JudikaturJustiz13Os109/07i

13Os109/07i – OGH Entscheidung

Entscheidung
07. November 2007

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. November 2007 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Maschler als Schriftführerin in der Strafsache gegen Selcuk T***** und einen anderen Angeklagten wegen der Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Selcuk T***** und die Berufungen beider Angeklagter gegen das Urteil des Geschworenengerichtes in Jugendstrafsachen beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 9. Mai 2007, GZ 444 Hv 2/07m-137, sowie über die Beschwerde des Angeklagten Selcuk T***** (§ 498 Abs 3 StPO) gegen den gemeinsam mit dem Urteil gefassten Beschluss auf Verlängerung einer Probezeit nach § 494a Abs 6 StPO iVm § 53 Abs 3 StGB und über die Beschwerde des Angeklagten Ismail Ö***** gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 13. August 2007, GZ 444 Hv 2/07m-152, womit seine Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen worden war, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde des Angeklagten Ismail Ö***** wird nicht Folge gegeben.

Über die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Selcuk T*****, die Berufungen beider Angeklagter und die Beschwerde des Angeklagten Selcuk T***** (§ 498 Abs 3 StPO) wird bei einem Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung entschieden werden, für den sich der Oberste Gerichtshof die Ausübung der ihm nach § 290 Abs 1 zweiter Satz, 344 zweiter Satz StPO zustehenden Befugnis vorbehält.

Text

Gründe:

Mit dem auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden angefochtenen Urteil wurden Selcuk T***** und Ismail Ö***** der Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB (A/I), der Verbrechen des versuchten schweren Raubes nach §§ 15, 142, 143 zweiter Fall StGB (A/II) und des Verbrechens des versuchten Raubes nach §§ 15, 142 Abs 1 StGB (B) schuldig erkannt.

Danach haben sie im Zeitraum 20. Juni 2006 bis 4. Oktober 2006 in Wien und Niederösterreich im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) Gewahrsamsträgern im Urteilstenor näher bezeichneter Unternehmen durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) fremde bewegliche Sachen, nämlich Bargeldbeträge, mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem

Vorsatz

A. unter Verwendung einer Waffe

I. in insgesamt neun Angriffen weggenommen, und zwar in acht Fällen Gewahrsamsträgern der im Spruch bezeichneten Tankstellen insgesamt 9.140 Euro und in einem weiteren Fall Gewahrsamsträgern der B***** AG 400 Euro, indem sie die Opfer mit einer Pistole bedrohten, die Übergabe von Geld forderten und in sechs Fällen auch einen Pfefferspray zum Einsatz brachten;

II. in zwei Angriffen wegzunehmen versucht, und zwar Gewahrsamsträgern der B***** AG und einer B*****-Tankstelle, indem sie die Opfer mit einer Pistole bedrohten und die Übergabe von Bargeld forderten und

B. wegzunehmen versucht, indem sie den Gewahrsamsträger einer B*****-Tankstelle maskiert mit dem Zuruf „Überfall" bedrohten. Gegen dieses Urteil meldeten beide Angeklagten durch ihren jeweiligen Wahlverteidiger (rechtzeitig) am 11. Mai 2007 Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (ON 139 und 141).

Nach Urteilszustellung an den Wahlverteidiger des Angeklagten Ismail Ö***** am 26. Juni 2007 (RS im unjournalisierten AV-Bogen) gab dieser mit Schriftsatz vom 6. Juli 2007, eingelangt bei Gericht am 11. Juli 2007, bekannt, dass der Angeklagte „das Vollmachtsverhältnis zu Herrn Rechtsanwalt Dr. Thomas K***** ... aufgelöst habe ..." (ON 147). Mit „Verfügung" vom 13. Juli 2007 ordnete das Erstgericht (ohne darauf abzielende Antragstellung des Angeklagten) die Beigebung eines Verteidigers nach § 41 Abs 2 StPO für Ismail Ö***** sowie die Zustellung einer Urteilsausfertigung an den zu bestellenden Verteidiger unter Hinweis darauf an, dass das Urteil dem bisherigen Wahlverteidiger bereits zugestellt worden sei und der Angeklagte Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angemeldet habe (im fortgesetzten unjournalisierten AV-Bogen).

Eine Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde langte bis zum 24. Juli 2007, dem Ablaufdatum der durch die Zustellung an den bisherigen Wahlverteidiger ausgelösten vierwöchigen Frist der §§ 285 Abs 1 erster Satz, 344 zweiter Satz StPO, nicht ein, weshalb das Rechtsmittel mit dem angefochtenen Beschluss der Vorsitzenden vom 13. August 2007 gemäß §§ 285a Z 2, 344 zweiter Satz StPO zurückgewiesen wurde.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen vom Angeklagten Ismail Ö***** erhobenen Beschwerde, in der unter Berufung auf § 43a StPO ein neuer Beginn der Rechtsmittelfrist mit dem Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides über die Verteidigerbestellung (am 27. Juli 2007) behauptet wird, kommt keine Berechtigung zu:

Vorauszuschicken ist zunächst, dass die in der Strafprozessordnung bestimmten Fristen nicht verlängert werden können, wenn das Gegenteil nicht ausdrücklich verfügt ist (§ 6 Abs 1 erster Satz StPO). Nach § 43a StPO, dem solcherart Ausnahmecharakter zukommt, wird die Frist zur Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde nur durch einen innerhalb dieser Frist gestellten Antrag des Angeklagten auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers (erster Satz) oder dann unterbrochen, wenn dem Angeklagten ohne seinen Antrag ein Verfahrenshilfeverteidiger (§ 41 Abs 4 StPO) beigegeben wird (zweiter Satz). Weitere Ausnahmen sieht das Gesetz - abgesehen vom Fall der Verteidigerumbestellung nach § 45 Abs 4 RAO - nicht vor (EvBl 1999/121).

Die Anwendung des § 43a StPO auf bereits durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte lehnt der Oberste Gerichtshof in teleologischer Reduktion dieser Bestimmung nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung ab (RIS-Justiz RS0116182).

Zu beachten ist weiters, dass im Zeitpunkt eines aufrechten Vollmachtsverhältnisses nach § 79 Abs 4 StPO bewirkte Zustellungen an den Verteidiger auch dann rechtswirksam bleiben, wenn er dem Gericht nachträglich die Beendigung des Vollmachtsverhältnisses mitteilt. Denn § 11 Abs 2 RAO verpflichtet einen Rechtsanwalt dazu, seine Partei noch durch 14 Tage, von der Kündigung der Vertretung an gerechnet, insoweit zu vertreten als nötig ist, um sie vor Rechtsnachteilen zu schützen. Zwischenfälle in den Beziehungen zwischen dem Angeklagten und seinem gewählten Verteidiger während der Ausführungsfrist beeinflussen deren Lauf nicht, allfällige Säumnisse des Verteidigers muss der Angeklagte gegen sich gelten lassen. Die Verpflichtung nach § 11 Abs 2 RAO entfällt nur, wenn die Partei dem Rechtsanwalt das Mandat widerruft (vgl die Grundsatzentscheidung 11 Os 147/98 und die dort angeführten Literaturhinweise, RIS-Justiz RS0111615).

Der Beschwerdeauffassung zuwider differenziert das Gesetz nicht zwischen einer Kündigung durch den Rechtsanwalt und jener durch den Mandanten, sondern bloß zwischen Kündigung (durch Rechtsanwalt oder Partei; § 11 Abs 2 RAO) und Widerruf des Mandats durch die Partei (Abs 3 leg cit).

Das Abgrenzungskriterium zwischen der Kündigung und dem Widerruf einer Vollmacht durch den Machtgeber gemäß § 11 Abs 2 oder Abs 3 RAO ist mit Rücksicht auf den Sinn des Gesetzes darin zu erblicken, dass der in § 11 Abs 3 RAO ausnahmsweise Wegfall der nach Abs 2 dieser Gesetzesstelle vorgesehenen Verpflichtung des Rechtsanwaltes zur Fortsetzung seiner Vertretungstätigkeit über die Dauer des aufrechten Bestandes der Vollmacht hinaus auf Fälle beschränkt ist, in denen der Mandant den ihm durch § 11 Abs 2 RAO angebotenen Schutz zurückweist, indem er seinem vormaligen Vertreter eine derartige Tätigkeit untersagt oder auf sie doch immerhin unmissverständlich verzichtet (vgl AnwBl 1953/166; 15 Os 23/88 [15 Os 24/88, 15 Os 34/88]). Derartiges ist der Mitteilung über die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses nicht zu entnehmen (ON 147) und wurde auch in der Beschwerde nicht behauptet.

Die durch Zustellung einer Urteilsausfertigung an den Wahlverteidiger am 26. Juni 2007 ausgelöste Rechtsmittelfrist wurde demzufolge durch die am 13. Juli 2007 von Amts wegen erfolgte Beigabe eines Verteidigers nach § 41 Abs 2 StPO nicht gemäß § 43a StPO unterbrochen. Auch war der Angeklagte während des gesamten Fristenlaufs durch einen Wahlverteidiger vertreten. Dieser wäre gemäß § 11 Abs 2 RAO verpflichtet gewesen, den - hier sogar noch innerhalb der 14-Tages-Frist liegenden - Ablauf der Rechtsmittelfrist zu beachten und die angemeldeten Rechtsmittel auszuführen (vgl dazu auch § 63 Abs 2 StPRefG, mit welcher Bestimmung diese Rechtsprechung ausdrücklich normiert wird).

Nachteilen, die dem Angeklagten durch einen „offenkundigen Mangel" der Verteidigung (also durch falsches oder fehlerhaftes Verhalten des Verteidigers, das eine konkrete und wirksame Verteidigung, wie sie mit Blick auf Art 6 Abs 3 lit c MRK erforderlich wäre, nicht mehr gewährleistet) entstehen, kann im Übrigen von der Generalprokuratur im Rahmen einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach § 33 Abs 2 StPO begegnet werden (vgl das Erkenntnis des EGMR vom 10. Oktober 2002, Czekalla gegen Portugal, Nr 38830/97; NL 2002, 209). Bezogen auf den Inhalt der (zugleich mit der Beschwerde) am 22. August 2007 eingebrachten - mit der rechtzeitig erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Selcuk T***** wortidenten - Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Ismail Ö***** bestand hiefür kein Anlass.

Über die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Selcuk T*****, die Berufungen beider Angeklagter und über die Beschwerde des Angeklagten Selcuk T***** (§ 498 Abs 3 StPO) wird bei einem mit gesonderter Verfügung anberaumten Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung entschieden werden, für den sich der Oberste Gerichtshof eine - beide Angeklagten betreffende - Maßnahme nach §§ 290 Abs 1 zweiter Satz, 344 zweiter Satz StPO vorbehält.

Rechtssätze
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