JudikaturJustiz10ObS82/22i

10ObS82/22i – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. Januar 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Schober (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. H*, vertreten durch Hochsteger, Perz und Wallner, Rechtsanwälte in Hallein, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1081 Wien, Josefstädterstraße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens  AZ 18 Cgs 137/17f des Landesgerichts Salzburg, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Mai 2022, GZ 11 Rs 24/22m-9, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 17. März 2022, GZ 18 Cgs 8/22t-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Die Revisionsrekursbeantwortung wird zurückgewiesen.

II. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung über den Rekurs an das Rekursgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die vom Kläger begehrte Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 18 Cgs 137/17f des Landesgerichts Salzburg (künftig: Vorverfahren). Im Revisionsrekursverfahren geht es ausschließlich um die Frage, ob die am 18. Jänner 2022 erhobene Wiederaufnahmeklage rechtzeitig ist.

[2] Im Vorverfahren hatte der Kläger von der (damaligen) Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter eine Versehrtenrente mit der Begründung begehrt, wegen seiner am 16. Mai 2014 überraschend und unberechtigt erfolgten Suspendierung eine schwere depressive Symptomatik bis zur Dienstunfähigkeit entwickelt zu haben. Die Suspendierung sei als Dienstunfall zu betrachten.

[3] Dieses Klagebegehren wurde mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 11. Juli 2018 abgewiesen und erwuchs nach erfolgloser Berufung am 8. Jänner 2019 in Rechtskraft. Im Vorverfahren hatte das Erstgericht aufgrund eines medizinischen Sachverständigengutachtens festgestellt, dass beim Kläger zwar vorübergehend ein Zustand nach akuter Belastungsreaktion vorgelegen habe, zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz aber keine medizinischen Folgen der Vorfälle im Zuge seiner Suspendierung am 16. Mai 2014 mehr bestanden hätten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers habe für die Dauer seiner Suspendierung (bis 27. Juli 2014) 20 %, daran anschließend bis 30. September 2015 (dem Datum seiner Pensionierung) 10 % und dann 0 % betragen.

[4] Die vorliegende – zu Recht gegen die „bvaeb“ gerichtete (§ 168a Abs 1 B KUVG) – Wiederaufnahmeklage stützt der Kläger darauf, dass er aus Anlass der Verlängerung seines Behindertenpasses vom Sachverständigen des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen, Dr. * W*, erneut untersucht worden sei. Anders als der im Vorverfahren tätige (gerichtliche) Sachverständige sei Dr. W* in seinem Gutachten vom 23. November 2021 (in der Folge nur mehr: Gutachten) zum Ergebnis gelangt, dass bei ihm eine Behinderung im Ausmaß von 70 % vorliege. Das Gutachten sei ihm am 24. Dezember 2021 zugegangen und stelle ein neues Beweismittel iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO dar, dessen Benützung im Vorverfahren zu einer für ihn günstigeren Entscheidung geführt hätte.

[5] Die Beklagte hielt dem im Wesentlichen entgegen, dass das Gutachten Dris. W* schon deshalb keinen tauglichen Wiederaufnahmegrund darstelle, weil für das dort beurteilte Ausmaß einer Behinderung nach dem BeinStG bzw der Einschätzungsverordnung gänzlich andere Kriterien maßgeblich seien als für den im Vorverfahren zu prüfenden Anspruch auf Versehrtenrente. Das Gutachten lasse daher von vornherein keine Rückschlüsse darauf zu, ob die Voraussetzungen für den Bezug einer Versehrtenrente im Vorverfahren zu Recht oder zu Unrecht verneint worden seien.

[6] Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmeklage nach Zustellung an die Beklagte (aber vor Anberaumung einer Tagsatzung) zurück. Es führte zusammengefasst aus, dass sich die Beurteilungsgegenstände des Gutachtens des im Vorverfahren erstatteten Sachverständigengutachtens deutlich unterscheiden würden. Während sich letzteres nur auf die Auswirkungen des Ereignisses vom 16. Mai 2014 bezogen habe, komme es für die Verlängerung des Behindertenpasses auf sämtliche Einschränkungen eines Menschen an, unabhängig davon, ob sie im Zusammenhang mit einem konkreten Ereignis stünden. Ein neues Beweismittel, das eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen könne, liege zudem nicht schon dann vor, wenn ein anderer Sachverständiger später ein abweichendes Gutachten erstatte. Dafür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände, die der Kläger aber nicht behaupte. Das Gutachten stelle daher keinen tauglichen Wiederaufnahmegrund dar.

[7] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verwarf die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe und führte aus, dass die Wiederaufnahmeklage schon mangels Rechtzeitigkeit zutreffend zurückgewiesen worden sei. Denn der Kläger habe schon mit Klage vom 6. August 2021 die Wiederaufnahme des Vorverfahrens begehrt und sich dabei (unter anderem) auf ein Gutachten Dris. W* vom 24. Jänner 2019 (künftig kurz: Vorgutachten) bezogen, in dem dieser den Gesamtgrad der Behinderung des Klägers ebenfalls mit 70 % eingeschätzt habe. Im nunmehrigen Gutachten verweise Dr. W* auf dieses Vorgutachten und halte fest, dass seither keine Änderungen eingetreten seien. Dem Kläger sei der Gesamtgrad seiner Behinderung somit schon seit dem Vorgutachten (vom 24. Jänner 2019) bekannt gewesen, sodass der Lauf der Notfrist des § 534 Abs 1 ZPO bereits mit dessen Kenntnis begonnen habe. Die Wiederaufnahmeklage sei daher verspätet, sodass eine weitere inhaltliche Befassung mit der Mängel- und Rechtsrüge nicht mehr notwendig sei. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu.

[8] In seinem dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs begehrt der Kläger, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen. Hilfsweise strebt er die Zurückverweisung der Sache an das Rekursgericht an.

Rechtliche Beurteilung

[9] I. Nach der ständigen Rechtsprechung fallen Zurückweisungsbeschlüsse nach § 538 Abs 1 ZPO nicht unter eine der Ausnahmen des § 521 Abs 1 Satz 2 ZPO (RIS-Justiz RS0122036). Für die ihr vom Obersten Gerichtshof – aufgrund der hier gegebenen Zweiseitigkeit des Rechtsmittelverfahrens (8 Ob 5/20y; 3 Ob 128/19y ua) – freigestellte Beantwortung des Revisionsrekurses stand der Beklagten daher nur eine Frist von 14 Tagen offen (§ 521a Abs 1 Satz 2 ZPO). Angesichts der Zustellung der Mitteilung nach §§ 528 Abs 3 iVm 508a Abs 2 ZPO am 24. November 2022 ist die erst am 13. Dezember 2022 eingebrachte Revisionsrekursbeantwortung der Beklagten verspätet und daher zurückzuweisen.

[10] II. Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Umfang des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[11] 1. Voranzustellen ist, dass der Rechtsmittelzug bei Wiederaufnahmeklagen nicht anders gestaltet ist, als im wiederaufzunehmenden Verfahren (RS0116279; RS0044087 [T1] ua). Die Zulässigkeit des Rechtsmittels hängt hier somit weder von einer Bewertung ab (§ 502 Abs 5 Z 4 ZPO), noch ist der angefochtene, die Zurückweisung der Wiederaufnahmeklage aus formellen Gründen bestätigende Beschluss nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO absolut unanfechtbar (RS0125126 [T2]; RS0116279; RS0023346 [T13] ua).

[12] 2. Wenn der Kläger erneut auf die schon im Rekurs geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zurückkommt, ist darauf nicht einzugehen. Ihr Vorliegen wurde vom Rekursgericht geprüft und verneint, sodass sie nicht erneut an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden können (RS0042981 [T2, T23]; RS0043405 [T32] ua). Das kann auch nicht durch die – hier ansatzweise erhobene – Behauptung umgangen werden, das Rekursgericht sei auf bestimmte Argumente nicht (ausreichend) eingegangen oder es sei ihm (deshalb) selbst eine Nichtigkeit unterlaufen (RS0042981 [T7, T22]; RS0043405 [T3]).

[13] 3. Demgegenüber rügt der Kläger im Ergebnis zu Recht, dass die Ansicht des Rekursgerichts zur Verspätung der Wiederaufnahmeklage einer Prüfung nicht standhält.

[14] 3.1. Die Wiederaufnahmeklage ist gemäß § 534 Abs 1 ZPO binnen der Notfrist von vier Wochen zu erheben und hat nach § 536 Z 3 ZPO unter anderem die Angabe der Umstände zu enthalten, aus denen sich die Einhaltung der gesetzlichen Klagefrist ergibt (1 Ob 232/21f ua). Sie ist nicht nur bei erwiesener Verspätung, sondern bereits mangels Glaubhaftmachung ihrer Rechtzeitigkeit im Rahmen der Vorprüfung zurückzuweisen, weil dem Gesetz eine Vermutung der Rechtzeitigkeit fremd ist (RS0111662; RS0044613 [T2]).

[15] 3.2. Nach § 534 Abs 2 Z 4 ZPO beginnt die Frist im hier interessierenden Fall des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO (erst), wenn der Wiederaufnahmekläger Kenntnis von neuen Tatsachen und Beweismitteln mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad erlangt, der objektiv gesehen die Wiederaufnahme rechtfertigt (RS0044790 [T5]; 7 Ob 55/22x ua). Die Frist beginnt erst dann, wenn er die neuen Beweismittel so weit kennt, dass er ihre Eignung für ein allfälliges Verfahren auch prüfen kann; er muss in der Lage sein, einen form- und inhaltsgerechten Beweisantrag zu stellen (RS0044635 [insb T1]; 8 Ob 34/22s ua).

[16] 3.3. Im Licht dieser Grundsätze überzeugt die Ansicht des Rekursgerichts nicht. Selbst wenn dem Kläger der Gesamtgrad seiner Behinderung schon seit längerem bekannt gewesen sein sollte (vgl 4.), hat er die Wiederaufnahmeklage nicht auf diese (neue) Tatsache gestützt. Vielmehr will er mit dem Gutachten die Unrichtigkeit des im Vorverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens und die mangelnde Eignung des dort beigezogenen Sachverständigen dartun. Da das Gutachten kein von einem anderen – dem Kläger schon bekannten (neuen) – Beweismittel „abgeleitetes“ Beweismittel darstellt (vgl 1 Ob 232/21f; 3 Ob 186/04f), ist nicht ersichtlich, warum die Frist des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO nicht erst mit Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens beginnen sollte.

[17] Zudem geht das Rekursgericht anscheinend davon aus, dass das Gutachten deshalb keine neue Tatsache bzw kein neues Beweismittel ist, weil zwischen diesem und dem Vorgutachten ein inhaltlicher Zusammenhang besteht. Diese Ansicht könnte zwar allenfalls unter der Prämisse zutreffen, dass das Vorgutachten und das Gutachten auf derselben Befundgrundlage beruhen und nach der gleichen Methode erstellt wurden. Denn in diesem Fall wäre es bloß eine erneute Wiederholung der dem Kläger bereits bekannten Folgerungen Dris. W*, die ihm keine neuen Informationen (über die Richtigkeit des im Vorverfahren erstatteten Gutachtens oder die Eignung des dort tätigen Sachverständigen) vermitteln und demgemäß auch keine „neue“ Frist nach § 534 Abs 1 ZPO in Gang setzen hätte können. Diese Voraussetzung liegt hier aber schon deshalb nicht vor, weil das Gutachten auf einer neuerlichen Befundaufnahme (vom 12. November 2021) und damit einer anderen Sachverhaltsgrundlage beruht als das Vorgutachten. Dass trotz der anderen Ausgangslage die gutachterlichen Schlüsse ident sind, das Gutachten also zu keiner anderen diagnostischen Einschätzung und dem gleichen Grad der Behinderung gelangt, reicht für die Annahme, es sei keine neue Tatsache bzw kein neues Beweismittel iSd § 534 Abs 1 Z 7 ZPO, nicht aus.

[18] 4. Zusammenfassend liegt angesichts der unstrittig erst am 20. Dezember 2021 veranlassten Übermittlung des Gutachtens an den Kläger (und den zu erwartenden Postlauf) die vom Rekursgericht erstmals angenommene Verspätung nicht vor. Mangels Relevanz für dieses Ergebnis kann daher dahinstehen, dass das Rekursgericht bei seiner Entscheidung vermeintlich (vgl RS0111112 [T1]; RS0110714 [T1]) gerichtskundige Tatsachen (betreffend das Vorgutachten und die Wiederaufnahmeklage vom 6. August 2021) berücksichtigt hat, ohne das zuvor mit den Parteien zu erörtern (RS0040219 [T2, T3, T6]).

[19] 4.1. Zu prüfen ist daher, ob das Gutachten auch einen geeigneten Wiederaufnahmegrund darstellt . Diese Beurteilung ist derzeit allerdings nicht möglich, weil das Rekursgericht – ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht – die Mängelrüge des Klägers nur teilweise behandelt hat. Entscheidungsreif ist die Sache erst, wenn eine auf einem mängelfreien Verfahren beruhende Entscheidung vorliegt.

[20] 5. Soweit der Kläger noch die Entscheidung des Rekursgerichts im Kostenpunkt bekämpft, übergeht er, dass er dort Kosten gar nicht verzeichnet hat. Im Übrigen ist die zweitinstanzliche Kostenentscheidung auch in Sozialrechtssachen ausnahmslos unanfechtbar (RS0085813; 10 ObS 68/22f mwN).

[21] 6. Die Entscheidung des Rekursgerichts ist daher aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an dieses zurückzuverweisen.

[22] Im fortzusetzenden Rekursverfahren wird das Rekursgericht von der Rechtzeitigkeit der Wiederaufnahmeklage auszugehen und sich mit den bislang unbehandelten Rekursargumenten und der damit bekämpften Ansicht des Erstgerichts zu befassen haben, wonach das Gutachten kein tauglicher Wiederaufnahmegrund ist.

[23] Kosten wurden im Revisionsrekursverfahren nicht verzeichnet.

Rechtssätze
12