Spruch
W607 2292795-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Günther BACHKÖNIG über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geb. XXXX 1997, StA. Syrien, vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.03.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.10.2024 sowie 07.04.2025, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein syrischer Staatsbürger, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 17.11.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Anlässlich der am nächsten Tag durchgeführten Erstbefragung (im Folgenden: EB) durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er sei am XXXX 1997 im Gouvernment Al Hasaka, Syrien geboren und habe Syrien 2020 in die Türkei verlassen. Bis Ende August 2022 habe er in der Türkei gelebt, von dort sei er nach Europa ausgereist. Der BF habe insgesamt sechs Jahre lang die Schule besucht und zuletzt als Hilfsarbeiter gearbeitet. Er sei Muslim und gehöre der Volksgruppe der Araber an. Der BF sei verheiratet und habe eine Tochter. Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der BF aus, er wolle den Militärdienst nicht leisten und nicht töten. Er fürchte sich vor dem Militärgericht.
3. Am 13.12.2023 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers seiner Muttersprache Arabisch unter anderem zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Syrien, seinen Familienangehörigen und seinem Leben in Österreich befragt. Er sei am XXXX 1997 in Harest A XXXX Syrien geboren. Er gehöre zur Volksgruppe der Araber und sei sunnitischer Muslim. In Syrien habe er als Schafhirte und Bauarbeiter gearbeitet. Der BF sei verheiratet und habe eine Tochter. Diese leben mit seinen Eltern in D XXXX . Vier Brüder und eine Schwester leben in der Türkei. Er habe Syrien im September 2020 verlassen und sei 2022 von der Türkei nach Europa ausgereist.
Der BF gab an, er werde für den Militärdienst gesucht. Zudem habe er an Demonstrationen gegen die syrische Regierung teilgenommen und sei dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Auch werde der BF von der Familie seiner Frau bedroht, da er diese ohne Einverständnis ihrer Familie geheiratet habe. Diese seien gegen die Ehe, da seine Frau Kurdin sei, er jedoch Araber.
4. Mit Bescheid des BFA vom 18.03.2024 wurde der Antrag des BF in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkte II. und III.).
5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids erhob der BF, vertreten durch die BBU, mit Schriftsatz vom 25.04.2024 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgrund fehlerhafter bzw unzureichender Ermittlung und mangelhafter Beweiswürdigung fristgerecht Beschwerde. Der BF sei jung und im wehrfähigen Alter. Außerdem sei er aufgrund der Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Daher drohe ihm Verfolgung durch die syrische Regierung aufgrund seiner oppositionellen Haltung und seiner illegalen Ausreise. Der BF könne nicht in Syrien einreisen ohne in Kontakt mit den syrischen Behörden zu geraten. Auch werde der BF von der Familie seiner Frau verfolgt, da er diese ohne das Einverständnis ihrer Familie geheiratet habe.
6. Am 16.10.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Im Rahmen dieser wurde der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch unter anderem zu seiner Identität und Herkunft, seinen Familienangehörigen sowie zu seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen ausführlich befragt.
7. Mit Schreiben des BVwG vom 04.02.2025 wurde dem BF die Kurzinformation der Staatendokumentation zur aktuellen Situation in Syrien („Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht“) zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit eröffnet sich dazu zu äußern.
8. Mit Stellungnahme vom 14.02.2025 hielt der BF seine Beschwerde aufrecht. Da aktuell keine Prognose der Entwicklung im Herkunftsland des BF getroffen werden könne, fehle es zudem an einer wesentlichen Grundlage für die gegenständliche Entscheidung. Zudem drohe dem BF weiterhin Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure sowie eine Verfolgung durch die neuen Machthaber aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung.
9. Am 07.04.2025 führte das Bundesverwaltungsgericht eine weitere öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Im Rahmen dieser wurde der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch zu seinen vorgebrachten Fluchtgründen unter Bedachtnahme der neuen Machtverhältnisse in Syrien befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF führt die im Rubrum genannte Verfahrensidentität. Seine Identität steht fest.
Der BF ist syrischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX 1997 in H XXXX , Al-Hasaka, Syrien, geboren. Er gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitisch islamischen Glaubensgemeinschaft an. Seine Muttersprache ist Arabisch. Der BF ist verheiratet und hat eine Tochter. Der BF besuchte sechs Jahre die Schule und arbeitete als Bauarbeiter und Ziegenhirte.
Der BF lebte bis 2020 in Syrien, ehe er in die Türkei ausreiste. 2022 reiste über die Türkei nach Österreich aus.
Aktuell leben die Mutter, der Vater, die Ehefrau und die Tochter des BF in D XXXX in Syrien. Vier Brüder und eine Schwester leben in der Türkei.
Im April 2022 reiste der BF nach Österreich. Der BF ist gesund. Er ist arbeitsfähig. Aktuell arbeitet der BF nicht.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
1.2.1. Die Heimatregion des BF sowie auch sein Heimatort standen vor dem Fall des Regimes des Bashar al-Assad am 08.12.2024 nicht im Einflussgebiet der syrischen Regierung, sondern unter Kontrolle der Kurden. Das syrische Regime wurde durch die Rebellen, angeführt durch die HTS, zerschlagen und der (ehemalige) Präsident Baschar al-Assad ist aus Syrien nach Russland geflohen. Aktuell befindet sich die Heimatregion des BF weiterhin unter Kontrolle der Kurden.
1.2.2. Der BF hat seinen syrischen Wehrdienst nicht abgeleistet. Dem BF droht keine Verfolgung durch die syrische Assad-Regierung.
1.2.3. Dem BF droht aufgrund seines Alters keine Rekrutierung durch die kurdischen Streitkräfte (SDF).
1.2.4. Dem BF droht keine Verfolgung durch die Verwandten seiner Ehefrau.
1.2.5. Der BF weist keine oppositionelle Gesinnung gegen die HTS auf und war nicht regimefreundlich eingestellt. Ihm wird nicht vorgeworfen, das Regime unterstützt zu haben. Der BF hat aufgrund des von ihm erstatteten Vorbringens in Syrien auch von den neuen Machthabern keinerlei Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten. Weder der BF noch dessen Familienangehörige wurden von der HTS bedroht.
1.2.6. Dem BF droht bei einer Rückkehr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch den syrischen Staat oder durch Mitglieder regierungsfeindlicher oder –freundlicher (bewaffneter) Gruppierungen.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
1.3.1. Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad auf ecoi.net [Stand:22.04.2025]
Am 27. November 2024 startete die militante islamistische Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS), deren Kontrolle sich bis dahin auf Teile der Provinzen Aleppo und Idlib beschränkt hatte, mit verbündeten Rebellenfraktionen eine Großoffensive im Nordwesten Syriens. Die Rebellen eroberten zunächst Aleppo, die zweitgrößte Stadt des Landes. Am 5. Dezember fiel die Stadt Hama und zwei Tage darauf die drittgrößte Stadt Syriens, Homs (BBC, 8. Dezember 2024; siehe auch Der Standard, 8. Dezember 2024, ISPI, 8. Dezember 2024). Unterdessen rückten Rebellenkräfte aus dem Süden Syriens in die Stadt Daraa vor, die eine zentrale Rolle im Aufstand von 2011 spielte, und erlangten die Kontrolle über mehr als 90 Prozent der Provinz, während sich die Regierungstruppen sukzessive zurückzogen (Rudaw, 7. Dezember 2024). In Sweida übernahmen drusische Fraktionen die Verwaltung der Region und festigten damit die oppositionellen Strukturen im Süden des Landes (Al-Jazeera, 10.Dezember 2024). Diese Gruppen formierten die „Southern Operations Room“, um den Aufstand zu koordinieren, und waren die ersten, die in Damaskus eintrafen (The Guardian, 9. Dezember 2024). Nach dem Eintreffen von HTS in der Hauptstadt zogen sie sich jedoch nach Daraa zurück (France 24, 8. Jänner 2025). Am 8. Dezember 2024 erklärten die Rebellen den Sieg in Damaskus. Der syrische Präsident Baschar al-Assad verließ noch am selben Tag das Land und beantragte Asyl in Russland, wo ihm Aufnahme gewährt wurde (Tagesschau, 8. Dezember 2024).
Hayat Tahrir al-Scham (HTS)
Die mächtigste Gruppe in Syrien, die den Vormarsch der Rebellen anführte, ist die islamistische Gruppe Hayat Tahrir al-Scham. Sie begann als offizieller al-Qaida-Ableger in Syrien unter dem Namen Nusra-Front und verübte bereits zu Beginn des Aufstands gegen Assad Angriffe in Damaskus. Die Gruppe durchlief mehrere Namensänderungen und gründete schließlich als die HTS eine Regierung in der Provinz Idlib, im Nordwesten Syriens. Die USA, Türkei und andere stuften die HTS und ihren Anführer, Ahmed al-Scharaa (auch Abu Mohammed al-Dscholani genannt), als Terroristen ein (Reuters, 8. Dezember 2024; siehe auch: BBC, 8. Dezember 2024, DW, 9. Dezember 2024).
Syrische Nationalarmee (SNA)
Die Syrische Nationalarmee (SNA) ist eine zersplitterte Koalition unterschiedlicher bewaffneter Gruppen (DW, 9. Dezember 2024), die mit direkter türkischer Militärunterstützung einen Gebietsabschnitt entlang der syrisch-türkischen Grenze halten (Reuters, 8. Dezember 2024). Trotz interner Spaltungen pflegen viele SNA-Fraktionen enge Bindungen zur Türkei, wie die Sultan-Suleiman-Schah-Brigade, die al-Hamza-Division und die Sultan-Murad-Brigade. Andere Fraktionen der Gruppe versuchen trotz ihrer Zusammenarbeit mit der Türkei ihre eigenen Prioritäten durchzusetzen (DW, 9. Dezember 2024). Als die HTS und verbündete Gruppen aus dem Nordwesten Anfang Dezember auf von Assads Regierung kontrolliertes Gebiet vorrückten, schloss sich ihnen auch die SNA an und kämpfte im Nordosten gegen Regierungstruppen wie auch kurdisch geführte Kräfte (Reuters, 8. Dezember 2024).
Der Vormarsch der Rebellen gegen Assads Regierungstruppen wurde Berichten zufolge von der Türkei mit unterstützt (ARD, 8. Dezember 2024).
Syrische Demokratische Kräfte (SDF)
Die Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) sind ein Bündnis kurdischer und arabischer Milizen, das von den USA und ihren Verbündeten unterstützt wird. Die SDF kontrollieren den größten Teil Syriens östlich des Euphrat, sowie einige Gebiete westlich des Flusses. Mit der aktuellen Offensive kam es auch zu Kämpfen zwischen den SDF und der SNA (Reuters, 8. Dezember 2024). Mit 11. Dezember verloren die SDF die Kontrolle über die Stadt Manbidsch. (SOHR, 11. Dezember 2024).
Sonstige
Neben den genannten Gruppen gibt es in Syrien eine Vielzahl lokaler Gruppierungen, die sich gegen al-Assad gestellt haben. Diese vertreten ein breites Spektrum islamistischer und nationalistischer Ideologien. Im Norden schlossen sich einige von ihnen dem Militäroperationskommando der HTS an. Im Süden dominierende Gruppen erhoben sich in der aktuellen Situation und nahmen den Südwesten Syriens ein (Reuters, 8. Dezember 2024). Die in den südlichen Provinzen aktiven Gruppen gründeten zu diesem Zweck die Koalition „Southern Operations Room“ (The Guardian, 9. Dezember 2024).
Neueste Entwicklungen
Politische Entwicklungen
Mohammed Al-Baschir, der bis zum Sturz Baschar Al-Assads die mit Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) verbundene Syrischen Heilsregierung im Nordwesten Syriens geleitet hatte, wurde am 10. Dezember 2024 als Interimspremierminister mit der Leitung der Übergangsregierung des Landes bis zum 1. März 2025 beauftragt (MEE, 10. Dezember 2024; siehe auch: Al Jazeera, 10. Dezember 2024). Die Minister der Syrischen Heilsregierung übernahmen vorerst die nationalen Ministerposten. Laut dem Congressional Research Service (CRS) seien einige Regierungsbeamt·innen und Staatsangestellte der ehemaligen Regierung weiterhin im Regierungsapparat beschäftigt (CRS, 13. Dezember 2024). Am 21. Dezember ernannte die Übergangsregierung Asaad Hassan Al-Schibani zum Außenminister und Murhaf Abu Qasra zum Verteidigungsminister. Beide seien Verbündete des HTS-Anührers Ahmed Al-Scharaa (Al-Jazeera, 21. Dezember 2024). Am 29. Dezember legte Al-Scharaa in einem Interview mit dem saudischen Fernsehsender Al-Arabiyya dar, dass es bis zu vier Jahren dauern könne, bis Wahlen stattfinden werden, da die verschiedenen Kräfte Syriens einen politischen Dialog führen und eine neue Verfassung schreiben müssten (AP, 29. Dezember 2024).
Am 29. Jänner 2025 wurde Ahmed Al-Scharaa, der seit dem Sturz von Baschar Al-Assad faktisch das Land geleitet hatte, zum Übergangspräsidenten in Syrien ernannt. Gleichzeitig wurde die Verfassung von 2012 außer Kraft gesetzt und das alte Parlament aufgelöst (Tagesschau, 29. Jänner 2025).
Bereits am 17. Dezember erklärte Al-Scharaa, dass alle Rebellenfraktionen aufgelöst und in die Reihen des Verteidigungsministeriums integriert würden (The Guardian, 17. Dezember 2024). AFP berichtete am 8. Jänner, dass laut einem Sprecher des Southern Operations Room die Kämpfer Südsyriens nicht mit einer Auflösung ihrer Gruppen einverstanden seien. Sie könnten sich jedoch eine Integration in das Verteidigungsministerium in ihrer momentanen Form vorstellen(France24, 8. Jänner 2025). Am 18. Februar stimmten die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zu ihre Streitkräfte und zivile Institutionen in die neue syrische Regierung zu integrieren (The New Arab, 18. Februar 2025).
Am 29. Dezember wurde eine Liste mit 49 Personen, die zu Kommandeuren der neuen syrischen Armee ernannt wurden, veröffentlicht. Unter den Namen seien einige Mitglieder der HTS, sowie ehemalige Armeeoffiziere, die zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs desertierten. Laut Haid Haid, beratender Mitarbeiter beim britischen Think Tank Chatham Haus, wurden die sieben höchsten Ränge von HTS-Mitgliedern besetzt. Laut einem weiteren Experten seien auch mindestens sechs Nicht-Syrer unter den neuen Kommandeuren (France24, 30. Dezember 2024).
Die neue Führung hatte sich seit ihrer Machtübernahme verpflichtet, die Rechte der Minderheiten zu wahren (The New Arab, 7. Jänner 2025). Anfang Jänner kündigte das Bildungsministerium der Übergangsregierung auf seiner Facebook-Seite einen neuen Lehrplan für alle Altersgruppen an, der eine stärker islamische Perspektive widerspiegelt und alle Bezüge zur Assad-Ära aus allen Fächern entfernt. Zu den vorgeschlagenen Änderungen gehörte unter anderem die Streichung der Evolutionstheorie und der Urknalltheorie aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht. Aktivist·innen zeigten sich besorgt über die Reformen (BBC News, 2. Jänner 2025).
Al-Scharaa kündigte weiters Pläne für eine Nationale Dialogkonferenz an, die darauf abzielen sollte, Versöhnung und Inklusion zu fördern (Levant24, 29. Dezember 2024). Die ursprünglich für Anfang Jänner 2025 angesetzte Konferenz wurde jedoch verschoben, um ein erweitertes Vorbereitungskomitee einzurichten, das eine umfassende Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in Syrien gewährleisten soll (Al-Mayadeen, 23. Jänner 2025). Die Konferenz fand schließlich am 25. Februar statt und brachte 600 Konferenzteilnehmer·innen aus unterschiedlichen syrischen Gemeinschaften zusammen. Verschiedene syrisch-kurdische Gruppen behaupteten, sie seien entweder nicht eingeladen worden oder hätten sich gegen eine Teilnahme entschieden. Einige Teilnehmer·innen hätten auf den Mangel an Transparenz hinsichtlich der Kriterien für die Auswahl der Teilnehmer·innen hingewiesen und kritisiert, dass Teilnehmer·innen ihre Einladung lediglich einen Tag vor der Tagung erhalten hätten. Die Konferenz selbst habe nur einen Tag gedauert. Am Ende der Konferenz wurde eine Erklärung vorbereitet, in der unter anderem die Ablehnung jeglicher Form von Diskriminierung, die Achtung der Menschenrechte und das Prinzip der friedlichen Koexistenz betont wurden (DW, 26. Februar 2025),
Al-Scharaa kündigte am 2. März die Bildung eines Ausschusses an, der eine Verfassungserklärung für die Übergangsphase des Landes ausarbeiten soll (France 24, 2. März 2025).
Am 7. und 8. März kam es laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) zu 30 „Massakern“ an Alawit·innen an der Westküste Syriens, bei denen in etwa 746 Zivilist·innen getötet wurden. Zusammen mit der Zahl der getöteten Kämpfer, die sich sowohl aus Pro-Assad-Kämpfern, wie auch aus Kämpfern der neuen Regierung zusammensetzte, stieg die Gesamtzahl der Toten auf über 1.000 Personen. Präsident Al-Scharaa rief zu Frieden und Einheit auf und versprach, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Er ging jedoch nicht direkt auf die Vorwürfe ein, dass seine Anhänger an den Morden an Zivilist·innen beteiligt waren (BBC News, 9. März 2025).
Kontrolle der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF)
Die von der Türkei unterstütze Syrische Nationalarmee (SNA) führte ihre Offensive gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und das Gebiet der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) fort. Die SNA nahm in den vergangenen Tagen Gebiete der nordwestlichen Region Shahba sowie die Stadt Manbidsch ein. Mit 10. Dezember griffen SNA-Kämpfer den strategisch wichtigen, kurdisch-kontrollierten Tischreen-Staudamm in der Provinz Aleppo an (Rudaw, 10. Dezember 2024), und rückten auf die Stadt Kobane vor (Al-Monitor, 10. Dezember 2024). Am 11. Dezember kam es nach Vermittlungen der US-Behörden zu einem Waffenstillstand in der Stadt Manbidsch. Das Abkommen sieht den Abzug der (mit den SDF verbundenen) „Manbij Military Council Forces“ vor (SOHR, 11. Dezember 2024). Am 17. Dezember wurde dieser Waffenstillstand bis zum Ende derselben Woche verlängert (Reuters, 17. Dezember 2024). Am 18. Dezember trat ein Waffenstillstandsabkommen in der Region Ain Al-Arab (auch Kobani) in Kraft (SOHR, 18. Dezember 2024). Die SDF warfen der Türkei und ihren Verbündeten vor, sich nicht an das Waffenstillstandsabkommen zu halten und ihre Angriffe südlich von Kobani fortzusetzen. Zur gleichen Zeit gingen Einwohnerinnen der nordostsyrischen Stadt Qamischli auf die Straße, um den Widerstand der SDF gegen die Angriffe protürkischer Kämpfer in der Region zu unterstützen (France24, 19. Dezember 2024). Am 21. Dezember wurden laut SDF fünf ihrer Kämpfer bei Angriffen von der Türkei unterstützten Streitkräften auf die Stadt Manbidsch getötet (Reuters, 21. Dezember 2024). Das Pentagon erklärte am 30. Dezember, dass der Waffenstillstand zwischen der Türkei und den von den USA unterstützten SDF rund um die Stadt Manbidsch anhält (Reuters, 30. Dezember 2024). Am selben Tag behauptete die SDF, dass die Türkei zwei Militärstützpunkte in der Nähe von Manbidsch aufbaut und mehrere Militärfahrzeuge und Radarsysteme von den SDF zerstört wurden (Rudaw, 30. Dezember 2024). Zur gleichen Zeit kam es zu erneuten Schusswechseln zwischen von der Türkei unterstützen Streitkräften und den SDF. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) griffen türkische Streitkräfte und mit ihnen verbündete bewaffnete Gruppen das Dorf al-Terwaziyah südlich von Slouk im ländlichen Raqqa mit schwerer Artillerie und Maschinengewehren an, was anschließend zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führte. Spezialeinheiten der SDF drangen in Stellungen der von der Türkei unterstützen Fraktionen im Dorf Al-Reyhaniyah in der Nähe von Tel Tamer in der Provinz Hasaka ein (Kurdistan24, 30. Dezember 2024). Anfang Jänner kamen bei Zusammenstößen in mehreren Dörfern rund um die Stadt Manbidsch über hundert Menschen ums Leben (The New Arab, 5. Jänner 2025). Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von heftigen Kämpfen in der Region von Manbidsch zwischen der SNA und der SDF und steigenden Opferzahlen (Shafaq News, 9. Jänner 2025).
Human Rights Watch beschuldigt die Koalition der Türkei und SNA, am 18. Jänner ein Kriegsverbrechen begangen zu haben, nachdem eine Drohne einen Krankenwagen des kurdischen Roten Halbmonds traf (HRW, 30. Jänner 2025).
Mit 21. Jänner kommt es zu weiteren Zusammenstößen zwischen SNA und SDF. SOHR schätzt, dass zwischen 12. Dezember und 18. Jänner mindestens 423 Menschen im SNA-SDF-Konflikt getötet wurden; 41 davon Zivilist·innen, 308 SNA-Kämpfer·innen und 74 SDF-Kämpfer·innen (The New Arab, 21. Jänner 2025). Die Kämpfe setzten sich im Februar (BBC News, 26. Februar 2025) und bis Anfang März fort (North Press Agency, 1. März 2025).
Am 11. Dezember übernahm die Koalition ehemaliger oppositioneller Kräfte unter der Führung der HTS die vollständige Kontrolle über die ostsyrische Stadt Deir ez-Zor (Al Jazeera, 11. Dezember 2024). Im Osten der Provinz Deir ez-Zor kam es zu Demonstrationen und der Forderung, die von HTS geführten Streitkräfte sollten die Kontrolle über das Gebiet übernehmen. Einige Kommandanten der SDF seien in Folge desertiert (Syria Direct, 13. Dezember 2024).
Ende Februar begannen die kurdisch geführten Behörden im Nordosten Syriens, Öl aus den von ihnen verwalteten lokalen Feldern an die Zentralregierung in Damaskus zu liefern (Reuters, 22. Februar 2025).
Israelische Angriffe in Syrien
Die israelische Luftwaffe und Marine führten zwischen 7. und 11. Dezember mehr als 350 Angriffe in Syrien durch und zerstörten dabei schätzungsweise 70 bis 80 Prozent der strategischen Militärgüter Syriens zwischen Die israelische Luftwaffe und Marine führten zwischen 7. und 11. Dezember mehr als 350 Angriffe in Syrien durch und zerstörten dabei schätzungsweise 70 bis 80 Prozent der strategischen Militärgüter Syriens zwischen Damaskus und Latakia. Die israelischen Streitkräfte haben außerdem Bodentruppen aus den von Israel besetzten Golanhöhen nach Osten in eine entmilitarisierte Pufferzone in Syrien sowie, laut israelischen Angaben, auch knapp darüber hinaus verlegt (BBC News, 11. Dezember 2024). Laut arabischen Medien rückten israelische Streitkräfte bis in ländliche Gebiete der Provinz Damaskus vor. Dies wurde von israelischer Seite dementiert (Enab Baladi, 10. Dezember 2024; Reuters, 10. Dezember 2024). In der Nacht vom 14. zum 15. Dezember griff Israel Dutzenden Ziele in Syrien aus der Luft an. Den Luftangriffen ging eine Erklärung des israelischen Verteidigungsministers voraus, wonach die israelischen Truppen auf dem in der vergangenen Woche eingenommenen Berg Hermon (Arabisch: Jabel Sheikh) den Winter über verbleiben würden. Israels Ministierpräsident gab weiters bekannt, dass er einem Plan zur Ausweitung des Siedlungsbaus auf den von Israel besetzten Golanhöhen zugestimmt habe (The Guardian, 15. Dezember 2024; siehe auch: BBC News, 15. Dezember 2024). Am 20. Dezember schossen israelische Streitkräfte auf Demonstrant·innen in einem Dorf in der Gegend von Maariya im Süden Syriens, die gegen die Aktivitäten der Armee protestierten, und verletzten dabei einen Demonstranten. Die israelischen Streitkräfte operierten auch in syrisch kontrollierten Gebieten außerhalb der Pufferzone (The Guardian, 21. Dezember 2024). Am 29. Dezember griff Israel ein Waffendepot nahe der Stadt Adra an. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden bei dem Angriff mindestens 11 Personen, hauptsächlich Zivilist·innen, getötet (Euro News, 29. Dezember 2024). Laut syrischen Medien drang die israelische Armee am 30. Dezember tief in das Gebiet Quneitra vor und vertrieb Angestellte aus Regierungsbüros (Shafaq News, 30. Dezember 2024).
Am 23. Jänner veröffentlicht BBC News Satellitenbilder, die Bauarbeiten der Israelischen Armee innerhalb der entmilitarisierten Pufferzone, die die von Israel besetzten Golanhöhen von Syrien trennt, zeigen (BBC News, 23. Jänner 2025).
Ende Februar griffen israelische Kampfflugzeuge militärische Ziele außerhalb von Damaskus und im Süden Syriens an. Gleichzeitig forderte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die vollständige Entmilitarisierung Südsyriens (The Guardian, 25. Februar 2025).
Erklärungen der UN-Organisationen (Sicherheit, Sozioökonomische Situation, Flüchtlinge)
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtet, dass zwischen dem Beginn der Offensive am 27. November und dem 11. Dezember etwa eine Million Menschen aus den Provinzen Aleppo, Hama, Homs und Idlib vertrieben wurden. Es liegen keine Zahlen vor, aber Berichten zufolge kehrten im selben Zeitraum tausende syrische Flüchtlinge aus dem Libanon ins Land zurück. Auch aus der Türkei kehrten Flüchtlinge in den Nordwesten Syriens zurück. Gleichzeitig flohen einige Syrer·innen in den Libanon (UNHCR, 11. Dezember 2024).
Der UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher berichtet am 17. Dezember über kritische Engpässe bei Nahrungsmitteln, Treibstoff und Vorräten aufgrund unterbrochener Handelsrouten und Grenzschließungen (UN News, 17. Dezember 2024).
Laut UNICEF benötigen 7,5 Million Kinder in Syrien humanitäre Hilfe. Mehr als 2,4 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und eine weitere Million Kinder laufen Gefahr, die Schule abzubrechen. Auch die Gesundheitsversorgung sei fragil. Fast 40 Prozent der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen sind teilweise oder vollständig funktionslos. Fast 13,6 Millionen Menschen benötigen Wasser, Sanitäranlagen und Hygienedienste; und 5,7 Millionen Menschen, darunter 3,7 Millionen Kinder, benötigen Ernährungshilfe (UNICEF, 18. Dezember 2024).
Die UN berichtet, dass es in der Woche vom 23. Dezember weiterhin zu Feindseligkeiten und Unsicherheiten in den Provinzen Aleppo, Homs, Hama, Latakia, Tartus, Deir-ez-Zor und Quneitra kam. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage waren humanitäre Einsätze mit 30. Dezember in mehreren Gebieten weiterhin ausgesetzt. Im November hatten rund zwei Millionen Menschen in ganz Syrien Nahrungsmittelhilfe in unterschiedlicher Form erhalten. Die instabile Sicherheitslage in den ländlichen Gebieten von Hama, Quneitra, Lataka und Tartous beeinträchtigte die Möglichkeit des Schulbesuchs für Kinder (UN News, 30. Dezember 2024).
Mit 29. Dezember haben 94 der 114 von UNHCR unterstützten Gemeindezentren in ganz Syrien ihre Arbeit wiederaufgenommen. Seit dem 27. November haben sich 58.500 Personen an die Gemeindezentren gewandt, um sich anzumelden und um Zugang zu Schutzdiensten zu erhalten. Laut UNHCR kehrten zwischen 8. und 29. Dezember 58.400 Personen nach Syrien (hauptsächlich aus dem Libanon, Jordanien und der Türkei) zurück. Seit Anfang 2024 (bis zum 29. Dezember) kehrten ungefähr 419.200 syrische Flüchtlinge zurück; die Mehrheit von ihnen nach Raqqa (25%), Aleppo (20%) und Daraa (20%) (UNHCR, 30. Dezember 2024).
Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, erklärte in seinem Briefing an den UN-Sicherheitsrat am 8. Jänner 2025, dass sich die Sicherheitssituation in einigen Regionen zwar verbesserte, es jedoch weiterhin zu Unruhen in den Küstenregionen, Homs und Hama kam. Bewaffnete Gruppen, darunter das Terrornetzwerk Islamischer Staat – und über 60 Gruppen mit widersprüchlichen Agenden – stellten ebenfalls eine anhaltende Bedrohung für die territoriale Integrität Syriens dar. Pederson berichtete weiters über den oben beschriebenen Konflikt zwischen SNA und SDF, sowie die Verstöße Israels. Auch die humanitäre Lage war nach wie vor kritisch: Fast 15 Millionen Syrer·innen benötigten Gesundheitsversorgung, 13 Millionen waren von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen und über 620.000 waren Binnenflüchtlinge. Die am Tischreen-Staudamm verursachten Schäden schränkten die Wasser- und Stromversorgung für mehr als 400.000 Menschen ein (UN News, 8. Jänner 2025).
Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) teilte am 30. Jänner mit, dass über 25.000 Menschen aus der nordöstlichen Stadt Manbidsch vertrieben worden seien. Speziell in Ost-Aleppo und rund um den Tischreen-Staudamm kam es zu Kämpfen. Infolge der eskalierenden Gewalt sei die Zahl der Neuvertriebenen bis zum 27. Januar auf 652.000 gestiegen. Die humanitäre Hilfe wurde durch einen Mangel an öffentlichen Dienstleistungen und Liquiditätsengpässen schwer beeinträchtigt. In Städten wie Homs und Hama gebe es alle acht Stunden nur 45 bis 60 Minuten lang Strom (UN News, 30. Jänner 2025).
Mitte Februar erklärte OCHA, dass die humanitäre Hilfe für Syrien erheblich unterfinanziert ist. Bis März wurden weniger als 10 Prozent der benötigten 1,2 Milliarden Dollar bereitgestellt. Gleichzeitig kommt es in Teilen Nordostsyriens, speziell in Ost-Aleppo, Raqqa, und Hasakah, weiterhin zu Zusammenstößen und Angriffen mit Sprengsätzen (OCHA, 12. Februar 2025).
Mit 26. Februar erreicht die humanitäre Hilfe, laut UN, viele Gemeinden, doch schränken Kämpfe den Zugang zu Hilfe in mehreren Regionen im Osten Aleppos ein (UN News, 26. Februar 2025).
[…]
1.3.2. Situation vor dem Ende der Assad Regierung
Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-08 10:59
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vgl. Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (AA 2.2.2024).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (AA 2.2.2024).
Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administrationof North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)
Letzte Änderung 2024-03-08 15:02
Sicherheitslage
Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administrationof North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)
Letzte Änderung 2024-03-08 15:02
Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amt die Lage im Nordosten Syriens (v. a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobanê, Tell Abyad, Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Anfang Oktober 2023 begannen die türkischen Streitkräfte wieder mit der Intensivierung ihrer Luftangriffe auf kurdische Ziele in Syrien, nachdem in Ankara ein Bombenanschlag durch zwei Angreifer aus Syrien verübt worden war (REU 4.10.2023). Die Luftangriffe, die in den Provinzen Hasakah, Raqqa und Aleppo durchgeführt wurden, trafen für die Versorgung von Millionen von Menschen wichtige Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur (HRW 26.10.2023; vgl. AA 2.2.2024).
Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der Volksverteidigungseinheiten (YPG) als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).
Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020) Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der ’Syrian National Army’ (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus1.10.2021).
Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB Damaskus 1.10.2021; vgl. AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Hinzukamen wiederholte Luft- bzw. Drohnenangriffe zwischen den in Nordost-Syrien stationierten US-Truppen und Iran-nahen Milizen (AA 2.2.2024).
SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad- Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021).
Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als „Hauptschauplatz für den Aufstand des IS“ (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022).
Die kurdischen YPG stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation IS in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrerem Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet und einzelne Führungskader getötet wurden (AA 2.2.2024).
Der IS führt weiterhin militärische Operationen in der AANES durch. Die SDF reagieren auf die Angriffe mit routinemäßigen Sicherheitskampagnen, unterstützt durch die Internationale Koalition. Bisher konnten diese die Aktivitäten des IS und seiner affiliierten Zellen nicht einschränken. SOHR dokumentierte von Anfang 2023 bis September 2023 121 Operationen durch den IS, wie bewaffnete Angriffe und Explosionen, in den Gebieten der AANES. Dabei kamen 78 Personen zu Tode, darunter 17 ZivilistInnen und 56 Mitglieder der SDF (SOHR 24.9.2023).
Mit dem Angriff auf die Sina’a-Haftanstalt in Hassakah in Nordostsyrien im Januar 2022 und den daran anschließenden mehrtägigen Kampfhandlungen mit insgesamt ca. 470 Todesopfern (IS Angehörige, SDF-Kämpfer, Zivilisten) demonstrierte der IS propagandawirksam die Fähigkeit, mit entsprechendem Vorlauf praktisch überall im Land auch komplexe Operationen durchführen zu können (AA 29.3.2023). Bei den meisten Gefangenen handelte es sich um prominente IS-Anführer (AM 26.1.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (AJ 26.1.2022). Die Gefechte dauerten zehn Tage, und amerikanische wie britische Kräfte kämpften aufseiten der SDF (HRW 12.1.2023). US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das (vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte (NYT 25.1.2022). Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten und Geiseln nahmen (ANI 26.1.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000 Einwohner von Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.1.2022; vgl. NYT 25.1.2022, EUAA 9.2022). Während der Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS (TWP 24.2.2022). Die geflohenen Bewohner durften danach zurückkehren (MPF 8.2.2022), wobei Unterkünfte von mehr als 140 Familien scheinbar von den SDF während der Militäraktionen zerstört worden waren. Mit Berichtszeitpunkt Jänner 2023 waren Human Rights Watch keine Wiederaufpläne, Ersatzunterkünfte oder Kompensationen für die zerstörten Gebäude bekannt (HRW 12.1.2023).
Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft wurden, erfolgte die Aktion in Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe, während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nutzt dabei besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens aus, z. B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung zusammenarbeiteten (TWP 24.2.2022). Das Ausüben von koordinierten und ausgeklügelten Anschlägen in Syrien und im Irak wird von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation als Indiz dafür gesehen, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.1.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert. Am 28.9.2022 gaben die SDF bekannt, dass sie eines der größten Waffenverstecke des IS seit Anfang 2019 erobert haben. Sowohl die Größe des Fundes als auch sein Standort sind ein Beleg für die wachsende Bedrohung, die der IS im Nordosten Syriens darstellt (TWI 12.10.2022). Bei einem weiteren koordinierten Angriff des IS auf das Quartier der kurdischen de facto-Polizeikräfte (ISF/Asayish) sowie auf ein nahegelegenes Gefängnis für IS-Insassen in Raqqa Stadt kamen am 26.12.2022 nach kurdischen Angaben sechs Sicherheitskräfte und ein Angreifer ums Leben (AA 29.3.2023). Laut dem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli 2022 sind einige der Mitgliedstaaten der Meinung, dass der IS seine Ausbildungsaktivitäten, die zuvor eingeschränkt worden waren, insbesondere in der Wüste Badiya wieder aufgenommen habe (EUAA 9.2022). Im Jahr 2023 haben die Aktivitäten von Schläferzellen des IS vor allem in der östlichen Wüste zugenommen (CFR 13.2.2024).
Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davonin al-Hol (ÖB Damaskus 1.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 7.11.2022b), auch aus Österreich (ÖB Damaskus 1.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.2.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten.
Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt, und das Lager ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden (MSF 7.11.2022b). 65 Prozent der Bewohner von al-Hol sind Kinder, 52 Prozent davon im Alter von unter zwölf Jahren (MSF 19.2.2024), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 5.5.2022; vgl. MSF 7.11.2022a). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 6.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Lagers ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination durch den IS begünstigt. Die SDF sahen sich zudem gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 3.12.2022).
Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vgl. AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).
Im August 2023 brachen gewaltsame Konflikte zwischen den kurdisch geführten SDF und arabischen Stämmen in Deir ez-Zor aus (AJ 30.8.2023), in dessen Verlauf es den Aufständischen gelungen war, zeitweise die Kontrolle über Ortschaften entlang des Euphrat zu erlangen. UNOCHA dokumentierte 96 Todesfälle und über 100 Verwundete infolge der Kampfhandlungen, schätzungsweise 6.500 Familien seien durch die Gewalt vertrieben worden. Nach Rückerlangung der Gebietskontrolle durch die SDF kam es auch in den folgenden Wochen zu sporadischen Attentaten auf SDF sowie zu vereinzelten Kampfhandlungen mit Stammeskräften (AA 2.2.2024).
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung 2023-07-14 13:52
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)
Letzte Änderung 2024-03-13 15:02
Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Im Jahr 2022 erwähnt der Danish Immigration Service (DIS) Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des Konfliktes. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer „regulären Armee“ zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten „HTS-Wehrpflicht“ in ldlib liebäugelte, damit dem „Staatsvolk“ von ldlib eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022). Die HTS rekrutiert auch gezielt Kinder, bildet sie religiös und militärisch aus und sendet sie an die Front (SNHR 20.11.2023).
Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien
Wehrpflichtgesetz der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“
Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte „Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen „Freiwilligen“ im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 2.2.2024). Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht“, das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ANHA, 4.9.2021). Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022). Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (ACCORD 7.9.2023).
Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde [Anm.: Siehe weiter unten]. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der „Selbstverwaltung“ befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der „Selbstverwaltung“ als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die „Selbstverteidigungspflicht“ erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur „Selbstverteidigungspflicht“ eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022; vgl. NMFA 8.2023).
Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die „Selbstverteidigungspflicht“ vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der „Selbstverwaltung“ gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monateverlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).
Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall „höherer Gewalt“ einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).
Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen
Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).
Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der „Selbstverteidigungspflicht“ erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hasakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).
Rekrutierungspraxis
Die Aufrufe für die „Selbstverteidigungspflicht“ erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim „Büro für Selbstverteidigungspflicht“ ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z. B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022). Das Wehrpflichtgesetz von 2014 wird laut verschiedenen Menschenrechtsorganisationen mit Gewalt durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und Mädchen (AA 2.2.2024).
Wehrdienstverweigerung und Desertion
Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die „Militärpolizei“ unter seiner Adresse. Die meisten sich der „Wehrpflicht“ entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).
Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das „Selbstverteidigungspflichtgesetz“ auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 2.2.2024), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der „Wehrpflicht“ um einen Monat bestraft würden – zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft „für eine Zeitspanne“. Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleichbehandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (ACCORD 6.9.2023). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (ACCORD 6.9.2023).
Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).
Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vgl. EB 12.7.2019).
Aufschub des Wehrdienstes
Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).
Ergänzend wird an dieser Stelle auf die unten in der Beweiswürdigung und den rechtlichen Ausführungen zitierten Länderinformationen verwiesen und werden diese hiermit ebenfalls festgestellt.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch:
- Einsichtnahme in den vorgelegten Akt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl samt den dort einliegenden Unterlagen, dabei insbesondere in den Bescheid des BFA, in die niederschriftlichen Angaben des BF im Verfahren, den Gerichtsakt und die Verhandlungsprotokolle der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht;
- Einsichtnahme in ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, 11. März 2025 abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2122724;
- Einsichtnahme in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Syrien, Version 11, samt den darin genannten Quellen, vom 27.03.2024, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/laender/arabischerepublik- syrien/coi-cms und das im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht eingeführte Konvolut an Länderinformationen;
- UNHCR Regional- Flash-Update 18 abrufbar unter https://reporting.unhcr.org/syria-situationcrisis- regional-flash-update-18;
- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen (z.B. Yekîneyên Parastina Gel, YPG); Zwangsrekrutierungen vom 25. März 2025 abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2123131.html;
- Einsichtnahme in die aktuelle Karte betreffend die Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, abrufbar unter: https://syria.liveuamap.com/ sowie die aktuelle Karte betreffend die historische Kontrolle von Akteuren in Syrien, abrufbar unter: https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploringhistorical-control-in-syria.html
- Einholung von Auskünften aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) ergänzend zum vorgelegten Verwaltungsakt (OZ 2, 7 und 13).
2.2. Zu den Feststellungen zum BF:
Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde (Aktenseite = AS, AS 1f, 83f), in der Beschwerde und vor dem BVwG (Verhandlungsprotokoll vom 16.10.2024 = VP, VP Seite 8ff). Zudem hat der BF einen syrischen Personalausweis im Original vorgelegt, weshalb die von ihm getätigten Angaben festgestellt werden konnte.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seiner familiären Situation und seiner Schulausbildung gründen sich auf die diesbezüglichen im gesamten Verfahren weitgehend schlüssigen und plausiblen Angaben des BF (AS 2f, 85f; VP Seite 3, 8ff).
Die Feststellung hinsichtlich seines Wohnortes in Syrien ergibt sich aus den Angaben des BF im Verfahren. Vor der belangten Behörde führte er an, dass er in H XXXX Al-Shariya in Al-Hasaka geboren wurde (AS 85, VP S. 8). Dass der BF von Anfang 2020 bis 2022 in der Türkei gelebt hat, ergibt sich ebenfalls aus den schlüssigen und stringenten Angaben des BF (AS 86, 91; VP S 9).
Dass der BF gesund ist, kann seinen eigenen diesbezüglichen glaubhaften Angaben entnommen werden und hat sich im gesamten Verfahren auch nichts Gegenteiliges ergeben (AS 84; VP S 6f). Die Unbescholtenheit des BF in Österreich geht aus einem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug hervor (OZ 13).
2.3. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF bringt als Fluchtgründe vor, er wolle nicht für die syrische Armee kämpfen und habe sich gegenüber der syrischen Regierung oppositionell betätigt. Er wolle nicht töten und getötet werden (AS 6, 89, VP vom 16.10.2024 S. 15f). Zudem werde er auch von Verwandten seiner Ehefrau bedroht, da er diese ohne Einverständnis ihrer Familie geheiratete habe. Auch drohe im die Rekrutierung durch die kurdischen Streitkräfte und es werde ihm im Falle einer Rückkehr eine oppositionelle Haltung unterstellt.
2.3.1. Der BF stammt aus einem bereits vor dem Machtwechsel nicht von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet, sondern aus dem Gebiet der AANES. Dies ergibt sich aus der Nachschau durch das Bundesverwaltungsgericht auf https://syria.liveuamap.com/ sowie auf https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html. Zudem gab der BF vor dem Bundesverwaltungsgericht an, seine Heimatregion sei unter Kontrolle der Kurden (VP vom 16.10.2024, S. 12, 19; VP vom 07.04.2025, S 5).
Ausgehend von den Länderfeststellungen, wonach der bisherige Machthaber Baschar al-Assad nach seinem Sturz am 08.12.2024 aus Syrien geflüchtet ist und dessen Regime seither nicht mehr existiert, ist die behauptete Gefährdung des Beschwerdeführers durch das ehemalige syrische Regime im Fall einer (hypothetischen) Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weggefallen. Eine Verfolgungsgefahr durch das syrische Regime war schon alleine daher objektiv auszuschließen, weil das syrische Regime aufgrund der erfolgreichen Großoffensive der HTS Ende November/Anfang Dezember 2024 keinen Einfluss mehr hat.
2.3.2. In seiner Beschwerde brachte der BF vor, dass er eine Rekrutierung durch die kurdischen Streitkräfte fürchte (Beschwerde, S. 10).
Der 1997 geborene BF ist jedoch ohnehin nicht wehrpflichtig iSd Wehrpflichtgesetzes der kurdischen Streitkräfte. Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht“, das den verpflichtenden Militärdienst regelt, welchen Männer im Alter von über 18 im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.08.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 04.09.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Wehrpflicht auf Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren beschränkte. Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist seither in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte (DIS 6.2022). Betroffen sind derzeit Männer, die 1998 oder danach geboren worden sind (Vgl. auch Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen (z.B. Yekîneyên Parastina Gel, YPG)). Der BF, der angibt, am XXXX 1997 geboren worden zu sein, ist damit bereits 27 Jahre alt und daher über dem Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst der kurdischen Milizen.
Aus den aktuellen Länderberichten ergibt sich zudem, dass die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zugesagt haben, ihre Streitkräfte und zivile Institutionen in die neue syrische Regierung zu integrieren (ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, 11. März 2025, https://www.ecoi.net/de/dokument/2122724.html [Zugriff am 18. April 2025], Kapitel Politische Entwicklungen).
Auch wenn der BF entgegen der Ergebnisse des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens daher zur „Selbstverteidigungspflicht“ rekrutiert werden sollte (soweit dieses in Zukunft weiterhin Anwendung finden sollte), wird eine Verweigerung des Wehrdienstes seitens der Autonomiebehörde nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung angesehen. Unter Zugrundelegung der Länderberichte liegen weder Anhaltspunkte für unverhältnismäßige Strafen bei Wehrdienstverweigerung noch hinreichende Hinweise dafür vor, dass Rekruten im Rahmen der Wehrpflicht zu menschenrechtswidrigen Handlungen gezwungen würden. Rekruten absolvieren idR eine ideologische und militärische Ausbildung, bevor sie an Checkpoints oder Straßensperren stationiert werden und logistische Unterstützung für freiwillige Streitkräfte leisten. Wehrpflichtige der Selbstverteidigungskräfte werden allgemein nicht an der Front eingesetzt; diese werden zum Schutz von befreiten Gebieten, nicht jedoch zum Kampf im selbigen eingesetzt. Hauptaufgabe ist es, Versorgungswege im Hintergrund zu schützen.
Dass dem BF durch die Kurden eine oppositionelle Haltung wegen der bisherigen Nichtableistung der Selbstverteidigungspflicht unterstellt wird, ist nicht anzunehmen. Der BF fiel zu keinem Zeitpunkt aufgrund von oppositionellem Verhalten gegenüber den kurdischen Machthabern auf. Eine oppositionelle Haltung des BF gegenüber den Kurden oder der kurdischen Armee war nicht zu erkennen oder wahrzunehmen. Der BF sagte, er würde nicht für die kurdische Miliz kämpfen, da er auch nicht für das syrische Regime kämpfen würde (VH vom 16.10.2024, S. 21). Nähere Ausführungen machte der BF diesbzgl nicht. Anzunehmen ist, dass der BF nicht in der kurdischen Armee kämpfen möchte, da er nicht töten oder sterben will.
Es ist somit aufgrund der ins Verfahren eingeführten Länderinformationen nicht wahrscheinlich, dass dem BF bei einer Rückkehr in seine Heimatregion selbst bei einem Einzug zum Militärdienst der kurdischen Milizen eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Aus den Länderinformationen ist zu schließen, dass der BF bei einer Verweigerung des „Wehrdienstes“ in den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zur Beteiligung an Kampfhandlungen verpflichtet, nicht der Verlegung an die Front ausgesetzt und auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Begehung von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre.
2.3.3. Es ist unglaubwürdig, dass der BF von der Familie seiner Ehefrau bedroht werde. Vor dem BFA sagte der BF aus, er habe mehrmals bei der Familie seiner Ehefrau um die Ehe angesucht. Dies sei jedoch von der Familie seiner Ehefrau abgelehnt worden, da der BF Araber und arm sei. Da seine Ehefrau ihrem Cousin im Irak versprochen wurde, seien sie gemeinsam geflohen und haben geheiratet. Daraufhin habe die Familie seiner Ehefrau ihn und seine Frau mittels WhatsApp Nachrichten bedroht. Zudem seien der Bruder und die Schwester des BF inhaftiert worden (AS 92).
Vor dem Bundesverwaltungsgericht steigerte er seine Aussage, sein Bruder sei im Gefängnis geschlagen worden und seine Schwester sei in ein Gefängnis für IS-Gefangene untergebracht worden. Das örtliche Gericht sprach die Geschwister jedoch frei. Zudem wollte die Mutter der Ehefrau des BF die 16-jährige Schwester des BF mit ihrem 40jährigen Bruder verheiraten. (VH vom 16.10.2024, S. 15f).
Bei seiner erneuten Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht berichtete der BF nur noch von der geplanten Zwangsverheiratung seiner Schwester mit dem Bruder seiner Schwiegermutter. Die angebliche Verhaftung seiner Geschwister erwähnte der BF überhaupt nicht mehr (VH vom 07.04.2025, S 5). Allerdings fügte der BF hinzu, dass die kurdische Sicherheitspolizei erst kürzlich nach ihm gesucht habe (VH vom 07.04.2025, S 6). Es ist unglaubwürdig, dass die kurdischen Sicherheitskräfte sieben Jahre nach dem Vorwurf der Entführung Kapazitäten darauf verwenden würden den BF ohne Anlass in seinem Heimatdorf zu suchen. Hier fügte der BF seinem Vorbringen ein weiteres unglaubwürdiges Element hinzu.
Zudem leidet die Glaubwürdigkeit des BF auch an den Aussagen iZm seinen anderen Fluchtvorbringen. Auch das Fluchtvorbingen des BF, er sei vor der Rekrutierung nach Qamishli geflüchtet, war widersprüchlich, was der Gesamtglaubwürdigkeit des BF schadete. So gab der BF er habe bis 2016 in T XXXX gelebt (VH vom 16.10.2024, S. 9). Von dort sei er wegen der befürchteten Rekrutierung durch die syrische Regierung nach Qamishli geflohen (VH vom 16.10.2024, S. 16). Dies ist widersprüchlich, da T XXXX sei März 2015 unter Kontrolle der Kurden steht (s. Abbildung der Carter Centers anbei), in Qamishli selbst war laut BF (VH vom 16.10.2024, S. 18) das Regime vor Ort. Es gab daher keinen nachvollziehbaren Grund für den BF vor der Rekrutierung von T XXXX nach Qamishli zu fliehen.
2.3.4. In seiner Stellungnahme vom 14.02.2025 brachte der BF vor, dass ihm aus politischen Gründen Verfolgung drohe. In der Verhandlung vom 07.04.2025 brachten weder der BF noch sein Vertreter bei der Nachfrage eine Ergänzungen zu einer oppositionellen Haltung gegenüber der HTS vor (VP vom 07.04.2025, S. 5). Eine oppositionelle Haltung des BF war daher nicht zu erkennen oder wahrzunehmen. Eine Assad-freundliche Haltung wird dem BF aufgrund seiner Desertation ebenfalls nicht vorgeworfen. Dass der BF als „Europa-Rückkehrer“ oppositionell wahrgenommen werden könnte, ist den Länderberichten nicht zu entnehmen. Im Gegenteil ruft der nunmehrige Machthaber und Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa geflüchtete Menschen zur Rückkehr auf. Auch die Möglichkeit einer Zwangsrekrutierung durch die HTS brachte der BF vor. Den aktuellen Länderberichten ist aber nicht zu entnehmen, dass die HTS solche durchführe. Diesen ist zu entnehmen, dass die neuen Machthaber planen die Wehrpflicht abzuschaffen und stattdessen auf freiwillige Rekrutierung setze (Vgl. auch Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen (z.B. Yekîneyên Parastina Gel, YPG)).
Zusammengefasst droht bzw drohte weder vor noch nach dem Ende der Assad-Regierung eine Verfolgung durch die HTS. Der BF hat Syrien 2020, verlassen, ihm wird keine regimefreundliche Gesinnung unterstellt. Eine regimefreundliche Haltung gab der BF im Verfahren ebenfalls nicht an, im Gegenteil der BF wollte nicht für die Armee der Assad-Regierung kämpfen.
2.3.5. Zudem drohen dem BF weder aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Araber noch sein Bekenntnis zum sunnitischen Islam Verfolgung. Beide Zugehörigkeiten stellen die Mehrheit in Syrien. Eine Verfolgung aufgrund seiner Rasse oder Religion ist nicht gegeben. Vom BF wurde auch nichts Gegenteiliges vorgebracht.
Weitere allenfalls entscheidungsrelevante Gründe brachte der BF nicht vor.
2.3.6. Hinsichtlich der Heimatregion des BF ist an dieser Stelle auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 09.03.2023, Ra 2022/19/0317, hinzuweisen, der zur Bestimmung der Heimatregion insb zu entnehmen ist, dass es vor allem darauf ankommt, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet ist. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat. Übertragen auf den gegenständlichen Fall kommt das erkennende Gericht zum Ergebnis, dass im syrischen Staatsgebiet engste Bindungen des BF zum Gouvernement Al-Hasaka vorliegen, weshalb als Heimatregion des BF auf das Gouvernement Al-Hasaka abzustellen war. Der BF gab zwar an zeitweise auch in Damaskus und Umgebung, wo aktuell seine Eltern, seine Frau und sein Kind leben (VH vom 16.10.2024, S 12f), und in A XXXX gelebt zu haben, doch gab der BF klar an, dass seine engsten Beziehungen zu Qamishli bestehen, sein Stamm sei von dort und es leben noch einige Verwandte dort. Würde in Syrien Ordnung und Sicherheit herrschen, würde der BF mit seiner Familie dort leben (VH vom 07.04.2025, S. 5).
2.4. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen stützen sich auf die auszugsweise wiedergegebenen und unter Punkt 2.1 genannten aktuellen Länderberichte zu Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes. Das durch den Machtwechsel teilweise überholte LIB vom 27.03.2024 wurde dort zitiert, wo sich trotz dieses Machtwechsels keine wesentlichen Änderungen ergeben hat und daher nach wie vor von einer Aktualität auszugehen ist oder wo es um einen Vergleich mit der Situation vor dem Machtwechsel geht.
Dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach derzeit nur unzureichende Länderinformationen vorliegen würden, ist entgegenzuhalten, dass der gegenständlichen Entscheidung aktuelle Länderinformationen zugrunde gelegt und auch die neusten Entwicklungen im Herkunftsstaat ausreichend berücksichtigt wurden. Angesichts der Aktualität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf verschiedene voneinander unabhängigen dort wiedergegeben Quellen beruhen und ein übereinstimmendes, in sich schlüssiges und nachvollziehbares Gesamtbild liefern, besteht für den erkennenden Richter kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.
Der Volatilität der Entwicklungen und der prekären allgemeinen Sicherheitslage wurde dahingehend Rechnung getragen als dem Beschwerdeführer bereits von der belangten Behörde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zugesprochen und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde. Dies, da die aktuelle Sicherheitslage in Syrien keine ausreichende Stabilität aufweist.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zu Spruchpunkt A)
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).
Um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erreichen, müssen konkrete, gegen den Asylwerber selbst gerichtete Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht werden (VwGH 12.12.2024, Ra 2024/19/0239). In diesem Zusammenhang hat der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darzustellen. Nichtsdestoweniger muss das Vorbringen des Asylwerbers, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472). Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).
Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).
3.1.2. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat zurechenbar sein. Einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 14.10.2024, Ra 2024/20/0491).
3.1.3. Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).
3.1.4. Wie festgestellt, existiert das syrische Regime unter Präsident Assad seit dem Umsturz im Dezember 2024 nicht mehr. Eine Verfolgung seitens des nicht mehr herrschenden Regimes ist daher nicht anzunehmen. Wohlbegründete Furcht hinsichtlich einer behaupteten Verfolgung durch das syrische Regime ist daher ausgeschlossen.
Der behaupteten Verfolgung aufgrund der befürchteten Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Milizen ist entgegenzuhalten, dass der BF die Altersgrenze für die Pflicht zur Ableistung der Selbstverteidigungspflicht bereits überschritten hat.
Doch selbst für den Fall einer Rekrutierung durch die SDF ist darauf zu verweisen, dass aus dem Umgang der kurdischen Milizen mit Personen, die sich dem Dienst in ihren Selbstverteidigungskräften entziehen, nicht abzuleiten ist, dass diese Wehrtdienstverweigerern eine oppositionelle politische Überzeugung unterstellt.
3.1.5. Wie beweiswürdigend ausgeführt, war dem Vorbringen die Familie seiner Ehefrau bedrohe den BF, da er diese gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet habe, sowie einer daraus resultierenden Verfolgung kein Glauben beizumessen. Selbst in jenem Fall, dass sich der Vorfall wie vom BF geschildert zugetragen haben sollte, kann in einem Familienkonflikt (wie bspw. einer Blutfehde) kein Zusammenhang zu einem Konventionsgrund erkannt werden, sodass die Gefahr asylrelevanter Verfolgung auch dann nicht vorläge (Vgl. EuGH vom 27.03.2025 in der Rs C-217/23).
3.1.6.In der Stellungnahme vom 14.02.2025 brachte der BF lediglich vor, dass ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde. Weitere Ausführungen, die dies substanziell belegen, brachte der BF nicht vor. Zudem befindet sich der Herkunftsort des BF nicht im Einfluss- und Kontrollbereich der HTS, sondern im Einfluss- und Kontrollbereich der Kurden. Eine Rekrutierung oder Verfolgung durch die HTS kann dem BF schon allein mangels Zugriffs nicht drohen.
Auch aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa oder im Zusammenhang mit seiner Asylantragstellung kann keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu prognostizierende, individuelle und konkret gegen den BF gerichtete Verfolgung aus einem in der GFK genannten Grund abgeleitet werden. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die derzeitigen Machthaber aus der Tatsache der Asylantragstellung oder des Aufenthalts im Ausland auf eine oppositionelle Gesinnung schließen, ruft der Übergangspräsident geflüchtete Syrier doch zur Rückkehr in die Heimatregion auf.
3.1.7. Auch sonst ist im Verfahren nicht hervorgekommen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus einem der Gründe nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK vorliegen. Da sich der BF nach eigenen Angaben nicht politisch gegenüber den Kurden oder der HTS betätigte, konnte gegenständlich kein asylwürdiger Flucht- bzw Verfolgungsgrund glaubhaft gemacht werden. Schon der Mangel eines kausalen Zusammenhanges mit einem oder mehreren Konventionsgründen schließt die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten aus (VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001), mwN).
Abschließend ist festzuhalten, dass einer allgemeinen Gefährdung des BF durch die derzeitige Lage in Syrien bereits mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG 2005 durch das BFA Rechnung getragen wurde (VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619).
Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A) wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die geltende Rechtslage unverändert übertragbar.