage im Strafregister der Republik in Zusammenschau mit dem Urteil des LG XXXX vom XXXX .
Die Feststellungen bezüglich der der Verurteilung des BF zugrundeliegenden strafbaren Tatbegehung sowie den Erwägungen des Strafgerichts hinsichtlich der Strafbemessung gründen auf dem Inhalt der Urteilsausfertigung des LG XXXX , Zl. XXXX , vom XXXX .
Die über den BF während seines Haftaufenthalts verhängten Ordnungsstrafen sind dem angefochtenen Bescheid des BFA zu entnehmen und wurden vom BF in der hg. Beschwerdeverhandlung auch nicht in Abrede gestellt.
Die Haft- bzw. Entlassungsdaten ergeben sich aus dem Akteninhalt in Zusammenschau mit dem aktuellen Auszug aus dem Zentralen Melderegister und dem Bescheid des BFA vom XXXX , mit dem über den BF die Schubhaft verhängt wurde.
2.3.2. Dem bei Tatbegehung bereits erwachsenen BF war jedenfalls bekannt, dass die von ihm geschleppten Personen über keine ausreichenden Reisedokumente verfügten und dass ihm für die Durchführung der Schlepperfahrt eine Bezahlung von zumindest EUR 100,00 pro Person in Aussicht gestellt worden war. Das strafbare Handeln des BF war somit sichtlich darauf ausgerichtet, sich unter Ausnützung der Notlage anderer zu bereichern.
Da er die Bezahlung auch nicht direkt von den geschleppten Personen zu erwarten hatte, sondern von einer vermittelnden Person, lässt - neben den folgerichtigen beweiswürdigenden Ausführungen im Urteil des LG XXXX - ebenfalls den Schluss zu, dass der BF im Rahmen einer kriminellen Organisation diese Schleppung durchführte und ihm dies auch bewusst war. Obwohl sein Fahrzeug – lt. Akteninhalt ein VW Polo - mit den geschleppten Personen bereits vollbesetzt gewesen wäre, bot er auch einem Freund eine Mitfahrgelegenheit nach Deutschland an. Neben den im Urteil des LG XXXX beschriebenen Tatmodalitäten ist dem BF daher zudem anzulasten, dass er die Schleppung insofern auch vorschriftswidrig mit einem Fahrzeug, welches aufgrund der Zahl der insgesamt beförderten Personen (6) überladen war, durchführte, zumal es als notorisch bekannt angesehen werden kann, dass in einem derart überladenen PKW - sodass eine beförderte Person sich im Fußraum des Autos aufzuhalten hatte - eine bestimmungsgemäße Einnahme eines Platzes sowie die sichere Beförderung nicht gewährleistet sind.
Auch zeigt die Art der begangenen Tat, dass es sich hier nicht um eine spontan oder aus Unbesonnenheit begangene Straftat handelte. Vielmehr bedurfte diese sichtlich einer gewissen Vorbereitungszeit, umfassender organisatorischer Maßnahmen und Vernetzung mit anderen Kriminellen, die ihm letztlich den Schlepperauftrag zukommen ließen und ihm die Bezahlung in Aussicht stellten, und zeigte sich dies auch in der gerichtlichen Auswertung seiner Handydaten (Urteil, S 5), woraus seitens des LG XXXX auf eine zweite durchgeführte Schlepperfahrt geschlossen wurde.
In diesem Zusammenhang ist zudem festzuhalten, dass der BF den Unrechtsgehalt seiner Taten nicht völlig eingesehen hat. Zwar ist dem Akteninhalt zu entnehmen, dass der BF seine Tat bereue (AS 257), doch ist den Ausführungen des obgenannten Urteils zu entnehmen, dass sich der BF nur teilweise geständig zeigte und nur das zugegeben hat, was man ihm jeweils nachweisen konnte (Urteil, S 4). Weder die Mitgliedschaft zu einer kriminellen Vereinigung noch die Durchführung einer zweiten Schlepperfahrt wollte der BF zugeben, doch erweist sich die diesbezügliche Beweiswürdigung im Urteil des LG XXXX als plausibel. Vor dem BFA gab der BF dazu lediglich an, er habe ‚Scheiße gebaut‘. In der hg. Beschwerdeverhandlung dazu befragt gab der BF zwar an, dass er glaube, einen so großen Blödsinn gemacht zu haben, den er nie wieder gut machen könne, doch versuchte er dennoch, sein Fehlverhalten insofern zu relativieren, als er angab, dies nur gemacht zu haben, um seiner Familie zu helfen (VHS, S 10). Dazu ist aber festzuhalten, dass es dem BF möglich hätte sein müssen, seiner Familie auch ohne diese Straftat finanziell zu unterstützen, zumal er – seinen eigenen Aussagen zufolge – vor seiner Inhaftierung zwei Jobs hatte, nämlich als Übersetzer und als Pizzazusteller (VHS, S 7), und er für die Schlepperfahrt „nur“ EUR 400,00 zu lukrieren erhoffte. Dass er mit diesen EUR 400,00 seine Eltern und seine beiden Geschwister finanziell hätte wirksam unterstützen können, ist nicht plausibel, zumal die Familie des BF über ein Familienhaus in Pakistan und über ein Geschäft in Italien verfügt, der Vater des BF berufstätig war und es der Mutter des BF und seinen beiden Geschwistern ermöglichte, nach Pakistan zu reisen, wo sich diese lt. Angaben des BF in der hg. Verhandlung aufhalten. Eine gutwillige Motivation für die Straftat des BF ist im Lichte der soeben erörterten Umstände jedenfalls nicht glaubhaft. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der BF ohne erkennbare Notlage delinquent wurde und sich im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit weiteren Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung und in der Absicht, sich durch die Durchführung dieser Fahrt ein Zusatzeinkommen verschaffen und unrechtmäßig bereichern wollte. Es ist daher festzuhalten, dass auch in der hg. Beschwerdeverhandlung der BF nach wie vor nicht gewillt war, volle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und war eine ernsthafte Einsicht oder Reue demzufolge nicht festzustellen.
2.3.3. Schon in Anbetracht dessen, dass der BF Österreich lediglich durchreiste, beim Grenzübertritt angehalten wurde und sich seit diesem Tag in Anhaltung bzw. Untersuchungs-, Straf- und Schubhaft befand konnte kein bisheriges Wohlverhalten des BF festgestellt und somit auch keine positive Zukunftsprognose getroffen werden (vlg. VwGH 21.12.2022, Ra 2020/21/0245, sowie Punkt 3.5.2. der rechtlichen Beurteilung).
Auch zeigen die über den BF insgesamt 10 verhängten Ordnungsstrafen bzw. Abmahnungen während seines Haftaufenthaltes in Österreich, dass der BF trotz Inhaftierung nach wie vor nicht gewillt ist, Gesetze und Regeln einzuhalten. In der hg. Beschwerdeverhandlung dazu befragt stellte der BF diese Ordnungswidrigkeiten auch gar nicht in Abrede, sondern rechtfertigte sein Verhalten dahingehend, dass man sich verteidigen müsse, da die Justizbeamten meistens nichts machen würden (VHS, S 11). Es erschließt sich der erkennenden Richterin jedoch nicht, inwiefern bspw. der unerlaubte Gewahrsam eines USB-Sticks oder eine positive Harnprobe in Zusammenhang damit stehen hätte sollen, dass sich der BF gegen seine Mithäftlinge hätte wehren müssen und ihm die Justizbeamten nicht zu Hilfe gekommen wären. Es ist diesbezüglich von einer Schutzbehauptung des BF auszugehen und zeigt wiederum auf, dass der BF nach wie vor nicht gewillt ist, sich an vorgegebene Regeln zu halten, und dass ihm in Hinblick auf eigenes Fehlverhalten Einsicht und Reue fehlt.
In diesem Zusammenhang ist aber auch darauf hinzuweisen, dass sichtlich erst der Umstand, dass der BF bei der Begehung der Straftat betreten wurde, dazu führte, dass er sein Verhalten einstellte und von keinem freiwilligen Beenden der Straftat ausgegangen werden kann, weshalb weitere strafbare Handlungen der geschilderten Art in Hinkunft nicht ausgeschlossen werden können. Da ihm zudem Einsicht und Reue in Hinblick auf sein eigenes Fehlverhalten fehlt, ist eine positive Zukunftsprognose ist beim BF daher nicht möglich.
Die vom BF begangene Straftat ist objektiv und subjektiv als besonders schwer einzustufen und scheidet eine positive Zukunftsprognose des BF aufgrund der Tatmodalitäten, des Persönlichkeitsbildes des BF und insbesondere aufgrund des Umstandes, dass der BF erst vor kurzem aus der Strafhaft entlassen worden ist und in Schubhaft genommen wurde – demnach noch kein Wohlverhalten vorliegen kann – aus.
2.4. Die Feststelllungen zum Herkunftsstaat des BF
2.4.1. Die seitens des Bundesverwaltungsgerichts im gegenständlichen Verfahren getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid bzw. Erkenntnis angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, welche dem BF zur Kenntnis gebracht wurden. Es wurden dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Auch ist auszuführen, dass die dem BF zur Kenntnis gebrachten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben (können), jedoch als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation des Beschwerdeführers in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann. (dazu auch Hengstschläger-Leeb, Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, RZ 65 zu § 52 AVG).
Überdies handelt es sich bei den dem Verfahren zugrunde gelegten Quellen um Berichte staatlicher oder staatsnaher Institutionen, denen aufgrund ihrer Verpflichtung zu Objektivität und Unparteilichkeit keine Voreingenommenheit unterstellt werden kann.
Die in das Verfahren integrierten Länderinformationen wurden schließlich von der Staatendokumentation des BFA, zusammengestellt, deren Qualität ob der gesetzlichen Verpflichtung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der gesammelten Tatsachen nach objektiven Kriterien (vgl. § 5 Abs. 2 BFA-G) nicht in Zweifel gezogen wird.
Was die allgemeine Sicherheitslage in Pakistan betrifft, so verkennt das Bundesverwaltungsgericht nicht die Lage in Pakistan und die Tatsache, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt.
Auf Grundlage der vorliegenden Länderberichte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht von einer extremen Gefährdungslage in Pakistan und insbesondere in der Herkunftsregion des BF gesprochen werden, dass gleichsam jede Person, die sich dort aufhält oder dorthin zurückkehrt, einer unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt ist.
Es ist den aktuellen Länderberichten zu entnehmen, dass landesweit die Zahl der terroristischen Angriffe seit 2021 ansteigt (PIPS 10.1.2024), wobei sich jedoch eine starke Konzentration in den Provinzen Khyber Pakhtunkwhwa und Belutschistan zeigt (PIPS 4.1.2022) und entfielen etwa im Jahr 2022 95% aller Anschläge auf diese beiden Provinzen (PIPS 24.2.2023).
In der Provinz Punjab, der Herkunftsprovinz des BF gingen hingegen die Anschläge im Zeitraum der 21 Monate zwischen der Machtübernahme in Kabul von August 2021 bis April 2023 (Stand der Auswertungen) zurück (PIPS 30.5.2023), doch ist auch diese sporadisch von Anschlägen betroffen, wobei Punjab 2023 einen Anstieg auf sechs Anschläge mit 16 Toten verzeichnet, wobei 11 Todesopfer Terroristen waren. Im Jahresvergleich verzeichnete PIPS für den Punjab 2022 drei Anschläge, die sechs Menschenleben forderten, 2021 fünf Anschläge mit 14 Toten (PIPS 24.2.2023).
Weder der BF noch seine Vertretung traten in der hg. Verhandlung den gegenständlichen Feststellungen entgegen.
2.4.2. Soweit der BF in der Beschwerde vorbrachte, er habe in Pakistan kaum Anknüpfungspunkte und wäre auch nicht selbsterhaltungsfähig, so kann diesem Vorbringen nicht gefolgt werden. So gab der BF selbst in der behördlichen Einvernahme an, in Pakistan über Verwandte und einen Freundeskreis zu verfügen und dass er in Kontakt mit ihnen stehe. Zum Zeitpunkt der niederschriftlichen Einvernahme befanden sich zudem die beiden jüngeren Geschwister gerade auf Urlaub bei den Großeltern in Pakistan. Das Beschwerdevorbringen der kaum vorhandenen Anknüpfungspunkte ist jedenfalls aktenwidrig und in Anbetracht des Umstandes, dass der BF XXXX Jahre seines Lebens im Herkunftsland verbrachte, dort sozialisiert wurde und die Schule besuchte, auch nicht nachvollziehbar oder glaubhaft. In der mündlichen Verhandlung erklärte der BF dazu befragt, dass sich sowohl die Mutter als auch die Geschwister derzeit in Pakistan aufhalten würden, um den BF nach seiner Abschiebung dort zu treffen. Diese seien mit dem Flugzeug nach Pakistan gereist und würden im Haus des Großvaters leben. Seine Familie würde alle 3 oder 4 Jahre ihren Urlaub in Pakistan verbringen, er selbst sei seit seiner Ausreise nach Italien nicht mehr in seinem Heimatland gewesen (VHS, S 10).
Es erschließt sich der erkennenden Richterin jedoch nicht, weshalb der nunmehr XXXX -jährige BF, der zudem gesund und arbeitsfähig ist und muttersprachlich Urdu spricht, über eine pakistanische Schulbildung und mittlerweile auch über Berufserfahrung in der Gastronomie, im Verkauf und als Dolmetscher verfügt, nicht in der Lage sein sollte, sich seinen Lebensunterhalt in Pakistan durch Erwerbstätigkeit - in welchem Bereich auch immer, notfalls auch durch Gelegenheitsarbeiten - zu erwirtschaften. Eine nähere Begründung, weshalb ihm dies nicht möglich sein sollte, brachte der BF weder in der Beschwerde noch in der hg. Beschwerdeverhandlung vor.
Zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt gab der BF lediglich an, „Hunger und Leid“ (VHS S 10) zu befürchten, ohne dies näher auszuführen. Es sind jedoch sind keine Gründe ersichtlich, weshalb der BF als gesunder und leistungsfähiger junger Mann mit Bildung und Berufserfahrung nicht in der Lage sein sollte, sich seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, zumal er auch nicht aus einer ökonomisch benachteiligten Familie stammt und sein Wohnsituation geklärt erscheint (die Familie besitzt ein Haus zu Urlaubszwecken und es leben die Großeltern und weitere Verwandte im Herkunftsland). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass dem BF im Fall seiner Rückkehr auch im Rahmen seines Familienverbandes bei Bedarf eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung zuteil werden kann. Es kann daher folglich auch davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Existenz gesichert ist. Auch dass seine Mutter und seine Geschwister regelmäßig Urlaube im Herkunftsland verbringen, spricht dafür, dass die Verwandtschaft des BF in der Lage ist, sich adäquat zu versorgen und dass die existenziellen Befürchtungen des BF nicht begründet sind. Es sind auch keine Umstände erkennbar, die dagegen sprechen, dass der BF bei Bedarf auch Unterstützung durch seine in Italien lebende Familie erfahren kann.
2.4.3. Es spricht die allgemeine Lage in Pakistan nicht gegen eine Rückkehr des BF. Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen in Bezug auf den Herkunftsstaat des BF nicht vor.
Da sich der Herkunftsstaat des BF nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes besteht.
Der BF verfügt nach seiner Rückkehr über eine ausreichende Existenzgrundlage und bestehen keine medizinischen oder sonstigen Rückkehrhindernisse.
In Anbetracht dieser Umstände kann letztlich nicht davon ausgegangen werden, dass er im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Letztlich war zu berücksichtigen, dass der BF den ihm zur Kenntnis gebrachten und der Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichten zur Zumutbarkeit und Möglichkeit der Rückkehr nach Pakistan nicht substantiiert entgegengetreten ist und in weiterer Folge auch nicht dargelegt hat, wie sich eine Rückkehr in den Herkunftsstaat konkret auf seine individuelle Situation auswirken würde, insbesondere inwieweit der BF durch die Rückkehr einem realen Risiko einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre.
2.4.4. Soweit der BF in der Beschwerde vorbrachte, sein gesamter Lebensmittelpunkt befinde sich in Italien, seine Familie sei von ihm abhängig und dass sein Vater altersbedingt nicht mehr arbeiten könne, ist dem BF zunächst der Umstand entgegenzuhalten, dass er auch während seiner Haftzeit, sohin seit Juli XXXX seine Familie in Italien finanziell nicht unterstützen konnte. Zudem erschließt sich auch nicht, welche Unterhaltspflichten den BF hinsichtlich seiner Geschwister treffen sollten, zumal die Eltern des BF (und seiner Geschwister) noch am Leben und im erwerbsfähigen Alter sind und der BF auch keine schwerwiegende Erkrankung der Eltern ins Treffen geführt hat und der Vater in Italien verschiedenen Berufen nachging und einen Lebensmittelladen betreibt.
Darüber hinaus ist nicht nachvollziehbar, weshalb der BF noch in der behördlichen Niederschrift am XXXX angegeben hat, dass sein etwa 60-jähriger Vater als Rettungswagenfahrer erwerbstätig sei, hingegen dieser - den Beschwerdeausführungen zufolge - nur ein Monat später altersbedingt nicht mehr arbeitsfähig sein sollte (AS 57 vs. AS 257).
Dem BF wurde die oa Divergenz hinsichtlich der Berufstätigkeit seines Vaters in der hg. Verhandlung vorgehalten und gab dieser dazu an, sein Vater habe ein Lebensmittelgeschäft angemietet und arbeite dort (VHS, S 7). Aufgrund seiner Rückenprobleme könne er aber nicht viel arbeiten, weshalb das Geschäft auch nur wenig Umsatz mache. Zuvor habe er bei einem Sicherheitsdienst und dann als Rettungswagenfahrer gearbeitet. Zudem erhalte die Familie Zuwendungen des Staates (VHS, S 8). Auch wenn sich der BF aufgrund seiner kulturellen Prägung dazu verpflichtet fühlen mag, seiner Familie zu helfen, so ist dennoch von keiner Abhängigkeit seiner Familie von ihm auszugehen und ist in diesem Zusammenhang auch festzuhalten, dass die Familie in der Lage ist, Flugreisen für die Mutter und beiden Geschwister des BF nach Pakistan und den dortigen Aufenthalt zu finanzieren (VHS S 10) und den Unterhalt eines Hauses in Pakistan zu leisten (AS 57).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
3.1. Verfahrensbestimmungen
3.1.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das Bundesverwaltungsgericht.
3.1.2. Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Aufgrund der geltenden Geschäftsverteilung wurde der gegenständliche Verfahrensakt der erkennenden Einzelrichterin zugewiesen, woraus sich deren Zuständigkeit ergibt.
3.2. Zur Rückkehrentscheidung
3.2 Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (zur Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 57 FPG):
3.2.1. Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:
1.wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3.wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.2.2. Der BF befindet sich seit Juli XXXX im Bundesgebiet, wobei sein Aufenthalt nicht in obigem Sinne geduldet ist. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies vom BF auch nicht behauptet wurde.
3.3. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides (Erlassung einer Rückkehrentscheidung)
3.3.1. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 20b AsylG 2005 ist ein Drittstaatsangehöriger ein Fremder, der nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger ist. Fremder ist gemäß § 2 Abs. 1 Z 20a AsylG 2005 wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt.
Gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
Gemäß § 31 Abs. 1 FPG halten sich Fremde im Bundesgebiet rechtmäßig auf, wenn sie […] Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt), sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen […].
Gemäß Art. 21 Abs. 1 SDÜ können sich Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einer der Vertragsparteien ausgestellten Aufenthaltstitels sind, auf Grund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments höchstens bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien bewegen, soweit sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste der betroffenen Vertragsparteien stehen.
Gemäß Art. 5 Abs. 1 SDÜ kann einem Drittausländer für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien gestattet werden, wenn er die nachstehenden Voraussetzungen erfüllt: Er muss im Besitz eines oder mehrere gültiger Grenzübertrittspapiere sein, die vom Exekutivausschuss bestimmt werden (lit. a); (…) er muss gegebenenfalls die Dokumente vorzeigen, die seinen Aufenthaltszweck und die Umstände seines Aufenthalts belegen, und über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel auf legale Weise zu erwerben (lit. c); (…) er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit oder die internationalen Beziehungen einer der Vertragsparteien darstellen (lit. e).
3.3.2. Die belangte Behörde hat die erlassene Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG gestützt, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
3.3.2.1. Im vorliegenden Fall verfügte der Beschwerdeführer bei seiner Einreise über einen gültigen italienischen Aufenthaltstitel (befristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, zuletzt gültig von XXXX bis XXXX ). Er konnte sich somit grundsätzlich gem. Art. 21 SDÜ bis zu drei Monate frei im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaates bewegen, doch liegt es im gegenständlichen Fall auch auf der Hand, dass dieser das Bundesgebiet nicht zu Besuchs- oder touristischen Zwecken bzw. zur Durchreise aufsuchte, sondern dass aufgrund des Reisezweckes und der Delinquenz des BF der Ausschlusstatbestand des Art. 5 Abs. 1 lit. e SDÜ vorliegt. Der Judikatur zufolge (VwGH 21.02.2023, Ra 2021/17/00439) ist zu prüfen, ob gemäß Art. 21 Abs. 1 SDÜ 1990 iVm. Art. 6 Abs. 1 lit. a, c und e SGK im vorgeworfenen Tatzeitpunkt der Drittausländer die dort genannten Voraussetzungen für den Reiseverkehr erfüllt hatte bzw. ob iSd. § 31 Abs. 1 Z 3 FrPolG 2005 der Drittausländer während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einer unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Demzufolge stellt sich sowohl die Einreise als auch der Aufenthalt des BF zum Tatzeitpunkt als rechtswidrig dar.
Lt. Attaché der ÖB Italien wurde dem BFA am XXXX mitgeteilt, dass der BF über keinen gültigen Auftenhaltstitel in Italien verfügt und der aus Arbeitsgründen erlassene Aufenthaltstitel im März XXXX abgelaufen ist und nicht verlängert wurde. Diesfalls erweist sich auch der Aufenthalt des BF zum Entscheidungszeitpunkt - mangels aufrechtem Aufenthaltstitel - zum Entscheidungszeitpunkt als unrechtmäßig,
3.3.2.2. Selbst wenn der BF – wie die in der hg. Beschwerdeverhandlung vorgenommene Abfrage allenfalls vermuten lässt (s. auch Punkt 2.2.4.) – über einen aktuell gültigen Aufenthaltstitel verfügen sollte (VHS, S 6), so ändert dies nichts an dem Umstand, dass aufgrund des Reisezweckes und der Delinquenz des BF der Ausschlusstatbestand des Art. 5 Abs. 1 lit. 4 SDÜ vorliegt und sich sowohl die Einreise als auch der Aufenthalt des BF als rechtswidrig darstellte.
Gemäß § 52 Abs. 6 FPG hat sich ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
Nach der Judikatur des VwGH ist § 52 Abs. 6 FPG vor dem Hintergrund der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG zu lesen. Schon aus den Erläuterungen der Regierungsvorlage zu dieser Bestimmung ergibt sich unzweifelhaft, dass der Gesetzgeber damit die Umsetzung des Art. 6 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie beabsichtigte (vgl. 1078 BlgNR XXIV. GP, S 29). In der Bestimmung wird angeordnet, dass ein nicht rechtmäßig aufhältiger Drittstaatsangehöriger mit einem Aufenthaltstitel oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates zunächst zu verpflichten ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben. Nur wenn dieser Ausreiseverpflichtung nicht entsprochen wird oder eine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist, hat eine Rückkehrentscheidung zu erfolgen. Demnach bedarf es also vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung einer „Verpflichtung“ des Drittstaatsangehörigen, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben. Die Frage der „Unverzüglichkeit“ stellt sich in Bezug auf die Zeitspanne, die seit Ausspruch der „Verpflichtung“ ergangen ist. Wird ihr „unverzüglich“ entsprochen, hat eine Rückkehrentscheidung zu unterbleiben (vgl. VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0234). Nur dann, wenn er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommt oder wenn seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FrPolG zu erlassen (vgl. VwGH 16.07.2020, Ra 2020/21/0146 mit Verweis auf VwGH 28.05.2020, Ra 2020/21/0128).
Im Kontext des § 52 Abs. 6 FPG ist aber auch zu berücksichtigen, dass es nicht schlichtweg auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ankommt, sondern (iS eines zusätzlichen Kriteriums) darauf, ob angesichts einer solchen Gefährdung die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Bundesgebiet erforderlich ist (vgl. VwGH 03.07.2018, Ro 2018/21/0007).
Die Erlassung einer auf den unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gegründeten Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG hätte nach der genannten Bestimmung in seiner ersten Alternative somit vorausgesetzt, dass der BF (erfolglos) aufgefordert worden wäre, sich – nach seiner Entlassung aus der Strafhaft – unverzüglich nach Italien zu begeben (vgl. VwGH 02.09.2021, Ra 2021/21/0103, mwN). Dass der BF eine derartige Aufforderung erhalten sowie abgelehnt hätte, ist nach der Aktenlage nicht ersichtlich. Vielmehr wurde dem BF von der belangten Behörde die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot angekündigt.
Unzweifelhaft ist, dass auch bei einer Existenz eines Aufenthaltsrechts des BF in Italien, im vorliegenden Fall von der zweiten Alternative des § 52 Abs. 6 FPG ausgegangen werden kann, wonach die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF (und darauf aufbauend die Erlassung eines Einreiseverbotes) voraussetzt, dass seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet (gemeint: in den Herkunftsstaat) aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist. Hierbei kommt es auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne des Art. 6 Abs. 2 der Rückführungs-RL (Richtlinie 2008/115/EG) an, also darauf, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. VwGH 02.09.2021, Ra 2021/21/0103, mwN).
Den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein sehr hoher Stellenwert zu. Die durch Schlepperei bewirkte erhebliche Gefährdung der öffentlichen (inneren) Sicherheit stellt ein von den Strafgerichten zu ahndendes Delikt dar. Bereits die Strafandrohung beim vom BF begangenen Delikt (von einem bis zu 10 Jahren; § 114 Abs. 4 FPG) lässt erkennen, wie groß das öffentliche Interesse an der Unterbindung des Schlepperunwesens ist.
Die Beurteilung der Schlepperei als mit besonderer Verwerflichkeit behaftet zeigt sich auch darin, dass gem. § 92 Abs. 1 Z 4 FPG die Ausstellung, die Erweiterung des Geltungsbereiches und die Änderung eines Fremdenpasses zu versagen ist, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Fremde das Dokument benützen will, um Schlepperei zu begehen oder an ihr mitzuwirken. Dem Gesetzgeber des FPG war daran gelegen, durch die Anführung eines eigenen auf die Schlepperei abgestellten Versagungstatbestandes das besonders große Gefährdungspotential dieses Fehlverhaltens für die innere oder äußere Sicherheit Österreichs hervorzuheben (VwGH 17.02.2006, 2006/18/0030).
Beim Delikt der Schlepperei, insbesondere im Rahmen einer kriminellen Vereinigung, handelt es sich um ein unter fremdenrechtlichen Aspekten besonders verpöntes Verhalten (vgl. VwGH 03.10.2022, Ra 2022/19/0221, mwN) welches eine Wiederholungsgefahr indiziert (vgl. VwGH 07.02.2008, 2006/21/0343 uvm), wobei an der Unterbindung des Schlepperwesens grundsätzlich ein großes öffentliches Interesse besteht (vgl. VwGH 04.08.2004, AW 2004/18/0199).
Die Erfüllung dieses Gefährdungsmaßstabes kann in Anbetracht des gravierenden, strafrechtswidrigen Fehlverhaltens des Beschwerdeführers, welches seiner Verurteilung wegen des Verbrechens der Schlepperei als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zugrunde lag, angenommen werden, zumal der BF ohne erkennbare Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet Fremde, die nicht zum Aufenthalt auf österreichischem Staatsgebiet oder in der EU berechtigt waren, mit seinem PKW von Italien durch die Schweiz und durch Österreich mit Zieldestination Deutschland transportierte, wobei ihm für diese Schlepperfahrt ein Entgelt in Höhe von EUR 400,00 in Aussicht gestellt wurde.
Aufgrund der objektiven und subjektiven Tatumstände ist der Ansicht des BFA, dass die sofortige Ausreise des BF – nach seiner Haftentlassung - aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist, nicht entgegenzutreten, da das persönliche Verhalten des BF eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die die Grundinteressen der Gesellschaft berührt, darstellt. Infolgedessen kommen § 52 Abs. 6 Satz 1 und 2 FPG nicht zur Anwendung und ist gem. § 52 Abs. 6 Satz 3 FPG eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid die Rückkehrentscheidung daher zutreffend – auch im Fall eines aktuell gültigen Aufenthaltstitels in Italien - auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG gestützt.
3.3.3. Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).
Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198). Da die Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bezogen sein soll, darf die Frage nach dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- oder Familienleben nicht allein im Hinblick auf die Verhältnisse des Beschwerdeführers in Österreich beurteilt werden, sondern es ist auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten in den Blick zu nehmen (vgl. VwGH 03.07.2018, Ro 2018/21/0007), auch wenn ein Einreiseverbot die Erteilung einer Einreiseerlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung durch einen anderen Mitgliedstaat nicht absolut ausschließt (vgl. insbesondere Art 11 Abs 4 der Rückführungsrichtlinie; siehe VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0002).
Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung jedenfalls begründet abzusprechen, insbesondere im Hinblick darauf, ob sie auf Dauer unzulässig ist, also wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht verfügen, unzulässig wäre.
3.3.4. Umgelegt auf den vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes:
Der BF ist als Staatsangehöriger von Pakistan Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs. 1 Z 20 b AsylG 2005.
Der Beschwerdeführer hielt sich seit dem Jahr XXXX in Italien auf. Er verfügt/e in Italien über eine Aufenthaltsberechtigung und ging einer Beschäftigung nach. Seinen Angaben zufolge war er bis zu seiner Inhaftierung als Übersetzer und als Pizzazusteller tätig (VHS, S 7). Er spricht Italienisch und verfügt, wie sich in der behördlichen Einvernahme sowie in der hg. Verhandlung zeigte, über Deutschkenntnisse. Er verfügt über einen Freundes- und Bekanntenkreis in Italien und lt. seinen Angaben in der behördlichen Einvernahme auch über einen Freund in Österreich (AS 51). Während seines Aufenthaltes in Österreich war der BF durchgehend in Haft.
Der Umstand, dass der Beschwerdeführer nur in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist und hier straffällig wurde, um sich dadurch seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, zeigt, dass das persönliche Verhalten des Beschwerdeführers eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt.
Der BF verfügt über kein Familienleben in Österreich und hat ein solches auch nicht behauptet (zu einem allfälligen Familienleben des BF in Italien siehe nachfolgend). Auch liegen keine Anhaltspunkte für eine soziale, berufliche oder sprachliche Integration des BF in Österreich vor. Der BF hält sich seit Juli XXXX in Österreich auf, sodass schon aufgrund der relativ kurzen Aufenthaltsdauer, welche der BF bis XXXX in Strafhaft verbrachte und unmittelbar darauf in Schubhaft genommen wurde, keinesfalls von einer Integration des BF in die österreichische Gesellschaft in beruflicher oder sozialer Hinsicht ausgegangen werden kann, auch wenn nicht unberücksichtigt bleibt, dass sich der BF im Zuge der Haft gute Deutschkenntnisse angeeignet und soziale Kontakte geknüpft hat.
Hinzu kommt im gegenständlichen Fall, dass nicht verkannt wird, dass der BF angab, seit dem Jahr XXXX in Italien zu leben (eine Meldebestätigung wurde nicht vorgelegt), sich also sohin seit rd. siebeneinhalb Jahren außerhalb des Herkunftsstaates aufhält, trotzdem hat er mehr als die Hälfte seines Lebens in Pakistan verbracht und wurde dort sozialisiert und spricht die Muttersprache seines Herkunftsstaates, der dem BF auch am XXXX (AS 5) einen Reisepass ausgestellt hat, wie eine im Verfahren vorgelegte Kopie zeigt. In seinem Herkunftsstaat leben im Distrikt Gujrat, Provinz Punjab, die Großmutter, Onkel, Tanten und Cousins (AS 55). Der BF steht zu seinen Großeltern auch in Kontakt (AS 53). Seine Kernfamilie verfügt dort auch über ein Grundstück sowie ein Haus, das für Urlaubszwecke der Familie genutzt wird (AS 57) und verbrachten die jüngeren Geschwister des BF seinen Angaben in der behördlichen Einvernahme zufolge zum Einvernahmezeitpunkt einen Urlaub bei den Großeltern in Pakistan (AS 53), deren Haus eine halbe Stunde vom Haus der Familie des BF entfernt liegt (AS 57). Aktuell befinden sich sowohl die Mutter als auch die Geschwister des BF noch immer in Pakistan (VHS, S 10). Er verfügt somit über familiäre Anknüpfungspunkte in Pakistan und nutzt die Kernfamilie des BF deren Eigentumshaus zu Urlaubszwecken, weshalb auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass er dort entwurzelt ist, was im Verfahren auch nicht vorgebracht wurde.
Er weist Berufserfahrung als Dolmetscher, Kellner und Verkäufer, die er sich im Zuge seines Aufenthaltes in Italien angeeignet hat (AS 59, VHS S 7), auf. Daher ist davon auszugehen, dass er sich grundsätzlich als arbeitsfähige Person im Falle der Rückkehr wieder in die Gesellschaft eingliedern kann. Überdies ist davon auszugehen, dass er im Familienhaus, das von der Familie zu Urlaubszwecken genutzt wird, in Gujrat Unterkunft nehmen kann und ihn seine in Pakistan lebenden Verwandten ihn im Rückkehrfall bei Bedarf unterstützen würden. Auch sind keine Umstände ersichtlich, die im Bedarfsfall gegen eine allfällige Unterstützung des BF durch seine in Italien lebende Familie, sprechen.
Es können somit keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat erkannt werden.
Allfällige damit verbundene Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der Rückkehr in den Herkunftsstaat auftreten können, sind im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/21/0180).
Den Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich bzw. dem Schengener Raum stehen die öffentlichen Interessen insbesondere an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber.
Vor allem ist festzuhalten, dass der BF im Bundesgebiet wegen des Verbrechens der Schlepperei (Schleppung von 4 Personen als Mitglied einer kriminellen Vereinigung) rechtskräftig zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Höhe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde, was sich gravierend zu Lasten der persönlichen Interessen des BF auswirkt.
Bereits das BFA hat einschlägige höchstgerichtliche Judikatur zum Verbrechen der Schlepperei zitiert und wird dazu seitens des erkennenden Gerichtes die diesbezügliche höchstgerichtliche Judikatur hervorgehoben (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer: Asyl- und Fremdenrecht, Stand 15.01.2016 Kommentar, § 53 E 15).
Bei einer Verurteilung wegen Schlepperei handelt es sich im Sinne der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes per se um ein besonders schweres Verbrechen.
Den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein sehr hoher Stellenwert zu. Die durch Schlepperei bewirkte erhebliche Gefährdung der öffentlichen (inneren) Sicherheit stellt ein von den Strafgerichten zu ahndendes Delikt dar. Bereits durch die Abänderung des Fremdenrechts mit der am 01.07.2000 in Kraft getretenen Novelle BGBl. I 34/2000 ist die Höchststrafe für gewerbsmäßige Schlepperei auf fünf Jahre erhöht worden, woran zu erkennen ist, wie groß das öffentliche Interesse an der Unterbindung des Schlepperunwesens ist.
Die Beurteilung der Schlepperei als mit besonderer Verwerflichkeit behaftet zeigt sich auch darin, dass gem. § 92 Abs. 1 Z 4 FPG die Ausstellung, die Erweiterung des Geltungsbereiches und die Änderung eines Fremdenpasses zu versagen ist, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Fremde das Dokument benützen will, um Schlepperei zu begehen oder an ihr mitzuwirken.
Dem Gesetzgeber des FPG war daran gelegen, durch die Anführung eines eigenen auf die Schlepperei abgestellten Versagungstatbestandes das besonders große Gefährdungspotential dieses Fehlverhaltens für die innere oder äußere Sicherheit Österreichs hervorzuheben (VwGH 17.02.2006, 2006/18/0030).
In Zusammenhang mit der Verurteilung wegen Schlepperei wurde seitens des VwGH (VwGH 29.02.2012, 2009/21/0103) die tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (VwGH 20.11.2008, 2008/21/0603), hervorgehoben und auf den hohen Stellenwert hingewiesen, der der Bekämpfung von - auch aus unionsrechtlicher Sicht besonders verpönten - (VwGH 27.03.2007, 2007/18/0135) Schlepperei zukommt.
Bereits im Rechtssatz seiner Entscheidung vom 11.11.1991, 90/19/0447, VwSlg 13526 A/1991 hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass es nicht als rechtswidrig erkannt werden kann, dass die Behörde den öffentlichen Interessen an der Unterbindung des Schlepperunwesens höheres Gewicht beigemessen hat als der Integration und den familiären Bindungen des Fremden, wenn man bedenkt, dass die Schlepperei einerseits der ordnungsgemäßen Handhabung der Fremdenpolizei hinderlich ist und andererseits der Republik Österreich aus der Rücknahmeverpflichtung hinsichtlich der geschleppten Personen und den in der Folge anfallenden Schubhaftkosten hohe finanzielle Aufwendungen entstehen. Außerdem wurde auf die Ausbeutung der an der rechtswidrigen Einreise oder Ausreise interessierten Personen durch Schlepper verwiesen.
Auch in seiner Entscheidung vom 21.09.2000, 99/18/0286 sah der Verwaltungsgerichtshof die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes zur Bekämpfung des Schlepperunwesens als dringend geboten an.
An der Verhinderung der Schlepperei ohne Bereicherungsabsicht besteht ein großes öffentliches Interesse, das die Versagung eines Konventionsreisepasses aus Gründen der öffentlichen Ordnung (vgl. Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention) rechtfertigt (VwGH 05.07.2012, 2010/21/0345unter Hinweis auf E 24. Juni 2010, 2009/21/0084; Vater hat mj Tochter in Gebiet der Europäischen Union geschleppt).
Bei der Schlepperkriminalität besteht überdies Wiederholungsgefahr (VwGH 07.02.2008, 2006/21/0343).
Festzuhalten ist, dass der Bekämpfung der Schlepperei hinsichtlich des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - auch aus unionsrechtlicher Sicht - ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. VwGH 13.2.2020, Fe 2019/01/0001, mwN).
Bei einer im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangenen Schlepperei – eine solche liegt in casu vor - handelt es sich um ein unter fremdenrechtlichen Aspekten besonders verpöntes Verhalten. Daher bedarf es einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles, die im Einzelfall trotz eines langjährigen Aufenthalts (und der damit verbundenen Integration) dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung dringend geboten ist (vgl. VwGH 16.07.2020, Ra 2019/21/0335 mwN).
Der BF war im Rahmen einer kriminellen Vereinigung an der Schleppung von 4 Personen beteiligt und hat damit ein besonders verpöntes Verhalten gezeigt.
Letztlich sei auch auf das der Schlepperei innewohnende maßgebliche Gefährdungspotential zu Lasten der geschleppten Personen, welches in Kauf genommen wird, hervorgehoben und in einem auf die allgemein bekannten Vorkommnisse, im Zuge derer immer wieder, so auch in Österreich geschehen, geschleppte Personen zu Tode kommen, verwiesen.
Angesichts dessen ist es nicht als rechtswidrig zu erkennen, dass die belangte Behörde die Auffassung vertrat, der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet würde die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden und den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufen.
Dieses große öffentliche Interesse ist auch unter dem Gesichtspunkt anderer in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannter öffentlicher Interessen - insbesondere des Schutzes der Gesundheit - zu berücksichtigen. Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot verpflichten Drittstaatsangehörige zur Ausreise in den Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat und enthalten die normative Anordnung, für den festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet derjenigen Mitgliedsstaaten einzureisen, für die die Rückführungs-RL gilt, und sich dort nicht aufzuhalten (vgl. VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0151).
Die Frage nach dem Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen darf daher nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden, vielmehr muss auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten mitberücksichtigt werden (vgl. VwGH 27.08.2020, Ra 2020/21/0172).
Es war festzustellen, dass die Eltern des BF und seine minderjährigen Geschwister in Italien leben, was auch seitens des BFA auch im angefochtenen Bescheid festgestellt wurde. Der erwachsene BF selbst ist seit dem Jahr XXXX in Italien aufhältig und lebte dort bis zum Jahr 2022 mit seiner Familie zusammen. Der BF hat im behördlichen Verfahren erklärt, seine Familie finanziell zu unterstützen, doch ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich daraus weder eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung noch ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis ergibt und darüber hinaus der BF aufgrund seiner Inhaftierung XXXX kein Einkommen hat, das ihm eine finanzielle Unterstützung seiner Familie ermöglichte. Der BF hat in der behördlichen Einvernahme angegeben, dass sein Vater als Rettungsfahrer arbeitet und seien seine Geschwister derzeit in Pakistan auf Urlaub. Wenn in der Beschwerde nunmehr ausgeführt wird, es bestehe ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem BF und seiner Familie in Italien, da dieser der einzige sei, der erwerbstätig sei und sei der Vater des BF altersbedingt nicht mehr erwerbsfähig, so ist dem entgegenzuhalten, dass der BF in der behördlichen Einvernahme am XXXX nicht von einer Erwerbslosigkeit des Vaters sprach, sondern vielmehr angab, dieser sei ca. 60 Jahre alt und als Rettungswagenfahrer tätig (AS 57), sodass hinsichtlich der Ausführungen in der Beschwerde von einer Vorbringenssteigerung auszugehen ist, welche als unglaubwürdig zu qualifizieren ist. Wie beweiswürdigend dargelegt (vgl. Punkt 2.4.4.) vermochte der BF den aufgezeigten markanten Widerspruch auch in der hg. Verhandlung nicht auszuräumen. Wie der BF in der hg. Beschwerdeverhandlung angab, erhält die Familie staatliche Leistungen, betreibt der Vater ein Lebensmittelgeschäft und verfügt die Familie über Ersparnisse und über ein Haus zu Urlaubszwecken in Pakistan. Erstmals gab der BF in der hg. Verhandlung auch an, sein Vater habe als Security gearbeitet, als der BF noch in Italien gewesen sei. Die Familie war auch während der Haft des BF seit Juli XXXX in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften, ein Geschäft anzumieten und eine Reise der Mutter und Geschwister nach Pakistan zu finanzieren. Dass die Familie des BF ihren Unterhalt in Italien ohne finanzielle Unterstützung des BF nicht hätte finanzieren können, vermochte der BF in der hg. Verhandlung somit nicht glaubhaft zu machen. Gegen eine schlechte finanzielle Situation der Familie spricht weiters die Tatsache, dass die Mutter und die Geschwister des BF per Flugzeug zu Urlaubszwecken nach Pakistan reisen konnten, wo die Familie des BF ein Grundstück sowie ein Haus besitzt. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem erwachsenen BF und seiner Familie war sohin nicht feststellbar.
Auch aus dem im Akt einliegenden Urteil des LG XXXX ist ersichtlich, dass der BF keine Sorgepflichten hat. Es sind auch keine Gründe ersichtlich, aus denen der BF eine allfällige finanzielle Unterstützung gegenüber den genannten Angehörigen nicht auch von Pakistan aus leisten könnte.
Die Frage der Fortsetzung dieses Familienlebens im Herkunftsstaat des Fremden ist zu berücksichtigen (vgl. hiezu VwGH 21.01.2010, Zl. 2007/01/0703, mwN).
Der BF hat angegeben, seine Eltern und Geschwister seien italienische Staatsbürger (VHS, S 10); den genannten Angehörigen des BF in Italien ist es grundsätzlich auch zumutbar, dem BF nach Pakistan zu folgen oder ihn dort zu besuchen bzw. wurde kein gegenteiliges Vorbringen erstattet. Zudem kann der Kontakt zu den Angehörigen durch deren Besuche in Pakistan aufrechterhalten werden, zumal Familienangehörige des BF wiederholt Urlaub in Pakistan machen und die Mutter und die Geschwister des BF sich aktuell auch auf Besuch in Pakistan befinden.
Überdies kann der Kontakt des erwachsenen BF zu seinen in der Europäischen Union wohnhaften Verwandten und Freunden bei einer Rückkehr nach Pakistan telefonisch oder – angesichts des Alters sämtlicher Familienmitglieder - über soziale Medien aufrechterhalten werden und steht Besuchen im Herkunftsstaat nichts entgegen.
Auch auf die Straffälligkeit des BF, d.h. seine rechtskräftige Verurteilung zu einer unbedingten Haftstrafe in der Höhe von drei Jahren und sechs Monaten wegen des Verbrechens der Schlepperei und auf die diesbezüglich besonders verpönte Verhaltensweise des BF ist in diesem Zusammenhang erneut zu verweisen. Die Straffälligkeit des BF wirkt sich jedenfalls zu Lasten der Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet aus.
In diesem Zusammenhang ist gleichzeitig hervorzuheben, dass aufgrund der massiven Straffälligkeit des erwachsenen BF und seines damit einhergehenden gravierenden Fehlverhaltens im Lichte der höchstgerichtlichen Judikatur die Trennung von Familienangehörigen im großen öffentlichen Interesse an der Unterbindung von Straftaten in Kauf zu nehmen ist (VwGH 25.05.2023, Ra 2023/21/0069 bzw. ist die Trennung von Familienangehörigen bei besonders großem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung wegen schwerwiegender Straffälligkeit hinzunehmen (VwGH 14.08.2023, Ra 2023/14/0041).
Der erwachsene BF hat feststellungsgemäß seine Eltern und minderjährigen Geschwister in Italien und führte somit in einem Mitgliedsstaat, für welchen die Rückführungs-RL gilt, vom Jahr XXXX bis zu seiner Inhaftierung im Juli XXXX ein Familienleben und ein Privatleben.
Im Hinblick auf Art. 8 EMRK wird darauf hingewiesen, dass das Privat- oder Familienleben eines Drittstaatsangehörigen im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden darf, sondern auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten "in den Blick" zu nehmen ist. Das folgt unzweifelhaft daraus, dass diese aufenthaltsbeendenden Maßnahmen grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bezogen sein sollen (vgl. VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, VwSlg. 18295 A/2011). Familiären Bindungen in einem anderen Mitgliedstaat ist daher dadurch Rechnung zu tragen, dass die bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes zu beantwortende Frage nach einem - zulässigen - Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden darf, sondern dass auch die Situation in dem anderen "Schengen-Staat" zu berücksichtigen ist (vgl. VwGH 21.1.2021, Ra 2020/21/0349 mwN wie etwa VwGH 20.12.2018,Ra 2018/21/0236; VwGH 3.7.2018, Ro 2018/21/0007).
Was die Rückkehrentscheidung alleine anbelangt, hat jedoch der Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF in Italien hinsichtlich seiner Eltern und Geschwister durch die freiwillige Ausreise und die Strafhaft in Österreich wesentlich an Gewicht verloren. Der Eingriff ist in seiner Schwere insbesondere dadurch relativiert, dass der BF durch die Begehung der genannten Straftat der Schlepperei die fortgesetzte Trennung bewusst riskierte, sodass er gegenüber der Notwendigkeit, die von der Anwesenheit des BF ausgehende Gefahr zu bannen, keine solche Bedeutung erlangt, dass von der - grundsätzlich nicht im Ermessen stehenden - Rückkehrentscheidung abzusehen wäre (vgl. VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237).
Zudem ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass es gemäß Art. 11 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger) dem jeweiligen Mitgliedsstaat zusteht, einen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung für Drittstaatsangehörige auszustellen, gegen die ein Einreiseverbot eines anderen Mitgliedsstaates besteht (vgl. VwGH 13.09.2012, 2011/23/0413).
Die im vorliegenden Beschwerdefall vorzunehmende Interessenabwägung schlägt somit zuungunsten des privaten und familiären Interesses des BF und zugunsten des öffentlichen Interesses an seiner Außerlandesschaffung aus.
Die Erlassung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und auch nicht unverhältnismäßig.
3.4. Zur Zulässigkeit der Abschiebung nach Pakistan (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides)
3.4.1. Mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, dass die Abschiebung gemäß § 46 leg.cit. in einen bestimmten Staat zulässig ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Im gegenständlichen Fall ergeben sich aus dem der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt für eine solche Gefährdung keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für Pakistan nicht.
3.4.2. Dafür, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Pakistan die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. zur „Schwelle“ des Art. 3 EMRK etwa VwGH 25.09.2019, Ra 2018/19/0585), gibt es im vorliegenden Beschwerdefall keinen Anhaltspunkt. Der BF ist volljährig und arbeitsfähig. Er hat in Pakistan bis zu seinem 17. Lebensjahr die Schule besucht (AS 59) und in Italien gearbeitet. Auch nahe Angehörige des BF (Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen) leben in Pakistan; der BF steht zu seinen Angehörigen in Pakistan in Kontakt. Seine Familie besitzt dort ein Haus, seine Mutter und Geschwister sind derzeit in Pakistan auf Urlaub. Im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat verfügt der BF sohin jedenfalls über eine Unterkunft und familiäre Anknüpfungspunkte und sollte er durch die Aufnahme einer entsprechenden Beschäftigung zum Verdienst seines Lebensunterhaltes imstande sein; auch liegt keine vollkommene Entwurzelung des BF vor. Er wurde in Pakistan sozialisiert und hat den überwiegenden Teil seines Lebens dort verbracht, spricht nach wie vor die Sprache seines Heimatlandes und wird es ihm trotz der zwischenzeitlich in Italien verbrachten Zeit möglich sein, in Pakistan erneut Fuß zu fassen.
Damit ist der BF durch die Außerlandesschaffung nach Pakistan nicht in seinem Recht gemäß Art. 3 EMRK verletzt, weil die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall gedeckt werden können. Dass der BF allenfalls in Österreich wirtschaftlich gegenüber seiner Situation in Pakistan bessergestellt ist, genügt für die Annahme, er würde in Pakistan keine Lebensgrundlage vorfinden und somit seine Existenz nicht decken können, nicht. Hierfür fehlen im vorliegenden Fall alle Hinweise auf derart exzeptionelle Umstände.
Außerdem besteht ganz allgemein in Pakistan derzeit keine solche extreme Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Art. 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK ausgesetzt wäre. Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht sind auch keine Umstände bekannt geworden, die nahelegen würden, dass bezogen auf den BF ein reales Risiko einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung bzw. der Todesstrafe besteht.
Des Weiteren ist auf die höchstgerichtliche Judikatur hinzuweisen, wonach die vorrangige Funktion der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG in der Festlegung des Zielstaates der Abschiebung liegt und es nicht Aufgabe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Fremdenwesen und Asyl bzw. des Verwaltungsgerichtes ist, im Verfahren zur Erlassung einer fremdenpolizeilichen Maßnahme letztlich ein Verfahren durchzuführen, das der Sache nach einem Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz gleichkommt (vgl. VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/0044).
Der BF ist ferner gesund und arbeitsfähig.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für Pakistan nicht.
Der auf § 52 Abs. 9 FPG gestützte Ausspruch der belangten Behörde erfolgte daher zu Recht und war die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides abzuweisen.
3.5. Zur Erlassung eines Einreiseverbotes (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides)
3.5.1. Gemäß § 53 Abs. 1 FPG kann mit einer Rückkehrentscheidung vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Gemäß Abs. 3 leg. cit ist ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 leg. cit. für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist (§ 53 Abs. 3 Z 1 FPG) oder von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist (§ 53 Abs. 3 Z 2 FPG) oder ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist (§ 53 Abs. 3 Z 5 FPG).
3.5.2. In den Fällen des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FPG ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers (VwGH vom 30.07.2014, 2013/22/0281).
Unstrittig steht fest, dass der BF die dem genannten Strafurteil zugrundeliegenden Tat zu verantworten hat und zu einer mehr als dreijährigen unbedingten Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt wurde (§ 53 Abs. 3 Z 5 FPG).
So wurde der Beschwerdeführer vom Landesgericht XXXX als Schöffengericht am XXXX im Verfahren zu XXXX wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 2 und Abs. 4 FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3,5 Jahren rechtskräftig verurteilt.
Der BF war im Rahmen einer kriminellen Vereinigung an der Schleppung von 4 Personen beteiligt.
Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX auf der Strecke zwischen XXXX und XXXX als Mitglied einer kriminellen Vereinigung die rechtswidrige Durchreise Fremder, nämlich der indischen Staatsangehörigen XXXX , somit in Bezug auf mindestens drei Fremde, mit dem Vorsatz gefördert, sich und die weiteren Mitglieder der Schlepperorganisation durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, indem er sie mit seinem PKW von Italien durch die Schweiz über den Grenzübergang XXXX nach Österreich brachte und in XXXX nach Deutschland auszureisen versuchte, wofür die Geschleppten der Organisation ein Gesamtentgelt in Höhe von umgerechnet EUR 16.000,-- zu bezahlen hatten.
Dem BF war bewusst, dass es sich bei der Organisation ‚ XXXX ‘ um eine strukturierte Organisation mit mehr als zwei Mitgliedern handelt, die regelmäßig Schleppungen von indischen und pakistanischen Staatsbürgern innerhalb Europas organisiert und durchführt.
Beweiswürdigend wurde im genannten Urteil ua festgehalten, dass sich der BF teilweise schuldig verantwortete, jedoch handle es sich um Schutzbehauptungen, soweit er seine Verantwortung leugnete. Auch habe er immer nur das zugegeben, was ihm jeweils nachgewiesen habe werden können.
Mildernd wurden das Geständnis bezüglich dem Grunddelikt sowie der Qualifikation nach § 114 Abs. 3 Z 2 FPG, die Konfiskation des Fahrzeuges des BF samt Schlüssel und Zulassung sowie der bisher ordentliche Lebenswandel des Beschwerdeführers gewertet; als erschwerend wurde die doppelte Qualifikation zusätzlich § 114 Abs. 3 Z 2 FPG neben § 114 Abs. 4 FPG des Verbrechens der Schlepperei, berücksichtigt.
Bei einer Verurteilung wegen Schlepperei handelt es sich im Sinne der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes per se um ein besonders schweres Verbrechen.
Den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein sehr hoher Stellenwert zu. Die durch Schlepperei bewirkte erhebliche Gefährdung der öffentlichen (inneren) Sicherheit stellt ein von den Strafgerichten zu ahndendes Delikt dar. Bereits durch die Abänderung des Fremdenrechts mit der am 01.07.2000 in Kraft getretenen Novelle BGBl. I 34/2000 ist die Höchststrafe für gewerbsmäßige Schlepperei auf fünf Jahre erhöht worden, woran zu erkennen ist, wie groß das öffentliche Interesse an der Unterbindung des Schlepperunwesens ist.
Die Beurteilung der Schlepperei als mit besonderer Verwerflichkeit behaftet zeigt sich auch darin, dass gem. § 92 Abs. 1 Z 4 FPG die Ausstellung, die Erweiterung des Geltungsbereiches und die Änderung eines Fremdenpasses zu versagen ist, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Fremde das Dokument benützen will, um Schlepperei zu begehen oder an ihr mitzuwirken.
Dem Gesetzgeber des FPG war daran gelegen, durch die Anführung eines eigenen auf die Schlepperei abgestellten Versagungstatbestandes das besonders große Gefährdungspotential dieses Fehlverhaltens für die innere oder äußere Sicherheit Österreichs hervorzuheben (VwGH 17.02.2006, 2006/18/0030).
In Zusammenhang mit der (zweimaligen) Verurteilung wegen Schlepperei wurde seitens des VwGH (VwGH 29.02.2012, 2009/21/0103) die tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (VwGH 20.11.2008, 2008/21/0603), hervorgehoben und auf den hohen Stellenwert hingewiesen, der der Bekämpfung von - auch aus unionsrechtlicher Sicht besonders verpönten - (VwGH 27,03.2007, 2007/18/0135) Schlepperei zukommt.
Bereits im Rechtssatz seiner Entscheidung vom 11.11.1991, 90/19/0447, VwSlg 13526 A/1991 hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass es nicht als rechtswidrig erkannt werden kann, dass die Behörde den öffentlichen Interessen an der Unterbindung des Schlepperunwesens höheres Gewicht beigemessen hat als der Integration und den familiären Bindungen des Fremden, wenn man bedenkt, dass die Schlepperei einerseits der ordnungsgemäßen Handhabung der Fremdenpolizei hinderlich ist und andererseits der Republik Österreich aus der Rücknahmeverpflichtung hinsichtlich der geschleppten Personen und den in der Folge anfallenden Schubhaftkosten hohe finanzielle Aufwendungen entstehen. Außerdem wurde auf die Ausbeutung der an der rechtswidrigen Einreise oder Ausreise interessierten Personen durch Schlepper verwiesen.
Auch in seiner Entscheidung vom 21.09.2000, 99/18/0286 sah der Verwaltungsgerichtshof die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes zur Bekämpfung des Schlepperunwesens als dringend geboten an.
Bei der Schlepperkriminalität besteht Wiederholungsgefahr (VwGH 07.02.2008, 2006/21/0343).
Festzuhalten ist, dass der Bekämpfung der Schlepperei hinsichtlich des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - auch aus unionsrechtlicher Sicht - ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. VwGH 13.2.2020, Fe 2019/01/0001, mwN). Bei einer im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangenen Schlepperei handelt es sich um ein unter fremdenrechtlichen Aspekten besonders verpöntes Verhalten. Daher bedarf es einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles und insbesondere auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks, die im Einzelfall trotz eines langjährigen Aufenthalts (und der damit verbundenen Integration) dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung dringend geboten ist (vgl. VwGH 16.07.2020, Ra 2019/21/0335 mwN).
Letztlich sei auch auf das der Schlepperei innewohnende maßgebliche Gefährdungspotential zulasten der geschleppten Personen, welches in Kauf genommen wird, hervorgehoben und in einem auf die allgemein bekannten Vorkommnisse, im Zuge derer immer wieder, so auch in Österreich geschehen, geschleppte Personen zu Tode kommen, verwiesen.
Im Hinblick darauf, dass ein großes öffentliches Interesse an deren Bekämpfung, das sowohl unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit als auch anderer in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannter öffentlicher Interessen gegeben ist, begegnet daher die Auffassung der belangten Behörde, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 5 FPG gegeben sind, keinen Bedenken.
Auch wenn das Strafgericht mildernd den bisher ordentlichen Lebenswandel des BF gewertet hat, so wird dies insbesondere dadurch relativiert, dass der BF im strafgerichtlichen Verfahren kein umfassendes Geständnis ablegte und auch in der behördlichen Einvernahme sowie in der hg. Verhandlung keine ernsthafte bzw. umfassende Schuldeinsicht zeigte. Als erschwerend wurde weiters die doppelte Deliktsqualifikation berücksichtigt.
Der BF war im Rahmen einer kriminellen Vereinigung an der Schleppung von 4 Personen beteiligt, was zum einen im Lichte der obzitierten Judikatur für eine Wiederholungsgefahr spricht und zum anderen ein besonders verpöntes Verhalten darstellt.
In der Beschwerde wird kein anderslautendes Vorbringen dahingehend, dass der BF Schuldeinsicht zeigt oder seine Tat bereut, erbracht.
Ferner erweckte der BF in der behördlichen Einvernahme den Eindruck, in der er lediglich angab, ‚Scheiße gebaut‘ zu haben (AS 47), dass er nicht ernsthaft bereit ist, volle Verantwortung für seine Straftat zu übernehmen und er nicht schuldeinsichtig ist. Wie beweiswürdigend (Punkt 2.3.2.) dargelegt, versuchte der BF auch in der hg. Beschwerdeverhandlung, sein Fehlverhalten zu relativieren, doch war eine „gutherzige“ Motivation des BF, Anlass sei nur die Verpflichtung seiner Familie gegenüber gewesen, nicht glaubhaft, sondern als Schutzbehauptung zu werten und ist vielmehr davon auszugehen, dass der BF ohne erkennbare Notlage delinquent wurde und sich im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit weiteren Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung und in der Absicht, sich durch die Durchführung dieser Fahrt ein Zusatzeinkommen verschaffen und unrechtmäßig bereichern wollte. Auch ist den im Strafurteil angeführten Milderungsgründen – es wurde dazu einzig der bisher ordentliche Lebenswandel des BF, das Geständnis bzgl. des Grunddeliktes und der Qualifikation nach § 114 abs. 3 Z 2 FPG sowie die Konfiskation seines PKWs vermerkt - nicht zu entnehmen, dass der BF ein volles Geständnis ablegte oder sich sonst hinsichtlich des Tatvorwurfs reuig zeigte.
Wie bereits beweiswürdigend ausgeführt (s. Punkt 2.3.) war dem bei Tatbegehung bereits erwachsenen BF jedenfalls bewusst, dass er Schleppungen im Rahmen einer kriminellen Organisation durchführte, um sich unrechtmäßig zu bereichern. Neben den im Urteil des LG XXXX beschriebenen Tatmodalitäten ist dem BF zudem anzulasten, dass er die Schleppung insofern auch vorschriftswidrig mit einem Fahrzeug, welches aufgrund der Zahl der beförderten Personen (6) überladen war, durchführte, zumal es als notorisch bekannt angesehen werden kann, dass in einem derart überladenen PKW - sodass eine beförderte Person sich im Fußraum des Autos aufzuhalten hatte - eine bestimmungsgemäße Einnahme eines Platzes sowie die sichere Beförderung nicht gewährleistet sind.
Auch zeigt die Art der begangenen Straftat, dass es sich hier nicht um eine spontan oder aus Unbesonnenheit begangene Straftat handelte. Vielmehr bedurfte diese sichtlich einer gewissen Vorbereitungszeit, umfassender organisatorischer Maßnahmen und Vernetzung mit anderen Kriminellen, die ihm letztlich den Schlepperauftrag zukommen ließen und ihm die Bezahlung in Aussicht stellten, und zeigte sich dies auch in der gerichtlichen Auswertung seiner Handydaten (Urteil, S 5), woraus auf eine zweite durchgeführte Schlepperfahrt geschlossen werden kann.
Bei der hinsichtlich des Beschwerdeführers zu erstellenden Gefährdungsprognose stehen mithin dessen strafgerichtliche Verurteilung und das vom Beschwerdeführer gesetzte Verhalten im Mittelpunkt. Einbezogen werden in die zu erstellende Prognose auch die mehrfach verhängten Ordnungsstrafen wider den BF im Zuge seiner Haft sowie seine Verantwortung hinsichtlich seines strafbaren Verhaltens.
Wie unter Punkt 2.3., insbesondere 2.3.2. und 2.3.3., dargelegt, lassen die Angaben des BF sowohl in Hinblick auf seine strafrechtliche Verurteilung als auch im Zusammenhang mit den über ihn verhängten Abmahnungen und Ordnungsstrafen nur wenig Einsicht und Reue erkennen.
Dass der BF trotz Verhaftung im Zuge seiner Haft bis kurz vor Haftentlassung (zuletzt erfolgte eine Abmahnung am XXXX wegen eines Verstoßes gegen die Hausordnung) Anlass für insgesamt 10 Ordungsstrafverfügungen bzw. Abmahnungen (ua wg. Streit mit einem Mithäftling, unerlaubter Gewahrsame zahlreicher Medikamente, unerlaubter Gewahrsam USB-Stick, Harn positiv) – aktuell langte eine Meldung des Anhaltezentrums XXXX vom XXXX wegen gegenseitiger Körperverletzung unter Beteiligung des BF ein - gab, zeichnet kein positives Bild seiner Person, hat er doch durch sein den betreffenden Strafen/Abmahnungen zugrundeliegendes Verhalten gezeigt, dass er trotz seiner rechtskräftigen Verurteilung und Verbüßung seiner Haftstrafe nicht gewillt ist, sich an die Vorgaben und rechtlichen Rahmenbedingungen in der Haftanstalt bzw. im Anhaltezentrum zu halten. Dass es ihm nach wie vor an Einsicht und Reue fehlt, zeigt auch seine diesbezügliche Verantwortung in der hg. Verhandlung, wonach man sich mangels Hilfe durch die Justizbeamte verteidigen hätte müssen. Dies erklärt aber zB. nicht den – wie sich aus den Ordnungsstrafverfügungen und Abmahnungen ergibt - unerlaubten Gewahrsam eines USB-Sticks oder einer positiven Harnprobe.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat; für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat (siehe VwGH 15.02.2021, Ra 2021/17/0006, mwN). Der BF wurde erst vor wenigen Wochen aus dem Strafvollzug entlassen und wurde unmittelbar im Anschluss daran die Schubhaft über ihn verhängt.
Die Frage, ob eine positive Zukunftsprognose erstellt werden kann, lässt sich angesichts der vom BF begangenen Straftat erst nach einer entsprechend langen Zeit des Wohlverhaltens nach der Entlassung aus der Strafhaft beurteilen (vgl. etwa VwGH 19.03.2013, 2011/21/0152; 24.06.2010, 2007/21/0200). Eine Phase des Wohlverhaltens liegt bisher nicht vor, zumal die Zeit seit der rechtskräftigen Verurteilung hierzu viel zu kurz ist (vgl. VwGH 17.11.1994, 93/18/0271 mwN) und ist ein Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (vgl. VwGH 22.05.2014, Ra 2014/21/0014).
In Anbetracht dessen, dass der BF während der Durchreise angehalten wurde und sich - nach bedingter Entlassung aus der Strafhaft - aktuell in Schubhaft befindet, konnte kein bisheriges Wohlverhalten festgestellt werden und somit keine positive Zukunftsprognose getroffen werden (vgl. VwGH 21.12.2022, Ra 2020/21/0245; VwGH 17.11.1994, 93/18/0271 mwN). Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass sichtlich der Umstand, dass der BF bei der Begehung der Straftat betreten wurde, dazu führte, dass er sein Verhalten einstellte und von keinem freiwilligen Beenden der Straftat ausgegangen werden kann, weshalb weitere strafbare Handlungen der geschilderten Art in Hinkunft nicht ausgeschlossen werden können. Zudem ist beim BF echte Reue nicht erkennbar.
Die Tat ist objektiv und subjektiv als besonders schwer einzustufen und scheidet eine positive Zukunftsprognose des BF aufgrund der Tatmodalitäten, des Persönlichkeitsbildes des BF und insbesondere aufgrund des Umstandes, dass der BF aktuell noch in (Schub-)Haft ist – demnach noch kein Wohlverhalten vorliegen kann – aus.
Der BF hat im Verfahren kein Vorbringen zu einer allfälligen Änderung seiner persönlichen Situation, welche eine Minderung der von seiner Person ausgehenden Gefährdung allenfalls indizieren könnte, erstattet.
Darüber hinaus stellt das im Strafurteil dargestellte Verhalten des Fremden, wie bereits erörtert, ein besonders verpöntes Fehlverhalten dar.
Soweit das Familienleben in Italien zu berücksichtigen ist, ist nochmals zu betonen, dass der BF erwachsen ist und selbst eine Trennung von seiner Herkunftsfamilie herbeigeführt und eine mögliche Verhaftung in Kauf genommen hat, indem er nach Österreich bzw. Deutschland gereist ist und das Verbrechen der Schlepperei begangen hat; haftbedingt lebt der BF von seiner Familie seit Juli XXXX getrennt.
Ob die italienischen Behörden wegen der Strafhandlung des BF einen bestehenden Aufenthaltstitel einziehen, auslaufen lassen oder neuerlich erteilen, werden sie unter Wahrung des Art. 8 EMRK entscheiden können, auch wenn von österreichischer Seite ein Einreiseverbot verhängt wurde. Je nach Inhalt der Entscheidung ist dem BF dann eine Fortsetzung des Familien- und Privatlebens in Italien, im Herkunftsstaat oder auch in Drittländern möglich.
Im Übrigen können schwerwiegende kriminelle Handlungen – etwa in Verbindung mit dem Verbrechen der Schlepperei -, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0359, mwN).
Eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, ist im Ergebnis nur dann für gerechtfertigt, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden der Fall ist (vgl. VwGH 02.02.2021, Ra 2021/14/0013). Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen - etwa nach dem SMG oder wie im vorliegenden Fall bei Schlepperei -, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. VwGH 02.02.2021, Ra 2021/14/0013 mHa VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0174; VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0034).
Es kann daher der belangten Behörde nicht vorgeworfen werden, wenn sie im vorliegenden Fall von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausging und auf den Umstand verwies, dass der BF im Rahmen bzw. als Mitglied einer kriminellen Vereinigung an der Schleppung von 4 Personen beteiligt war. Selbst in Fällen, in denen den Betroffenen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, ist - der Judikatur zufolge - eine Trennung von Familienangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt, umso mehr gilt dies im vorliegenden Fall, zumal der BF wegen einer schwerwiegenden kriminellen Handlung verurteilt wurde, von einem Wegfall der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit des BF nicht auszugehen ist und dem BF und seinen Angehörigen eine Fortsetzung des Familien- und Privatlebens in Italien, im Herkunftsstaat oder auch in Drittländern möglich sein wird.
Im Rahmen der hinsichtlich der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung wurde zudem bereits unter Hinweis auf die einschlägige höchstgerichtliche Judikatur festgehalten, dass das Interesse des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in seinem konkreten Fall gegenüber dem der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zurückzutreten hat.
Es ist nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer erneut gleichartige Straftaten begehen wird, zumal er ohne erkennbare Notlage – der BF übte lt. seinen Angaben in der hg. Verhandlung unmittelbar vor dem Tatzeitpunkt zwei Beschäftigungen aus (VHS 7) - die Notlage anderer ausnützte, um sich selbst zu bereichern, ohne die volle Verantwortung für seine Straftat zu übernehmen und war echte Einsicht und Reue bei ihm nicht glaubhaft.
Dem Beschwerdeführer kann daher bei Gesamtbetrachtung der fallbezogenen Umstände aus den genannten Gründen keine positive Zukunftsprognose zu seinen Gunsten erstellt werden.
Das Bundesamt ist sohin zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes gerechtfertigt und notwendig ist, um die vom BF ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.
Im Hinblick auf die Art seines Verhaltens und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers sowie der daraus resultierenden negativen Prognose ist eine Einreiseverbotsdauer in der Höhe von acht Jahren, bei einer grundsätzlich möglichen unbefristeten Dauer, jedenfalls angemessen.
Eine Herabsetzung der Dauer des Einreiseverbotes kam daher nicht in Betracht, sondern war im Lichte der bisherigen Ausführungen und gerade auch zum Schutz der angeführten öffentlichen Interessen in Österreich, aber auch in anderen europäischen Staaten, geboten.
Daher war die Beschwerde auch hinsichtlich des Einreiseverbotes abzuweisen.
3.6. Zu Spruchpunkt V. und VI. (aufschiebende Wirkung und Frist)
3.6.1. Gem. § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG ist die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung vom Bundesamt abzuerkennen, wenn die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist.
Das BFA schloss im angefochtenen Bescheid die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG aus. Begründend wurde ausgeführt, dass die vom BF begangene Straftat eine Schwere aufweise, die von der Gesellschaft weder toleriert noch nachgesehen werden könne. Es sei im gegenständlichen Fall davon auszugehen, dass der Verbleib des BF in Österreich eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle und die sofortige Umsetzung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme geboten sei.
3.6.2. Im gegenständlichen Fall hat das erkennende Gericht zunächst mit hg. Beschluss vom XXXX , L506 XXXX , der Beschwerde gem. § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Begründend führte das erkennende Gericht aus, dass innerhalb der sehr kurzen Frist nicht über die Beschwerde abgesprochen werden kann, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr eine Verletzung der in § 18 Abs. 5 BFA-VG angeführten Rechte drohen könnte. Hervorgehoben wurde in einem, dass die Entscheidung über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung jedoch nicht als eine solche in der Sache selbst zu werten ist, sondern handelt es sich dabei vielmehr um eine der Sachentscheidung vorgelagerte (einstweilige) Verfügung, die nicht geeignet ist, den Verfahrensausgang vorwegzunehmen.
Damit sprach das erkennende Gericht nicht über die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung ab und wurde keine inhaltliche Absprache über Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides getroffen. Es sind weder dem Gesetz noch der Rechtsprechung Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG dazu führt, dass implizit festgestellt wird, dass der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung rechtswidrig erfolgt wäre. Vielmehr ist die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung als vorübergehende Maßnahme bis zum Abschluss des Verfahrens zu verstehen.
Das erkennende Gericht kam nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, dem darin gewonnenen persönlichen Eindruck, der Erörterung seiner persönlichen Verhältnisse und Erstellung einer Gefährdungsprognose zum Schluss, dass die vom BF begangene Straftat objektiv und subjektiv als besonders schwer einzustufen ist und aufgrund der Tatmodalitäten und des im gegenständlichen Erkenntnis erörterten Persönlichkeitsbildes des BF sowie mangels Wohlverhalten keine positive Zukunftsprognose möglich und festzustellen war, dass die sofortige Ausreise des BF im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist und keine reale Gefahr einer Verletzung der in § 18 Abs. 5 BFA-VG genannten Rechte gegeben ist, weshalb seitens des BFA zu Recht gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wurde.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision
Hinsichtlich der Einordnung des Sachverhaltes konnte sich das Bundesverwaltungsgericht auf die Rechtsprechung der Höchstgerichte und des EGMR bzw. auf eine klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den rechtlichen Erwägungen wiedergegeben.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.