JudikaturVwGH

Ro 2024/08/0013 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
07. Oktober 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Posch sowie die Hofräte Mag. Stickler und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann Preschnofsky, über die Revision des DI (FH) P R, vertreten durch Mag. Dr. Dieter Rautnig, Rechtsanwalt in Graz, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juni 2024, G308 2281802 1/7E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Graz West und Umgebung), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1Mit Bescheid vom 8. September 2023 widerrief die zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) gemäß § 24 Abs. 2 iVm § 38 AlVG die Zuerkennung der Notstandshilfe an den Revisionswerber für den Zeitraum 1. Juli 2021 bis 30. November 2021 und verpflichtete den Revisionswerber gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe in der Höhe von € 7.603,37.

2 Die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 6. November 2023 als unbegründet ab. Begründend führte das AMS aus, wie sich aus einem beim Landesgericht für Strafsachen Graz geführten Strafverfahren ergebe, sei der Revisionswerber von Juli bis November 2021 einer selbständigen Tätigkeit, nämlich einem Handel mit gefälschten Impfpässen, nachgegangen. Nach Ermittlungen der Landespolizeidirektion Steiermark habe sein monatliches Einkommen ca. € 750,betragen. Der Behauptung des Revisionswerbers, wonach sein Zuverdienst unter der „Geringfügigkeitsgrenze“ gelegen wäre, könne daher nicht gefolgt werden. Der Revisionswerber sei daher nicht arbeitslos im Sinn von § 12 AlVG gewesen. Er habe seine selbständige Tätigkeit auch nicht gemeldet. Die Leistung sei daher zu widerrufen und der Revisionswerber zur Rückzahlung des unberechtigt empfangenen Bezuges zu verpflichten gewesen.

3 Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag. Er brachte im Beschwerdeverfahren vor, er habe gegenüber dem AMS keine unrichtigen Angaben gemacht. Ein Meldeverstoß liege ihm nicht zur Last. Sein Verdienst im verfahrensgegenständlichen Zeitraum sei weit unter der „Grenze der Geringfügigkeit“ gelegen. Das AMS sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, dass die diversionelle Erledigung des gegen ihn geführten Strafverfahrens für ein folgendes Verwaltungsverfahren Bindungswirkung entfalten könnte.

4 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte es für zulässig.

5 In seiner Entscheidungsbegründung stellte das Bundesverwaltungsgericht nach Wiedergabe des Verfahrensgangs fest, der Revisionswerber sei seit dem Jahr 2014 mit Unterbrechungen im Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung gestanden. Zuletzt habe er ab 18. September 2019 Notstandshilfe bezogen. Er habe dem AMS nicht gemeldet, dass er „quasi eine selbstständige Tätigkeit“ aufgenommen habe. Auch habe er sich nicht vom Bezug der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung abgemeldet.

6 Beweiswürdigend hielt das Verwaltungsgericht fest, die Feststellungen folgten aus einem mit der Aktenzahl bezeichneten Akt des Landesgerichtes für Strafsachen Graz. Das AMS habe „von der Beschäftigungsaufnahme“ durch die Erhebungen der Polizei bzw. des Gerichts erfahren. Der Revisionswerber habe nicht bestritten, „die Aufnahme der Tätigkeit nicht gemeldet zu haben“.

7In seinen rechtlichen Erwägungen führte das Bundesverwaltungsgericht aus, zu Unrecht bezogene Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung seien zu widerrufen und könnten auch im Einzelfall zurückgefordert werden. Nach § 50 Abs. 1 AlVG seien Bezieher einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung verpflichtet, die Aufnahme einer Tätigkeit im Sinn des § 12 Abs. 1 AlVG unverzüglich der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des AMS zu melden. Der zweite Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG betreffe das Verschweigen maßgebender Tatbestände und werde in der Regel durch die Verletzung der Meldepflichten nach § 50 AlVG erfüllt.

8 Der Revisionswerber sei während des Notstandshilfebezugs von Juni bis November 2021 „quasi selbstständig erwerbstätig“ gewesen. Er habe dem AMS „die Aufnahme einer (illegalen) Tätigkeit“ nicht gemeldet. Daran ändere auch das Vorbringen des Revisionswerbers nichts, „nur geringfügig beschäftigt gewesen“ zu sein. Auch die Arbeitslosigkeit nicht ausschließende „Beschäftigungen“ seien anzuzeigen, weil die Behörde nur dadurch in die Lage versetzt werde, die Anspruchsrelevanz der angezeigten „Beschäftigung“ zu beurteilen. Insofern komme es „auf die konkrete Höhe des erzielten Einkommens nicht an, abgesehen davon, dass im konkreten Fall die Geringfügigkeitsgrenze auch bei Zugrundelegung der korrigierte[n] Summe überschritten wäre“. Der Revisionswerber habe sohin durch die Verschweigung „maßgebender Tatbestände“ den Bezug einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung herbeigeführt. Die belangte Behörde habe daher im Ergebnis zu Recht die Zuerkennung der Notstandshilfe widerrufen und den Revisionswerber zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Leistung verpflichtet.

9 Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, „inwieweit eine diversionelle Erledigung durch das AMS zu berücksichtigen“ sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die ordentliche Revision. Im vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführten Vorverfahren erstattete das AMS eine Revisionsbeantwortung.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision knüpft zur Begründung ihrer Zulässigkeit an die vom Bundesverwaltungsgericht insoweit formulierte Rechtsfrage an und bringt vor, daraus, dass ein Beschuldigter in einem Strafverfahren ein Angebot auf eine Diversion angenommen habe, sei für ein folgendes verwaltungsbehördliches Verfahren nicht abzuleiten, dass die im Strafverfahren von den Strafverfolgungsbehörden vorgeworfene Tat tatsächlich begangen worden sei. Insoweit sei auch zu beachten, dass im gegen den Revisionswerber geführten gerichtlichen Strafverfahren kein Beweisverfahren durchgeführt und keine Feststellungen getroffen worden seien. In den Revisionsgründen wird ergänzend vorgebracht, der Revisionswerber habe sich im Strafverfahren wohl dazu schuldig bekannt, einzelne „Impfpässe“ verkauft zu haben. Er habe jedoch im verfahrensgegenständlichen Zeitraum nie ein die Grenze der Geringfügigkeit überschreitendes Einkommen erzielt.

12 Die Revision ist zulässig und im Ergebnis berechtigt.

13Die Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte sind gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG zu begründen. Diese Begründung hat, wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden (vgl. etwa VwGH 29.8.2024, Ra 2023/08/0121, mwN). Danach ist in der Begründung des Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichts in einer eindeutigen, die Rechtsverfolgung durch die Parteien ermöglichenden und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugänglichen Weise darzutun, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde gelegt wurde, aus welchen Erwägungen das Verwaltungsgericht zur Ansicht gelangte, dass gerade dieser Sachverhalt vorliege, und aus welchen Gründen es die Subsumtion dieses Sachverhaltes unter einen bestimmten Tatbestand als zutreffend erachtete. Sind die einen tragenden Teil der Begründung darstellenden Ausführungen für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar und somit nicht überprüfbar, so liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung der Entscheidung führt (vgl. etwa VwGH 8.5.2025, Ra 2024/07/0013, mwN). Angesichts ihrer sich aus Art. 130 BVG ergebenden Zuständigkeit werden die Verwaltungsgerichte ihrer Begründungspflicht nach § 29 VwGVG dann nicht gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgebenden Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie die rechtliche Beurteilung in den wesentlichen Punkten nicht aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 3.4.2025, Ra 2024/03/0027, mwN).

14 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Der Entscheidungsbegründung ist insbesondere nicht klar zu entnehmen, welche Sachverhaltsannahmen das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Tätigkeit, die vom Revisionswerber im verfahrensgegenständlichen Zeitraum ausgeübt wurde, seiner Entscheidung zugrunde legt.

15 Das Bundesverwaltungsgericht sieht insoweit (zumindest erkennbar) die im angefochtenen Erkenntnis selbst nicht näher bezeichnete„diversionelle Erledigung“ des gegen den Revisionswerber geführten Strafverfahrens als maßgeblich an. Im Akt des Bundesverwaltungsgerichts befindet sich dazu die Ausfertigung eines Beschlusses des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 29. Jänner 2024, mit dem ausgesprochen wurde, dass das gegen den Revisionswerber geführte Strafverfahren wegen des Vergehens des „schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs. 2 ua StGB“ nach Zahlung eines (näher genannten) Geldbetrages gemäß §§ 200 Abs. 5 iVm 199 StPO eingestellt werde.

16Es entspricht aber der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein Rücktritt von der Verfolgung (Diversion) nach dem 11. Hauptstück der StPO anders als eine rechtskräftige Verurteilung keine Bindungswirkung entfaltet. Die Verwaltungsbehörde (bzw. im Beschwerdeverfahren das Verwaltungsgericht) darf sich somit hinsichtlich des Vorwurfs einer im Verfahren relevantenStraftat nicht nur mit dem Hinweis auf die diversionelle Erledigung des diesbezüglichen Strafverfahrens begnügen, sondern ist verpflichtet, dazu eigene Feststellungen auf Grund eigener Beweiswürdigung zu treffen (vgl. VwGH 23.5.2006, 2004/11/0201, mwN; sowie aus jüngerer Zeit etwa VwGH 11.5.2023, Ra 2022/22/0077, mwN).

17 Die Revision ist daher in diesem Sinn damit im Recht, dass sich das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls nicht mit einem Verweis auf die diversionelle Erledigung des Strafverfahrens begnügen durfte, sondern verpflichtet gewesen wäre, selbst den entscheidungswesentlichen Sachverhalt wenngleich allenfalls unter Berücksichtigung polizeilicher und gerichtlicher Ermittlungsergebnisse aus dem Strafverfahren zu erheben und festzustellen.

18Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht auch die Voraussetzungen für den Widerruf bzw. (richtig, vgl. etwa VwGH 9.12.2020, Ro 2019/08/0012) die Einstellung der Notstandshilfe verkannt:

19Das AMS hat angenommen, dass die Voraussetzungen des Bezugs der Notstandshilfe (im Sinn von § 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 iVm § 38 AlVG) nicht erfüllt gewesen seien, weil der Revisionswerber aufgrund der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach § 12 Abs. 3 lit. b und Abs. 6 lit. c AlVG von Juli bis November 2021 nicht arbeitslos gewesen sei.

20Nach § 12 Abs. 3 lit. b AlVG gilt insbesondere nicht als arbeitslos, wer selbständig erwerbstätig ist. Als arbeitslos gilt nach § 12 Abs. 6 lit. c AlVG jedoch, wer selbständig erwerbstätig ist bzw. selbständig arbeitet und daraus ein Einkommen gemäß § 36a AlVG erzielt oder im Zeitraum der selbständigen Erwerbstätigkeit bzw. der selbständigen Arbeit einen Umsatz gemäß § 36b AlVG erzielt, wenn weder das Einkommen zuzüglich Sozialversicherungsbeiträge, die als Werbungskosten geltend gemacht wurden, noch 11,1 vH des Umsatzes die im § 5 Abs. 2 ASVG angeführten Beträge übersteigt.

21§ 12 Abs. 6 lit. c AlVG stellt zur Beurteilung, ob trotz Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit (§ 12 Abs. 3 lit. b AlVG) Arbeitslosigkeit vorliegt, somit einerseits auf die Höhe des Einkommens gemäß § 36a AlVG sowie andererseits auf den Umsatz gemäß § 36b AlVG ab (vgl. näher etwa VwGH 28.11.2023, Ro 2023/08/0010, mwN). Es bedurfte daher konkreter Feststellungen zum im verfahrensgegenständlichen Zeitraum Juli bis November 2021 aus der Tätigkeit vom Revisionswerber erzielten Einkommen bzw. Umsatz, um beurteilen zu können, ob die Tätigkeit die Arbeitslosigkeit ausgeschlossen hat.

22 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dagegen sowohl hinsichtlich des Widerrufs als auch der Rückforderung der Leistung bloß darauf gestützt, dass der Revisionswerber seine Meldepflicht gegenüber dem AMS verletzt habe, indem er seine Tätigkeit nicht bekannt gegeben habe, und festgehalten, dass es auf die Höhe des erzielten Einkommens bzw. das Überschreiten der „Geringfügigkeitsgrenze“ nicht ankäme.

23Mit diesen Ausführungen wird auf den Rückforderungstatbestand der Verschweigung maßgebender Tatsachen nach § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG Bezug genommen (vgl. zur diesem Tatbestand zuletzt etwa VwGH 28.8.2024, Ra 2024/08/0080, mwN). Die Entscheidung über die Rückforderung der Leistung nach § 25 AlVG setzt aber die Einstellung, die Herabsetzung, den Widerruf oder die Berichtigung der Leistung voraus (vgl. VwGH 18.8.2022, Ra 2021/08/0082, mwN). Vom Bundesverwaltungsgericht wäre dazu vor Beurteilung der Berechtigung der Rückforderung zu prüfen gewesen, ob dem Revisionswerber die Leistung im verfahrensgegenständlichen Zeitraum Juni bis November 2021 zugestanden ist, wofür wie dargestellt das Vorliegen einer die Arbeitslosigkeit in Hinblick auf die Höhe des Einkommens bzw. des Umsatzes ausschließenden Tätigkeit maßgeblich war.

24Da das Bundesverwaltungsgericht somit die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

25 Von der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG abgesehen werden.

26Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. Oktober 2025