JudikaturJustiz13Os130/10g

13Os130/10g – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Dezember 2010

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Dezember 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jahn als Schriftführerin in der Strafsache gegen Mag. Eduard M***** und andere Beschuldigte wegen Verbrechen nach § 3g VG, § 12 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 8 St 49/10m der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, über die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 3. September 2010, AZ 21 Bs 242/10g (ON 87 des Ermittlungsaktes), von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und den Antrag des Betroffenen Österreichischer Rundfunk auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wachberger, des Vertreters des Betroffenen Hon. Prof. Dr. Korn sowie der Beschuldigten Mag. Eduard M*****, Kevin Ma***** und Philipp R***** zu Recht erkannt:

Spruch

1. In der Strafsache gegen Mag. Eduard M***** und andere Beschuldigte, AZ 8 St 49/10m der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 3. September 2010, AZ 21 Bs 242/10g, §§ 43 Abs 1 Z 1, 44 Abs 2 StPO.

2. In Stattgebung des Erneuerungsantrags wird festgestellt, dass der Österreichische Rundfunk im Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 MRK verletzt wurde. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 3. September 2010, AZ 21 Bs 242/10g, wird aufgehoben. Dem Einspruch des Österreichischen Rundfunks gegen die Anordnung der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vom 24. März 2010, GZ 8 St 49/10m-29, wegen Rechtsverletzung wird stattgegeben.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt führt zum AZ 8 St 49/10m gegen Mag. Eduard M*****, Kevin Ma***** und Philipp R***** ein Ermittlungsverfahren, und zwar gegen Mag. Eduard M***** wegen des Vergehens der Begünstigung nach § 299 Abs 1 StGB, gegen Philipp R***** wegen des Vergehens der Fälschung eines Beweismittels nach § 293 Abs 2 StGB und gegen sämtliche Beschuldigte wegen Verbrechen nach § 3g VG, § 12 zweiter Fall StGB.

Am 24. März 2010 ordnete sie an, das „gesamte bisher noch nicht sichergestellte für die ORF Dokumentation ‚Am Schauplatz, Am rechten Rand’ hergestellte Originalrohmaterial (Bild- und sämtliche Tonspuren)“ sicherzustellen (ON 29). Dem vom Österreichischen Rundfunk erhobenen Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 Abs 1 Z 2 StPO) gab das Landesgericht Wiener Neustadt am 16. Juli 2010 mit der Begründung statt, die Anordnung habe mit Bezug auf „noch nicht öffentlich ausgestrahltes Bild- und Tonmaterial“ § 31 MedienG verletzt (ON 79).

Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 3. September 2010, AZ 21 Bs 242/10g (ON 87), Folge und wies den Einspruch des nunmehrigen Erneuerungswerbers ab.

Nach dem Inhalt dieses Beschlusses besteht der Verdacht, Kevin Ma***** habe am 12. März 2010 in Wiener Neustadt im Zuge von Dreharbeiten für die vom Erneuerungswerber ausgestrahlte Fernsehreportage „Am Schauplatz Am rechten Rand“ bei einer Wahlkampfveranstaltung der F***** vor laufender Kamera „Sieg Heil“ gerufen. Das Film- und Tonmaterial sei über Anordnung der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt sichergestellt worden. Weitere Ermittlungen hätten jedoch auch gegen Philipp R***** den Verdacht ergeben, „vor laufender Kamera sowie anwesenden Mitgliedern des Produktionsteams und mehreren Bekannten die rechte Hand zum Hitlergruß erhoben und dazu ‚Sieg Heil’ oder ‚Heil Hitler’“ gerufen zu haben (ON 87 S 2). Mag. Eduard M***** wiederum stehe im Verdacht, er habe „die ‚Protagonisten’ seines Beitrags“ (gemeint: Kevin Ma***** und Philipp R*****) „mehrfach und zwar keineswegs beschränkt auf den 12. 3. 2010 zu verbotsgesetzrelevanten Handlungen und Äußerungen vor laufender Kamera zu bestimmen versucht“ (ON 87 S 6).

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss richtet sich eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes der Generalprokuratur. Der Österreichische Rundfunk wiederum begehrt Erneuerung des auf die Sicherstellung des Film- und Tonmaterials bezogenen Verfahrens unter Berufung auf eine Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 MRK. Da Zwangsmaßnahmen zur Sicherstellung des Film- und Tonmaterials nicht zu befürchten waren, hat der Oberste Gerichtshof von der Möglichkeit, den Vollzug der Sicherstellungsanordnung aus Anlass des Erneuerungsantrags zu hemmen (vgl RIS-Justiz RS0125705), keinen Gebrauch gemacht.

Beiden Rechtsbehelfen kommt Berechtigung zu.

Zur Nichtigkeitsbeschwerde:

§ 43 StPO („Ausgeschlossenheit von Richtern“) nennt eine Reihe von Umständen, deren Vorliegen zur Mangelhaftigkeit von Verfahrenshandlungen davon betroffener Richter führen kann. Nach Maßgabe des § 44 Abs 1 StPO hat sich der betroffene Richter „aller Handlungen zu enthalten“. Darüber hinaus steht allen Beteiligten des Verfahrens der Antrag auf Ablehnung eines Richters mit der Behauptung zu, dieser sei von einem Ausschließungsgrund betroffen (§ 44 Abs 3 StPO).

„Ein Richter, dem ein Ausschließungsgrund bekannt wird, hat diesen sogleich“ der von § 44 Abs 2 StPO benannten Person anzuzeigen. Das gilt bei Bekanntwerden eines allein ein Senatsmitglied betreffenden Ausschließungsgrundes auch für die anderen Mitglieder des Senats.

Nach § 43 Abs 1 Z 1 StPO bildet der Umstand, dass ein Angehöriger (§ 72 StGB) eines Richters „im Verfahren Staatsanwalt ist oder war“, einen Ausschließungsgrund.  Unter Angehörigen einer Person versteht § 72 Abs 1 StGB unter anderem deren Geschwister.

Vorliegend war Mag. Michaela S***** nach der Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichts Wien Mitglied des zur Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft berufenen Senats (ON 87 S 1). Sie ist nach dem aufklärenden Bericht des Vorsitzenden (§§ 292 erster Satz, 285 f StPO) die Schwester der Ersten Oberstaatsanwältin Mag. Ilse-Maria V*****, welche für die Oberstaatsanwaltschaft zur Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt Stellung genommen hatte (§ 24 StPO).

Jedes Mitglied des zur Beschwerdeentscheidung berufenen Senats des Oberlandesgerichts, dem neben dieser Verwandtschaft die Tatsache, dass Mag. Ilse-Maria V***** aufgrund ihrer Stellungnahme zur Beschwerde im Sinn des § 43 Abs 1 Z 1 StPO „Staatsanwalt ist oder war“, „bekannt“ wurde, war demnach durch § 44 Abs 2 StPO zur Anzeige dieses Mag. Michaela S***** betreffenden Ausschließungsgrundes verhalten (vgl Lässig , WK-StPO § 44 Rz 1, 7; bis zur Entscheidung über die Ausschließung [§ 45 StPO] hätte sich Mag. Michaela S***** zudem nach Maßgabe des § 44 Abs 1 StPO „aller Handlungen zu enthalten“ gehabt, soweit sie selbst vom Ausschließungsgrund Kenntnis erlangt hätte).

Wer nachträglich einen in Richterausgeschlossenheit bestehenden Verfahrensmangel geltend machen kann, braucht bei gerichtsnotorischem Vorliegen eines Ausschließungsgrundes nach § 43 Abs 1 Z 1 StPO dessen Bekanntwerden (§ 44 Abs 2 StPO) bloß zu behaupten. Darüber hinausgehendes Vorbringen zum Bekanntwerden dieses Ausschließungsgrundes (anderes gilt für denjenigen nach § 43 Abs 1 Z 3 StPO) zu verlangen, würde die Wirksamkeit der die gerichtliche Unparteilichkeit sichernden Vorschriften der StPO in Frage stellen und wäre rechtsstaatlich unerträglich.

Zwar reklamiert die Nichtigkeitsbeschwerde ausdrücklich bloß das Vorliegen , nicht auch das Bekanntwerden des Ausschlussgrundes (§ 44 Abs 2 StPO). Indem die Generalprokuratur ihre Anregung, die Feststellung der reklamierten Verletzung des § 43 Abs 1 Z 1 StPO (§ 292 fünfter Satz StPO) mit einer Beseitigung des angefochtenen Beschlusses zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO), durch Hinweis auf die Möglichkeit eines konkreten Nachteils für die Beschuldigten begründet, gibt sie jedoch deutlich genug zu erkennen, dass sie von einem Bekanntwerden des Ausschließungsgrundes im Sinn des § 44 Abs 2 StPO ausgeht.

Demnach war festzustellen, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 3. September 2010, AZ 21 Bs 242/10g, §§ 43 Abs 1 Z 1, 44 Abs 2 StPO verletzt, weil wenigstens einem Mitglied des Beschwerdesenats bekannt geworden sein könnte, dass mit Mag. Michaela S***** eine Schwester der Staatsanwältin, welche für die Oberstaatsanwaltschaft Wien nach § 24 StPO Stellung genommen hatte, nach der Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichts Wien zur Mitwirkung an der Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. Juli 2010 berufen war.

Zum Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens:

Da sich die Behandlung von Erneuerungsanträgen auf die Prüfung der reklamierten Verletzung eines Grundrechts beschränkt, Grundrechte aber in der Regel auf Verfassungsstufe stehen (vgl aber 14 Os 60/08t zu Art 54 SDÜ),  führt der Erfolg einer gleichzeitig erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, welche sich zumindest auch gegen die vom Erneuerungswerber behauptete Grundrechtsverletzung richtet, regelmäßig zur Beseitigung der Opfereigenschaft des Erneuerungswerbers (vgl Art 34 MRK).

Dass der Oberste Gerichtshof mit einer Prüfung der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes beginnt, folgt aus der damit verbundenen Möglichkeit zu sogenannter Feinprüfung unterhalb der Verfassungsstufe. Soweit der Erneuerungswerber durch die nach § 292 StPO getroffene Entscheidung unter dem Aspekt des von ihm geltend gemachten Grundrechtsschutzes vollends beschwerdefrei gestellt werden kann, erübrigt sich mithin eine Erledigung auch des Erneuerungsantrags. Der Erneuerungswerber kann daher auf die Erledigung der Nichtigkeitsbeschwerde verwiesen werden.

Anders, wenn sich die Generalprokuratur, wie hier, darauf beschränkt, einen von dem mit Erneuerungsantrag reklamierten Grundrecht unabhängigen Verfahrensmangel geltend zu machen und für den Fall der kassatorischen Entscheidung (§ 292 letzter Satz StPO) dem Gericht, an welches der Oberste Gerichtshof die Sache verweist, (unverbindliche) Vorschläge für die weitere Vorgangsweise macht. Bietet demgegenüber der Erneuerungsantrag dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit, nicht bloß über einen Verfahrensfehler, sondern verfahrensbeschleunigend sogleich in der Sache zu entscheiden, ist dessen inhaltliche Erledigung angebracht (§ 9 Abs 1  StPO).

Nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung bedarf es zur Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO keines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (RIS-Justiz RS0122229, RS0122737). Zu einem darauf gerichteten Antrag sind Personen berechtigt, welche vertretbar behaupten, durch die letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts in einem Grundrecht verletzt oder trotz Ausschöpfung des Instanzenzugs gegen eine durch Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht begangene Grundrechtsverletzung weiterhin deren Opfer zu sein (zum Schutz vor Grundrechtseingriffen durch Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft vgl 14 Os 60/09v, 63/09k, 64/09g, EvBl 2009/130, 866).

Die von § 363b Abs 2 Z 1 StPO genannte, in der Unterschrift eines Verteidigers bestehende Zulässigkeitsvoraussetzung hat den Obersten Gerichtshof mit Blick auf das bloß zwischen Anklägern und Beschuldigten (§ 38 Abs 3 StPO idF vor BGBl I 2004/19) differenzierende Verständnis des (von der Anpassungsgesetzgebung an das StPRefG unberührt gebliebenen) Erneuerungsverfahrens dazu veranlasst, Grundrechtsschutz nach § 363a StPO unter dem Aspekt als verletzt reklamierter Anklägerinteressen zu verneinen. Ankläger (zu denen neben Privatanklägern, Subsidiaranklägern und Privatbeteiligten etwa auch Antragsteller nach §§ 6 bis 7c und 9 f MedienG zählen) sind nicht antragslegitimiert, weil diese sich selbst nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers (BGBl 1996/762) keines Verteidigers bedienen konnten (§ 39 StPO idF vor BGBl I 2004/19). Personen, die als Ankläger von einer Grundrechtsverletzung betroffen sind, sollte unter dem Aspekt innerstaatlicher Umsetzung von Urteilen des EGMR (Art 46 MRK; zur nachträglich erkannten Lücke aufgrund veränderter Normsituation vgl 13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832) kein Recht auf Neudurchführung von strafgerichtlichen Verfahren eingeräumt werden (vgl RIS-Justiz RS0123644). Angesichts der vom historischen Gesetzgeber intendierten, weiterhin systemkonformen Schutzrichtung gilt nichts anderes für Opfer (§ 65 StPO) in dieser Eigenschaft. Deren Interesse wird durch die Zulässigkeit von Fortführungsanträgen (§ 195 StPO) ausreichend geschützt (vgl Weigend , „Die Strafe für das Opfer“? Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, RW 2010, 39).

Für andere von strafgerichtlicher Grundrechtsverletzung im vorstehend definierten Sinn Betroffene gelten diese Überlegungen jedoch nicht. Sie gelten auch nicht in Betreff des hier reklamierten Grundrechtsschutzes Dritter (vgl bereits 13 Os 162/07h, EvBl-LS 2008/31, 189; 14 Os 160/07x), für welche das Erfordernis der Verteidigerunterschrift demnach mit der Maßgabe gilt, dass von ihnen gestellte Anträge der Unterschrift einer im Sinn des § 48 Abs 1 Z 4 StPO zur Verteidigung befähigten Person bedürfen.  Da eine solche hier vorliegt, ist der Erneuerungsantrag zulässig (zur Parteifähigkeit der Erneuerungswerberin nach Art 34 MRK und zu deren Eigenschaft als Trägerin des geltend gemachten Konventionsrechts: EGMR 7. 12. 2006, Nr 35841/02, Österreichischer Rundfunk gg Österreich; vgl dazu allgemein: Rogge IntKomm EMRK Art 34 Rz 130 ff). Aus nachstehenden Gründen ist er überdies berechtigt.

Die von Art 10 Abs 1 MRK garantierte Freiheit der Meinungsäußerung ist nach übereinstimmender Auffassung von Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte und Oberstem Gerichtshof eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Unter dem grundrechtlichen Schutz stehen nicht nur „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder die als harmlos oder indifferent angesehen werden, sondern auch solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Dies verlangen Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine „demokratische Gesellschaft“ gibt. Nicht nur der Inhalt der Informationen, sondern auch die Form ihrer Darstellung wird geschützt (vgl schon 11 Os 25/93, SSt 61/138 = EvBl 1993/173; zuvor bereits 9 Os 18, 19/87, EvBl 1987/126).

Sicherstellung von einem Medium recherchierten Materials stellt einen Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 Abs 1 MRK dar, ist doch der Schutz der Vertraulichkeit journalistischer Quellen eine der Grundbedingungen der Pressefreiheit und bildet somit einen wesentlichen Bestandteil der konventionsrechtlichen Garantie. Ohne solchen Schutz könnten Quellen abgeschreckt werden, Medien dabei zu unterstützen, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu informieren („chilling effect“). Dies könnte zur Folge haben, dass die lebenswichtige öffentliche Funktion der Medien als „Wachhund“ („public watchdog“) beeinträchtigt und ihre Fähigkeit, präzise und verlässliche Informationen zu bieten, nachteilig berührt werden (EGMR 27. 3. 1996 [Große Kammer], Nr 17488/90, Goodwin gg Vereinigtes Königreich, ÖJZ 1996/28 [MRK]; 15. 12. 2009, Nr 821/03, Financial Times ua gg Vereinigtes Königreich, uva).

Die öffentliche Wahrnehmbarkeit eines Geschehens schließt darin enthaltene Informationen nicht von dem durch Art 10 Abs 1 MRK garantierten Schutz der Vertraulichkeit journalistischer Quellen aus (so schon Kommission 18. 1. 1996, Nr 25794/94, BBC gg Vereinigtes Königreich; jüngst: EGMR 14. 9. 2010 [Große Kammer], Nr 38224/03, Sanoma Uitgevers B.V. gg Niederlande, wo eine Verletzung von Art 10 MRK wegen fehlender gesetzlicher Grundlage [in ausreichender Qualität] im Zusammenhang mit der erzwungenen Herausgabe von Fotografien eines öffentlich wahrnehmbaren Geschehens festgestellt und gerade letzterer Aspekt ausdrücklich erörtert wurde [Z 60]).

Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, erlaubt Art 10 Abs 2 MRK bestimmte, vom Gesetz vorgesehene Einschränkungen, soweit diese in einer demokratischen Gesellschaft zur Wahrung bestimmter Interessen (hier: der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung) unentbehrlich sind.

Eine derartige gesetzliche Eingriffsbefugnis findet sich in den Vorschriften der StPO über die Sicherstellung aus Beweisgründen (§ 110 Abs 1 Z 1 StPO). Sie wird jedoch von dem durch § 31 MedienG garantierten „Schutz des Redaktionsgeheimnisses“ eingeschränkt. § 31 MedienG erfasst unter anderem ausnahmslos alles, was Medieninhabern, Herausgebern, Medienmitarbeitern und Arbeitnehmern eines Medienunternehmens oder Mediendienstes im Hinblick auf ihre Tätigkeit mitgeteilt wurde.

Indem die Vorschrift damit erheblich über das europäische Schutzniveau hinausgehend auf jede Abwägung gegen Interessen von „Aufrechterhaltung der Ordnung“ und „Verbrechensverhütung“ verzichtet, wird mit der Sicherstellung (§ 110 Abs 1 Z 1 StPO) von durch § 31 MedienG geschütztem Material das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung selbst dann verletzt, wenn das Film- oder Tonmaterial Aufschluss über schwere und schwerste Verbrechen geben könnte (zum ganz anderen Zugang des U.S. Supreme Court vgl BRANZBURG v. HAYES, 408 U.S. 665). Zwar gilt der Schutz des Redaktionsgeheimnisses nach § 144 Abs 3 erster Satz StPO nicht gegenüber Beschuldigten, jedoch nur, soweit diese „der Tat dringend verdächtig“ sind.

Fiel das von der Anordnung der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vom 24. März 2010 erfasste Film- und Tonmaterial demnach als Beweismittel unter den Schutz des § 31 MedienG, ohne dass Mag. Eduard M***** einer der ihm von der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt angelasteten Straftaten dringend verdächtig war, wurde durch die den Einspruch des betroffenen Österreichischen Rundfunks wegen Rechtsverletzung abweisende Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 3. September 2010 das Grundrecht des Erneuerungswerbers auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 MRK verletzt. Die Entscheidung des Gesetzgebers ist zu respektieren (Art 18 Abs 1 B-VG) und erübrigt eine Prüfung zusätzlicher Eingriffsbedingungen des Art 10 Abs 2 MRK.

Im Beschluss vom 3. September 2010 vertrat das Oberlandesgericht Wien unter Berufung auf zwei Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (6 Ob 130/06w, 15 Os 69/03) die Ansicht, nur vertrauliche Mitteilungen seien Gegenstand des Redaktionsgeheimnisses. Zur öffentlichen Ausstrahlung bestimmte Bild- und Tonaufnahmen seien damit ebenso wenig erfasst wie öffentlich wahrnehmbares Verhalten (ON 87 S 4 f).

6 Ob 130/06w enthält allerdings über den Schutz öffentlich wahrnehmbarer Mitteilungen oder Handlungen keine Aussage. 15 Os 69/03 wiederum hat Film- und Tonmaterial über strafbedrohte Handlungen im Zuge einer öffentlichen Demonstration vom Schutz des § 31 MedienG ausgenommen, jedoch keine Entscheidung darüber getroffen, ob der Gegenstand der Film- und Tonaufnahme als Mitteilung an eine der von § 31 Abs 1 MedienG genannten Personen zu werten war. Im vorliegenden Fall interessiert statt dessen die klare Unterscheidung, welche 15 Os 69/03 zwischen Inhalt einer Mitteilung und deren Verwendung gemacht hat. Sie zeigt, dass beabsichtigte Veröffentlichung der Mitteilung nichts an deren Schutz durch das Redaktionsgeheimnis ändert (vgl ErläutRV 2 BlgNR 20. GP, 43, wonach dieser unabhängig „von einer beabsichtigten oder bereits erfolgten Veröffentlichung“, also unabhängig von der Vertraulichkeit oder vertraulichen Behandlung der Mitteilung gelten sollte; vgl auch Berka , Das Recht der Massenmedien, 180 f).

Der unter Berufung auf die beiden Entscheidungen gezogene Schluss des Oberlandesgerichts, nur vertrauliche Mitteilungen seien Gegenstand des Redaktionsgeheimnisses, wird denn auch vom erkennenden Senat nicht geteilt. Er läuft auf die Annahme einer Ausnahmelücke im § 31 MedienG hinaus, ohne dass unter diesem Gesichtspunkt Anhaltspunkte für eine Planwidrigkeit der Vorschrift bestehen. Zwar enthält die Überschrift des § 31 MedienG den Begriff „Geheimnis“, was dazu verleiten kann, den Schutz der Bestimmung auf Umstände beschränkt zu sehen, die nur einem bestimmten, nicht allzu großen Kreis von Personen bekannt und anderen nicht oder nur schwer zugänglich, also „faktisch geheim“ sind (vgl SSt 9/57; L/St Komm 3 § 121 RN 16). Anders als Vorschriften, welche den Begriff „Geheimnis“ verwenden, ohne ihn zu definieren und so auf einen außerhalb der Vorschrift gelegenen Begriffsinhalt rekurrieren, stellt der Normtext des § 31 MedienG jedoch eine eigenständige Definition des in der Überschrift verwendeten Begriffs dar.

Ob das von der Sicherstellungsanordnung vom 24. März 2010 betroffene Film- und Tonmaterial von § 31 Abs 1 MedienG erfasst ist und daher nicht Gegenstand einer Sicherstellung aus Beweisgründen nach § 110 Abs 1 Z 1 StPO sein kann, hängt vielmehr ausschließlich vom Bedeutungsinhalt der aufgenommenen Äußerungen ab.

Nicht als geschützte Mitteilung sind Informationen zu qualifizieren, die eine der in § 31 Abs 1 MedienG genannten Personen gewinnt, ohne dass sie dieser im Hinblick auf ihre Tätigkeit von jemandem (bewusst) zugänglich gemacht wurden (vgl EGMR 8. 12. 2005, Nr 40485/02, Nordisk Film TV A/S gg Dänemark; Berka , Das Recht der Massenmedien, 181; Edinger , Selbst recherchiertes Filmmaterial als Schutzobjekt des Redaktionsgeheimnisses, JSt 2005, 145 [147 ff]; Rami in WK 2 § 31 MedienG Rz 8). Wird die Tatfrage (statt aller: 14 Os 118, 119/97, SSt 62/149) des Bedeutungsinhalts der Äußerung hingegen im umgekehrten Sinn beantwortet, liegt eine von § 31 Abs 1 MedienG erfasste Mitteilung vor.

Das Oberlandesgericht Wien ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass Kevin Ma***** und Philipp R***** stets im Bewusstsein handelten, Informationen für eine Fernsehreportage zu liefern (ON 87 S 1 f, 5 und 7). Dringlichkeit eines gegen Mag. Eduard M***** gerichteten Tatverdachts hat es nicht angenommen, sodass auch die von § 144 Abs 3 erster Satz StPO genannte Ausnahme vom Schutz des Redaktionsgeheimnisses nicht greift.

Um Dringlichkeit eines gegen Mag. Eduard M***** gerichteten Verdachts, er habe Kevin Ma***** oder Philipp R***** zu einer Betätigung im nationalsozialistischen Sinn bestimmt, bejahen zu können, hätte es übrigens nicht genügt, wenn er die Auftritte der beiden oder eines von ihnen vor der Kamera veranlasst hätte. Vielmehr wäre darzulegen gewesen, welche bestimmten Tatsachen die hohe Wahrscheinlichkeit einer Sachverhaltsannahme des Inhalts rechtfertigen, er habe Kevin Ma***** oder Philipp R***** solcherart zu Äußerungen mit der Eignung , (zumindest) eine der spezifischen Zielsetzungen der NSDAP zu neuem Leben zu erwecken oder zu propagieren ( Lässig in WK 2 VG § 3g Rz 4), veranlassen wollen, diese zur Erfüllung des Tatbestands nach § 3g VG notwendige Eignung also nicht nur (wertend) erkannt, sondern sich auch damit abgefunden (§§ 5 Abs 1, 7 Abs 1 StGB; Art I Abs 1 StRAG). Aus dem vom Oberlandesgericht angenommenen Zweck der Reportage, das Problem des Rechtsradikalismus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen (ON 87 S 5), kann ein solcher Wille ohne Willkür (vgl § 281 Abs 1 Z 5 StPO) jedenfalls nicht abgeleitet werden (vgl EGMR 23. 9. 1994, Nr 15890/89, Jersild gg Dänemark [Z 34 ff]).

Soweit das Oberlandesgericht zuletzt „ergänzend“ erwogen hatte, das Filmmaterial könnte unter dem Aspekt des § 110 Abs 1 Z 3 StPO als Produkt einer Straftat der Einziehung nach § 26 StGB unterliegen, wird nicht klar, welche mit Strafe bedrohte Handlung dadurch hätte verhindert werden sollen. Erwägungen zu einer von § 110 Abs 1 Z 1 StPO unabhängigen Rechtfertigung der Sicherstellungsanordnung bedarf es daher nicht (RIS-Justiz RS0121298).

Von einer Sicherstellung Betroffene können, was abschließend (wegen eines anderslautenden Hinweises der Generalprokuratur) angemerkt sei, auf das in § 112 StPO geregelte Verfahren auch zum Schutz des Redaktionsgeheimnisses zurückgreifen. Zwar stellt der Wortlaut nur auf rechtlich anerkannte „Pflichten“ zur Verschwiegenheit ab. Erfasst werden sollten aber nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte dazu (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 157; vgl auch Fabrizy , StPO 10 § 112 Rz 1), sodass sich die Vorschrift als planwidrig lückenhaft erweist und deren Anwendungsbereich analog auch für das Redaktionsgeheimnis gilt.

Die geschehene Grundrechtsverletzung ist anzuerkennen und durch Aufhebung des mit Erneuerungsantrag bekämpften Beschlusses sowie Stattgebung des Einspruchs gegen die Anordnung der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vom 24. März 2010, GZ 8 St 49/10m-29, auszugleichen. Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei haben den entsprechenden Rechtszustand mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln herzustellen (§ 107 Abs 4 StPO).

Rechtssätze
22
  • RS0126446OGH Rechtssatz

    29. September 2021·3 Entscheidungen

    Die von § 363b Abs 2 Z 1 StPO genannte, in der Unterschrift eines Verteidigers bestehende Zulässigkeitsvoraussetzung hat den Obersten Gerichtshof - mit Blick auf das bloß zwischen Anklägern und Beschuldigten (§ 38 Abs 3 StPO idF vor BGBl I 2004/19) differenzierende Verständnis des (von der Anpassungsgesetzgebung an das StPRefG unberührt gebliebenen) Erneuerungsverfahrens - dazu veranlasst, Grundrechtsschutz nach § 363a StPO unter dem Aspekt als verletzt reklamierter Anklägerinteressen zu verneinen. Ankläger (zu denen neben Privatanklägern, Subsidiaranklägern und Privatbeteiligten etwa auch Antragsteller nach §§ 6 bis 7c und 9 f MedienG zählen) sind nicht antragslegitimiert, weil diese sich selbst nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers (BGBl 1996/762) keines Verteidigers bedienen konnten (§ 39 StPO idF vor BGBl I 2004/19). Personen, die als Ankläger von einer Grundrechtsverletzung betroffen sind, sollte unter dem Aspekt innerstaatlicher Umsetzung von Urteilen des EGMR (Art 46 MRK; zur nachträglich erkannten Lücke aufgrund veränderter Normsituation vgl 13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832) kein Recht auf Neudurchführung von strafgerichtlichen Verfahren eingeräumt werden (vgl RIS-Justiz RS0123644). Angesichts der vom historischen Gesetzgeber intendierten, weiterhin systemkonformen Schutzrichtung gilt nichts anderes für Opfer (§ 65 StPO) in dieser Eigenschaft. Deren Interesse wird durch die Zulässigkeit von Fortführungsanträgen (§ 195 StPO) ausreichend geschützt. Für andere von strafgerichtlicher Grundrechtsverletzung im vorstehend definierten Sinn Betroffene gelten diese Überlegungen jedoch nicht. Sie gelten auch nicht in Betreff des hier reklamierten Grundrechtsschutzes Dritter (vgl bereits 13 Os 162/07h, EvBl-LS 2008/31, 189; 14 Os 160/07x), für welche das Erfordernis der Verteidigerunterschrift demnach mit der Maßgabe gilt, dass von ihnen gestellte Anträge der Unterschrift einer im Sinn des § 48 Abs 1 Z 4 StPO zur Verteidigung befähigten Person bedürfen.

  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.