Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser und die Hofräte Mag. Brandl sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2024, Zl. W134 2279696 1/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M A in G, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum und Mag. a Andrea Blum, Rechtsanwalt und Rechtsanwältin in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird infolge Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Mit Bescheid vom 21. August 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Amtsrevisionswerberin) den Antrag des Mitbeteiligten, eines syrischen Staatsangehörigen, auf internationalen Schutz vom 2. August 2022 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Mitbeteiligten jedoch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.), und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).
2 Die Amtsrevisionswerberin stellte darin fest, die Heimatregion des Mitbeteiligten sei Ma´arrata in der Provinz Aleppo, in die der Mitbeteiligte auf Grund der Rekrutierung seines Bruders aus seiner ursprünglichen Herkunftsregion vertrieben worden sei und wo er mit Unterbrechungen sechs Jahre aufhältig gewesen sei, er einer Beschäftigung nachgegangen sei und wo sich seine Ehefrau und seine Kinder nach wie vor aufhalten würden. Die Heimatregion bzw. der letzte gewöhnliche Aufenthaltsort des Mitbeteiligten stünden aktuell nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung. Die Heimatregion sei über einen der nicht von der syrischen Regierung kontrollierten Grenzübergänge über die Türkei oder dem (kurdischen) Irak grundsätzlich ohne Verfolgung erreichbar. In seiner Heimatregion bestehe für den Mitbeteiligten keine maßgebliche Gefahr durch die syrische Regierung zwangsrekrutiert oder wegen unterstellter politischer Gesinnung verfolgt zu werden sowie zwangsweise zum Militärdienst eingezogen oder durch die, die Heimatregion bzw. den letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort kontrollierenden Gruppen verfolgt zu werden.
Rechtlich verneinte die Amtsrevisionswerberin die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten, weil der Mitbeteiligte in seiner Herkunftsregion nicht der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt sei.
3 Der gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis statt, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu, stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (Spruchpunkt A), und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
4 Das Verwaltungsgericht stellte soweit im Revisionsverfahren wesentlich zum Teil disloziert im Rahmen der Beweiswürdigung folgenden Sachverhalt fest:
Der Mitbeteiligte habe zuletzt in der Provinz Idlib gelebt. Er könne nur über die Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes seien (wie jene zum Libanon oder über den Flughafen in Damaskus), sicher und legal nach Syrien zurückkehren. Seine Herkunftsregion wäre für den Mitbeteiligten nicht erreichbar, ohne dass er am Weg dorthin Gefahr liefe an Checkpoints verhaftet und im Anschluss wegen seiner (unterstellten) oppositionellen Gesinnung gefoltert oder gar getötet zu werden.
Er befinde sich mit 24 Jahren im Wehrdienstalter. Er habe seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet und sei von diesem auch nicht befreit. Im Falle einer Rückkehr bestehe für den Mitbeteiligten die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden. Er lehne den Militärdienst ab. Im Fall einer Weigerung würde er zumindest mit Gefängnishaft, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre, bestraft werden. Die syrische Regierung betrachte Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen. Die Ausreise und die dadurch bewirkte Entziehung von der Ableistung des Wehrdienstes werde von der syrischen Regierung als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen. Wehrdienstverweigerer oder Deserteure seien Ziel der umfassenden Anti Terror Gesetzgebung der syrischen Regierung. Im Übrigen liefe der Mitbeteiligte im Fall einer Rekrutierung auch Gefahr als Mitglied der syrischen Armee an der Begehung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu werden.
Rechtlich beurteilte das Verwaltungsgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, dass für den Mitbeteiligten im Falle seiner Rückkehr aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung eine asylrelevante Verfolgungsgefahr bestehe, weil er sich durch seine Ausreise dem syrischen Militärdienst, in dessen Rahmen er zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen (wie Angriffen auf die Zivilbevölkerung) gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht werden würde, entzogen habe und somit als politischer Gegner des syrischen Regimes angesehen werden würde.
Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht zusammengefasst mit dem Nichtvorliegen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG.
5 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses. In der nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof eingebrachten Revisionsbeantwortung beantragte der Mitbeteiligte die Zurück in eventu Abweisung der Amtsrevision gegen Aufwandersatz.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Die Amtsrevision ist im Hinblick auf das in ihrem Zulässigkeitsvorbringen dargelegte Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von näher dargestellter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Erreichbarkeit der Herkunftsregion des Mitbeteiligten und den sich daraus ergebenden Begründungsmängel zulässig; sie ist auch berechtigt.
7 Das Verwaltungsgericht stützt die von ihm angenommene Gefahr einer asylrechtlich relevanten Verfolgung des Mitbeteiligten durch das syrische Regime wegen Wehrdienstverweigerung im Wesentlichen darauf, dass der Mitbeteiligte nach Syrien nur über Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes seien, legal zurückkehren könne.
8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es demgegenüber aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf an, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers (hier: des syrischen Regimes) legal stattfindet, sondern nur, ob die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise in das sichere Gebiet zulassen (vgl. etwa jüngst VwGH 10.6.2024, Ra 2024/01/0003, Rn. 13, mit Hinweis auf VwGH 29.2.2024, Ra 2024/18/0043).
9 Ausgehend von der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Voraussetzungen der Erreichbarkeit seiner Herkunftsregion für den Mitbeteiligten hat das Verwaltungsgericht keine hinreichenden Feststellungen zur Herkunftsregion des Mitbeteiligten, der Frage der Kontrolle des syrischen Regimes über diese Region bzw. zur Frage der sicheren Erreichbarkeit dieser Region getroffen und sich nicht mit den dazu im erstinstanzlichen Bescheid der Amtsrevisionswerberin getroffenen (konkreten) Feststellungen bzw. den diesbezüglichen beweiswürdigenden Erwägungen auseinandergesetzt.
10 In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht, wenn es von einer Entscheidung der Amtsrevisionswerberin abweichen will, gehalten ist, auf die beweiswürdigenden Argumente der Amtsrevisionswerberin einzugehen und nachvollziehbar zu begründen hat, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. etwa wiederum VwGH 2024/01/0003, Rn. 10, mwN).
11 Das Verwaltungsgericht hat somit aufgrund einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung bereits die von ihm angenommene Gefahr der Zwangsrekrutierung des Mitbeteiligten nicht tragfähig begründet.
12 Im Übrigen stellt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen wie etwa der Anwendung von Folter jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein. Die Prüfung, ob ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz wie vorliegend in Bezug auf die Wehrdienstverweigerung besteht, hat dabei nach den individuellen Umständen des Einzelfalls zu erfolgen. (vgl. zu alldem jüngst VwGH 12.3.2024, Ra 2024/01/0052 bis 0054, Rn. 10, 11, mwN). Die Behauptung einer Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung ist individuell im Hinblick auf das auf die konkrete Person des Mitbeteiligten bezogene Vorbringen zu prüfen und es sind entsprechende Feststellungen zu treffen (vgl. etwa VwGH 28.2.2024, Ra 2023/20/0619, Rn. 25).
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher aufgrund der genannten auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung gründenden Feststellungsmängel wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 25. Juli 2024