Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher, Hofrat Dr. Schwarz sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des G U, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 25. November 2021, LVwG 752257/2/BP/CK, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid vom 30. Juli 2021 nahm die belangte Behörde (Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz) das hinsichtlich des Erstantrags des Revisionswerbers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom 16. Mai 2018 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ (§ 46 Abs. 1 Z 2 lit. b Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz [NAG]) rechtskräftig positiv abgeschlossene Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 3 AVG (wegen Erschleichens des betreffenden Aufenthaltstitels) von Amtswegen wieder auf. Unter einem wurden der Erstantrag des Revisionswerbers vom 16. Mai 2018 (u.a.) gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 iVm. § 30 NAG abgewiesen sowie dessen Verlängerungsantrag vom 29. Mai 2019 mangels Vorliegens eines gültigen Aufenthaltstitels zurückgewiesen.
2 In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde trat der Revisionswerber der Auffassung der belangten Behörde entgegen, der zufolge es sich bei der von ihm mit X, einer türkischen Staatsangehörigen, die über eine „Rot Weiß Rot Karte plus“ verfügt habe, am 13. April 2018 in Oberösterreich geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde im Beschwerdeschriftsatz ausdrücklich beantragt.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 25. November 2021 wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit einer hier nicht weiter relevanten Maßgabe als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
4 Das Verwaltungsgericht stellte fest, X sei von 20. April bis 18. September 2018 mit Nebenwohnsitz an der Adresse des Revisionswerbers gemeldet gewesen. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Linz vom 11. Dezember 2018 sei die Ehe geschieden worden. Laut Scheidungsbeschluss sei die eheliche Lebensgemeinschaft bereits zum damaligen Zeitpunkt seit mindestens einem halben Jahr aufgehoben gewesen. Im Beschluss des Bezirksgerichts Wels vom 29. April 2021, mit dem das gegen den Revisionswerber sowie gegen X wegen § 117 Abs. 1 iVm. Abs. 4 Fremdenpolzeigesetz 2005 (FPG) bzw. wegen § 117 Abs. 1 FPG (Eingehens einer Aufenthaltsehe) geführte Strafverfahren gemäß §§ 198, 199 sowie § 200 Abs. 5 StPO („diversionell“) eingestellt worden sei, sei festgehalten worden, dass der Revisionswerber sowie X das Vergehen des Eingehens einer Aufenthaltsehe begangen hätten und sie in der Hauptverhandlung die Verantwortung für die ihnen vorgeworfenen Taten übernommen hätten.
5 Der festgestellte Sachverhalt ergebe sich „schlüssig“ aus dem Verwaltungsakt sowie der Beschwerde. Die Annahme, der Revisionswerber hätte wie er in einer seiner Stellungnahmen im verwaltungsbehördlichen Verfahren ausgeführt habe X aus Liebe geheiratet, widerspräche der Aktenlage zur Gänze.
Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf § 24 Abs. 4 VwGVG. Vorliegend ließen die Akten erkennen, dass eine weitere Erörterung der Rechtssache „ergebnisneutral“ wäre. Zudem stünden Art. 6 EMRK sowie Art. 47 GRC dem Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht entgegen.
6 In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das Verwaltungsgericht fest, der Revisionswerber habe sich bei seinem Erstantrag vom 16. Mai 2018 auf die Ehe mit X gestützt, obwohl er mit ihr nie ein Familienleben im Sinn von Art. 8 EMRK, sondern eine Aufenthaltsehe geführt habe. In diesem Zusammenhang verwies das Verwaltungsgericht erneut auf den im Strafverfahren ergangenen Einstellungsbeschluss des Bezirksgerichts Wels vom 29. April 2021. Im Übrigen so das Verwaltungsgericht weiter fügten sich auch die Tatsachen, dass X lediglich in dem oben genannten Zeitraum an der Adresse des Revisionswerbers mit Nebenwohnsitz gemeldet gewesen sei und die eheliche Lebensgemeinschaft laut Scheidungsbeschluss vom 11. Dezember 2018 bereits damals seit mindestens einem halben Jahr aufgehoben gewesen sei, stimmig in die vom Revisionswerber übernommene Verantwortung hinsichtlich des Eingehens einer Aufenthaltsehe ein.
Die Angaben des Revisionswerbers zu seiner Ehe mit X anlässlich seines Antrags vom 16. Mai 2018 habe die belangte Behörde ihrer Entscheidung über die Erteilung des in Rede stehenden Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ als inhaltlich richtig zugrunde gelegt. Zum Zeitpunkt der Erteilung dieses Aufenthaltstitels hätten für die belangte Behörde auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe bestanden. Somit seien ihr keine weiteren Ermittlungen „zuzumuten“ gewesen. Infolgedessen seien gegenständlich die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des in Rede stehenden Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG iVm. Abs. 3 AVG gegeben.
Weiters legte das Verwaltungsgericht mit näherer Begründung dar, weshalb seiner Auffassung nach auch die übrigen Aussprüche der belangten Behörde betreffend die Abweisung des Erstantrags sowie die Zurückweisung des Verlängerungsantrags des Revisionswerbers zu bestätigen gewesen seien.
7 In der gegen dieses Erkenntnis erhobenen - nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung einer vor dem Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (VfGH 28.2.2022, E 66/2022-5) - fristgerecht ausgeführten außerordentlichen Revision wird zur Zulässigkeit u.a. geltend gemacht, das Verwaltungsgericht habe gegen die Verhandlungspflicht verstoßen.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts erweist sich die Revision aus dem vom Revisionswerber dargestellten Grund unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
10 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG auf Antrag eine mündliche Verhandlung durchzuführen, welche der Erörterung der Sach- und Rechtslage sowie der Erhebung der Beweise dient. Als Ausnahme von dieser Regel kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Antrages gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt. Dies ist dann der Fall, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann, und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre (vgl. etwa VwGH 27.5.2021, Ra 2021/22/0067, Rn. 13, mwN).
11 Darüber hinaus betont der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt. Diese Rechtsprechung hat der Verwaltungsgerichtshof auch für die nach § 30 Abs. 1 NAG relevante Frage, ob Ehegatten ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führen oder nicht, anwendbar erachtet (siehe dazu etwa VwGH 20.10.2020, Ra 2020/22/0036, Rn. 9, mwN).
12 Im vorliegenden Fall wurde in der Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ausdrücklich beantragt. Die dem Bescheid der belangten Behörde zugrunde gelegte Feststellung, der Revisionswerber sei eine Aufenthaltsehe mit X eingegangen, stützte sich ausschließlich auf die Übernahme der Verantwortung durch den Revisionswerber für die ihm vorgeworfene Tat (Vergehen des Eingehens einer Aufenthaltsehe) in der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Wels bzw. auf den Inhalt des Beschlusses des Bezirksgerichts Wels vom 29. April 2021 betreffend die diversionelle Beendigung des Strafverfahrens.
13 Der aus diesen Umständen abgeleiteten Annahme der belangten Behörde, der Revisionswerber habe sich im gerichtlichen Strafverfahren geständig gezeigt, sodass jedenfalls vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe auszugehen sei, trat der Revisionswerber in seiner Beschwerde substantiiert entgegen, indem er zutreffend ausführte, dass sich weder aus dem auf der Anwendung der §§ 198, 199 sowie des § 200 Abs. 5 StPO beruhenden, keine Bindungswirkung entfaltenden Einstellungsbeschluss des Bezirksgerichts Wels vom 29. April 2021 noch aus dem Umstand, dass er aus welchen Gründen auch immer die Diversion als Mittel der Erledigung des gegen ihn geführten Strafverfahrens hingenommen habe, ohne Weiteres auf die Richtigkeit des gegen ihn erhobenen Tatvorwurfes schließen lasse und daher zu seinem im gegenständlichen verwaltungsbehördlichen Verfahren wiederholt erstatteten Vorbringen, wonach es sich gegenständlich um keine „Scheinehe“ gehandelt habe, ein entsprechendes Ermittlungsverfahren durchzuführen sei (vgl. VwGH 2.8.2017, Ra 2017/03/0067, Rn. 7 und 8, mwN; VwGH 7.5.2020, Ra 2019/03/0091, Rn. 19/20; vgl. etwa auch VwGH 11.12.2013, 2013/12/0073).
14 Zur Begründung des Beschlusses des Bezirksgerichts Linz vom 11. Dezember 2018 über die einvernehmliche Scheidung gemäß § 55a Ehegesetz, in der auf die seit mindestens einem halben Jahr aufgehobene Lebensgemeinschaft der Ehegatten verwiesen worden war, erstattete der Revisionswerber zudem bereits in seiner Stellungnahme vom 11. November 2019 ein ausführliches Vorbringen, das vom Verwaltungsgericht zu berücksichtigen gewesen wäre.
15 Betreffend das Vorliegen einer Aufenthaltsehe konnte das Verwaltungsgericht somit nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen. Anders als im angefochtenen Erkenntnis dargestellt ergab sich der entscheidungswesentliche Sachverhalt, nämlich insbesondere die Frage, ob zwischen dem Revisionswerber und X ein gemeinsames Familienleben tatsächlich geführt wurde oder nicht, keinesfalls „schlüssig“ aus dem Verwaltungsakt und der Beschwerde. Auch ließen die Akten nicht erkennen, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht habe erwarten lassen. Das Verwaltungsgericht hätte demnach nicht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.
16 Aus den dargestellten Gründen war das angefochtene Erkenntnis somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
17 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 11. Mai 2023