JudikaturVwGH

Ra 2024/19/0239 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
12. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. April 2024, W232 22560231/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S M), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird infolge Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1Der Mitbeteiligte, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte am 30. Oktober 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er gab an, in Syrien aufgrund des Wehrdienstes gesucht zu werden. Er lehne es ab, für die reguläre syrische Armee am Krieg teilzunehmen. Bei einer Rückkehr befürchte er, sowohl von der syrischen Regierung als auch von kurdischer Seite rekrutiert zu werden.

2 Mit Bescheid vom 10. Mai 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigen ab, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigen zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Der gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu, stellte fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. B VG für nicht zulässig.

4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte soweit für das Revisionsverfahren relevant fest, der Herkunftsort des Mitbeteiligten stehe unter der Kontrolle der syrischen Streitkräfte. Das syrische Regime sei auch im umliegenden Gebiet präsent, es gebe dort Check Points.

5 Für männliche syrische Staatsbürger im Alter von 18 bis 42 Jahren sei die Ableistung eines Wehrdienstes gesetzlich verpflichtend. Der Mitbeteiligte habe seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet und sei nicht von diesem befreit. Der Mitbeteiligte befinde sich im Wehrdienstalter, sodass er im Falle einer Rückkehr nach Syrien wehrpflichtig sei und davon auszugehen sei, dass er als junger, gesunder, männlicher Syrer an einem Kontrollpunkt in seiner Heimatregion verhaftet und zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen werde, was er ablehne. Im Zusammenhang mit der Einziehung, der Ableistung und der Verweigerung des Militärdienstes sei der Mitbeteiligte der Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

6 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht soweit hier relevant mit Bezug auf die Länderberichte aus, aufgrund der hohen Präsenz syrischer Regierungstruppen im Herkunftsgebiet des Mitbeteiligten sowie der dort bestehenden Möglichkeit des syrischen Regimes, wehrpflichtige Männer an Check Points zu kontrollieren und zum Wehrdienst zu eskortieren, sei in einer Gesamtschau im Hinblick auf die Herkunftsregion des Mitbeteiligten zu prognostizieren, dass der Mitbeteiligte im Fall der Rückkehr in seine Herkunftsregion zum verpflichtenden staatlichen Wehrdienst der syrischen Streitkräfte eingezogen werden würde. Dass der Mitbeteiligte den Wehrdienst für die syrische Regierung verweigere, habe er in sämtlichen Verfahrensstadien nachvollziehbar vorgebracht.

7 Des Weiteren ergebe sich aus den Länderfeststellungen, dass dem Mitbeteiligten im Falle der Weigerung, den Wehrdienst in der syrischen Armee abzuleisten, zumindest mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine mit Folter verbundene Gefängnisstrafe droht. Den Quellen zufolge betrachte die syrische Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation.

8 Rechtlich folgerte das Bundesverwaltungsgericht, für den Mitbeteiligten bestehe im Falle einer Rückkehr nach Syrien bereits aufgrund seiner Ausreise und der damit verbundenen Verweigerung des Wehrdienstes, in dessen Rahmen er zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen (wie Angriffe auf die Zivilbevölkerung) gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht werden würde, eine asylrelevante Verfolgungsgefahr, da maßgeblich wahrscheinlich sei, dass er als politischer Gegner des syrischen Regimes angesehen werde. Die Tatsache, dass die syrische Regierung Wehrdienstverweigerung als Ausdruck von politischem Dissens betrachte (auch in Kombination mit den Betroffenen drohenden, völlig unverhältnismäßigen Sanktionen), könne nicht anders als dahingehend beurteilt werden, dass sie dem Betroffenen wegen seiner Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Gesinnung (zumindest) unterstelle. Insgesamt sei somit glaubhaft, dass dem Mitbeteiligten aufgrund seiner (zumindest unterstellten) politischen Gesinnung Verfolgung iSd Art. A Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention drohe.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof über die Amtsrevision eingeleiteten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurück und eventu die Abweisung der Amtsrevision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung zu überprüfen hat. Somit sind Änderungen der Sach und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren entzogen.

11 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe gegen seine Begründungspflicht verstoßen, weil es nicht nachvollziehbar dargelegt habe, woraus sich im Einzelfall die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Rekrutierung des Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr in sein Herkunftsgebiet ergebe. Aus dem überwiegenden Teil der herangezogenen Länderberichte ergebe sich keine Zugriffsmöglichkeit der syrischen Streitkräfte auf Wehrpflichtige im kurdisch kontrollierten Gebiet. Darüber hinaus habe das Bundesverwaltungsgericht die asylrelevante Verfolgungsgefahr des Mitbeteiligten einzelfallbezogen zu prüfen und sei dadurch von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Erfordernis der Prüfung des Konnexes der Wehrdienstverweigerung zu einem Konventionsgrund abgewichen.

12 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

13Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2024, Ra 2023/20/0619, mit einer gleich gelagerten Begründung des Bundesverwaltungsgerichts für die Gewährung von Asyl an einen syrischen Staatsangehörigen ausführlich (und mit zahlreichen Hinweisen auf bisherige Judikatur) auseinandergesetzt. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird daher auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen (vgl. des Weiteren danach unter Verweis auf dieses Erkenntnis und in der Sache dem folgend etwa VwGH 24.4.2024, Ra 2024/20/0141; 12.3.2024, Ra 2024/20/0130; 28.2.2024, Ra 2023/20/0319; vgl. auch VwGH 25.7.2024, Ra 2024/01/0152).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits dargelegt, dass es in jedem Fall vor der Asylgewährung wegen behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich ist, die drohenden Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat zu ermitteln und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) herzustellen. Das hat was im Übrigen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) entsprichtauch im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Platz zu greifen; allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden vielmehr in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde und das nachprüfende Verwaltungsgericht aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (vgl. erneut VwGH 28.2.2024, Ra 2023/20/0619, mwN; weiters VwGH 31.1.2023, Ra 2022/20/0347, in diesem ebenfalls einen syrischen Staatsangehörigen betreffenden Fall hat der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf Vorjudikatur festgehalten, dass auch nach den Ausführungen in EuGH 19.11.2020, C 238/19, [weiterhin] eine auf den Einzelfall bezogene Beurteilung unverzichtbar ist; vgl. zur Notwendigkeit, den Bedarf an asylrechtlichem Schutz im Besonderen auch in Bezug auf das Vorliegen eines kausalen Zusammenhangs mit einem in der GFK genannten Grundin jenem Fall, in dem ein syrischer Staatsangehöriger es ablehnt, in Syrien Militärdienst zu leisten, einer individuellen Prüfung zu unterziehen, aus jüngerer Zeit etwa VwGH 18.1.2024, Ra 2023/19/0496; 28.3.2024; Ra 2023/19/0241; 20.12.2023, Ra 2023/20/0415; jeweils mwN).

15Es bedarf sohin unter Bedachtnahme auf die Verhältnisse in diesem Land immer einer Beurteilung unter Einbeziehung aller konkreten Umstände des Einzelfalls, ob im Fall der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes eine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten droht. Da nach der Rechtsprechung die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung nicht genügt, ist es für die Gewährung von Asyl nicht ausreichend, derselben eine bloß theoretisch denkbare Möglichkeit eines Verfolgungsszenarios zugrunde zu legen (vgl. erneut VwGH 13.6.2023, Ra 2023/20/0195, mwN).

16 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten anhand der Länderberichte zu Syrien ausschließlich auf das Alter des Mitbeteiligten und den Umstand, dass der Mitbeteiligte den von ihm abgelehnten Wehrdienst noch nicht abgeleistet hat, gestützt. Die Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichts, dass dem Mitbeteiligten infolge seiner Wehrdienstverweigerung vom syrischen Regime jedenfalls eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde, erweist sich vor diesem Hintergrund als nicht nachvollziehbar begründet. Eine konkrete Prüfung der individuellen Umstände des Einzelfalls dahingehend, ob die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung des Mitbeteiligten ist, hat das Bundesverwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage nicht vorgenommen und dazu auch keine Feststellungen getroffen.

17 Es ist für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten für sich genommen auch nicht ausreichend, wenn der asylwerbende Fremde wie hier der Mitbeteiligte, der in der Verhandlung angegeben hat, dass er niemanden töten und er nicht getötet werden wolleGründe, warum er den Militärdienst nicht ableisten möchte, ins Treffen führt, die Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung sein können (vgl. erneut VwGH 28.2.2024, Ra 2023/20/0619; 12.3.2024, Ra 2024/20/0130).

18 Für das fortgesetzte Verfahren ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach (sofern sich aus dem Gesetz nichts Anderes ergibt) das Verwaltungsgericht seine Entscheidung an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sachund Rechtslage auszurichten hat (vgl. etwa VwGH 25.10.2023, Ra 2023/20/0125; 2.7.2020, Ra 2020/19/0192, mwN).

19Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 12. Dezember 2024