JudikaturOLG Linz

12Rs42/25w – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Barbara Jäger als Vorsitzende, Mag. Nikolaus Steininger, LL.M. und Dr. Dieter Weiß als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Bernhard Kreutzer (Kreis der Arbeitgeber) und Martin Gstöttner (Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, BG*-**, **, **, vertreten durch Dr. Paul Fuchs, Rechtsanwalt in Thalheim bei Wels, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt , 1100 Wien, Vienna Twin Towers, Wienerbergstraße 11, vertreten durch deren Angestellten Mag. B*, Landesstelle **, wegen Integritätsabgeltung , über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 10. Jänner 2025, Cgs*-36 , in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:

Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine Integritätsabgeltung im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 22. Oktober 2018 stürzte der Kläger bei Bauarbeiten sieben Meter in die Tiefe und erlitt dabei ua zahlreiche schwere Knochenbrüche. Aufgrund dieses Arbeitsunfalls erhielt der Kläger vom 22. Oktober 2018 bis zum 31. August 2020 eine vorläufige Versehrtenrente ausbezahlt; seit 1. September 2020 gewährt die Beklagte dem Kläger eine Dauerrente von 50 % der Vollrente. Der Grad des Integritätsschadens beträgt 65 %.

Mit Bescheid vom 7. August 2020 lehnte die Beklagte die Zuerkennung einer Integritätsabgeltung mit der Begründung ab, dass eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften nicht vorliege.

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Klage mit dem Begehren auf Gewährung einer Integritätsabgeltung. Der Arbeitsunfall habe sich aufgrund einer unzureichenden Absicherung der Absturzstelle im Arbeitsbereich des Klägers ereignet. Der Baustellenkoordinator habe daher eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften zu verantworten. Den Kläger selbst treffe am Unfall kein Verschulden.

Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, dass den Kläger das überwiegende Verschulden am Unfallhergang treffe. Grobe Fahrlässigkeit liege nicht vor. Der Unfall sei aus Sicht der verantwortlichen Führungskräfte nicht vorhersehbar gewesen.

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht der Klage statt. Seiner Entscheidung legte es folgenden (zusammengefassten) Sachverhalt zugrunde:

Für das Bauvorhaben wurde vom Baustellenkoordinator (einer Ziviltechniker GmbH) ein Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan (SiGe-Plan) erstellt, der zur Absturzsicherung in Punkt 8.4. folgende Regelung vorsah:

Absturzsicherungen sind vorschriftsmäßig auszuführen, vor Benützung und weiterhin regelmäßig zu kontrollieren und zu warten.

Absturzsicherungen sind ab einer Absturzhöhe von:

-0,0 m über Gewässern

-1,0 m bei Stiegenläufen und Podesten, sowie stationären Maschinen und Zugänge

-2,0 m bei allg Bauarbeiten

-3,0 m bei Arbeiten auf Dächern

-5,0 m für die Herstellung von Stockwerksdecken

herzustellen.

Abdeckungen: Der BM (GU) stellt sämtliche Abdeckungen her, hält diese während der gesamten Baudauer vor und kontrolliert sie auf Mängel. Abdeckungen dürfen nicht aus Schaltafeln hergestellt werden und sind unverschieblich auszuführen. Dies betrifft sämtliche Gräben, Schächte und Deckendurchbrüche etc. Die Ausführung der Abdeckungen ist deckenbündig auszuführen, so dass bei Ummauerungsarbeiten/Aufstellung UK-Trockenbau die Abdeckung nicht entfernt werden muss.

Umwehrungen: Der BM (GU) stellt sämtliche Umwehrungen her, hält diese auf Baudauer vor und kontrolliert sie laufend auf Mängel. Umwehrungen bestehen immer aus Brust-, Mittel- und Fußwehr (ausgenommen Stiegenläufe).

Dies betrifft unter anderem: Gerüste und Podeste, alle Absturzkanten an Deckenrändern, Stiegenläufen und Podesten und Wanddurchbrüche an Absturzkanten.

Abgrenzungen: Sämtliche Abgrenzungen sind mnd. 2m vor der Absturzkante aufzustellen (z.B.: Prallseile, Ketten, ect.). Sollte nur ausgeführt werden, wenn gewährleistet ist, dass keine Arbeiten an der Absturzkante bzw. im jeweiligen Geschoss durchzuführen sind.

Der SiGe-Plan war Vertragsbestandteil aller ausführenden Firmen bei dem Bauvorhaben. In den als Beilage zum SiGe-Plan erliegenden „Zusätzlichen Vertragsbestimmungen (BauKG)“ wird in Punkt 1. und 4. Folgendes geregelt:

1. Jeder Auftragnehmer, im Folgenden kurz AN, hat alle seine Arbeiten und Sphäre betreffenden, SiGe-relevanten Informationen unaufgefordert dem Planungskoordinator (PK) bzw Baustellenkoordinator (BK) rechtzeitig und nachweislich zu übergeben. Die Dokumentation hat schriftlich, vollständig, erforderlichenfalls mit erklärenden Beilagen und allgemein verständlich zu erfolgen.

4. Die genannte Ansprechperson ist vom Auftragnehmer beauftragt und rechtsverbindlich bevollmächtigt, sämtliche das BauKG betreffende Agenden wahrzunehmen, insbesondere ist sie berechtigt, gegenüber dem BK verbindliche Erklärungen abzugeben und sie hat für die Weiterleitung der Informationen des BK im Unternehmen zu sorgen und „Baustellenneulinge“, die seiner Sphäre zuzurechnen sind, zu Beginn ihres Einsatzes auf der Baustelle über alle relevanten Sicherheitsbestimmungen zu unterweisen und mit den Besonderheiten der Baustelle vertraut zu machen.

Das Bauvorhaben setzt sich aus einem Alt- und einem Neubestand zusammen. Zwischen Alt- und Neubestand befindet sich eine Zwischendecke (= Kühldecke). Die Zwischendecke ist ca 2.500 m² groß und kann über eine fix montierte Leiter von der darunterliegenden Technikebene aus erreicht werden. Neben der Zugangsleiter befinden sich zwei an der Wand montierte Lichtschalter; da zur Zwischendecke kein natürliches Licht mehr vordringt, wurde für künstliche Beleuchtung gesorgt. Die Zwischendecke ist nicht durchgängig zwischen dem Alt- und Neubau und wurde daher eine Absturzsicherung mit Paneelwänden errichtet.

Zur Installation eines Lüftungskanals war es notwendig, in diese Paneelwände eine Öffnung zu schneiden. Die Planung dieses Wanddurchbruchs wurde dem Baustellenkoordinator am 8. Oktober 2018 mitgeteilt, jedoch ohne Darlegung der Größe und der Situierung. Der Baustellenkoordinator reagierte bis zum Tag des Unfallgeschehens nicht auf diese Information. Zuvor hielt der Baustellenkoordinator bereits in einem Protokoll vom 4. Oktober 2018 fest, dass Arbeiter Absturzsicherungen entfernt und nicht wieder montiert hätten.

Es kann nicht festgestellt werden, wann genau der Wanddurchbruch ausgeführt wurde. Jedenfalls geriet der Durchbruch zu groß und wies 2 m in der Breite und der Höhe auf. Nach Installierung des Lüftungskanals am 16. Oktober 2018 verblieb eine Öffnung von rund 65 cm zwischen Wandpaneel und Lüftungskanal. Diese Öffnung wurde zur Absturzsicherung mit rot-weißen Absperrbändern überspannt. Hinter dieser Öffnung verlief noch für ca 1,5 m der Boden weiter, an den ein ca 7 m tiefer Schacht angrenzte. Die fertige Montage des Lüftungskanals wurde am Vormittag des 17. Oktober 2018 der Bauleitung bei einer Baubesprechung bekanntgegeben. Auf die verbliebene und zu große Öffnung zwischen der Paneelwand und dem Lüftungskanal wurde nicht hingewiesen. Der Kläger und seine Arbeitskollegen wurden über sicherheitsrelevante Punkte der Baubesprechung insbesondere zur Begehung der Kühldecke nicht informiert.

Die letzte Baustellenbesichtigung durch den Baustellenkoordinator fand am 16. Oktober 2018 statt, wobei er die Stelle des Wanddurchbruchs nicht besichtigte.

Der Kläger hatte am Tag des Unfallgeschehens gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen Sprinklerrohre im Bereich der Kühldecke und der dieser vorgelagerten Technikebene zu verlegen. Bereits zuvor führte der Arbeitstrupp des Klägers im Bereich der Zwischendecke Verlegearbeiten durch. Der Kläger hätte ein Sprinklerrohr auf der Technikebene von einem Arbeitskollegen entgegennehmen sollen. Nachdem sich der Kläger über dessen Aufenthaltsort erkundigt hatte, ging er aber auf die andere Seite der Technikebene und stieg über die Leiter auf die Zwischendecke des Altbestands, um nachzusehen, wo weiter Rohre montiert bzw abmontiert werden sollten. Auf der Zwischendecke angekommen, schaltete der Kläger das Licht nicht ein und sorgte auch sonst für keine Beleuchtung. Er durchschritt eine Strecke von 30 bis 40 m im Dunkeln. Aufgrund zahlreicher Rohre, die am Boden und an der Decke montiert waren, war die Zwischendecke aufrecht nicht begehbar. Der Kläger durchquerte schließlich die in etwa 65 cm breite Öffnung zwischen Wandpaneel und Lüftungskanal und stürzte in den dahinterliegenden Schacht ca 7 m in die Tiefe.

Zur Zeit des Unfallgeschehens lag keine Absturzsicherung mehr vor, auch nicht durch rot-weiße Absperrbänder.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass von besonderer Bedeutung für den Arbeitnehmerschutz der Sicherheits- und Gesundheitsplan sei, der als wichtigen Punkt konkrete Maßnahmen zur Absturzsicherung zu enthalten habe. Die Sicherung der Wandöffnung mit rot-weißen Absperrbändern sei unzureichend gewesen. Der Baukoordinator sei jedenfalls dazu angehalten gewesen, sich mit der Absicherung des Wanddurchbruchs zu beschäftigen und diesen auch zu kontrollieren, was nicht geschehen sei. Damit sei gegen den SiGe-Plan verstoßen worden. Zudem seien der Kläger und seine Arbeitskollegen von ihrem Arbeitgeber entgegen den Vorschriften der §§ 12, 14 ASchG und auch entgegen Punkt 4. der Zusatzvereinbarung zum SiGe-Plan nicht auf die besondere Absturzgefahr aufgrund des Wanddurchbruchs hingewiesen worden. Es sei gegen eine Reihe von Arbeitnehmerschutzvorschriften durch den Baustellenkoordinator und den Arbeitgeber des Klägers verstoßen worden. Aufgrund der länger andauernden vorschriftswidrigen Absicherung der potentiell gefährlichen Absturzstelle sei von einer grob fahrlässigen Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften auszugehen. Abgesehen vom Fall, dass ausschließlich dem Versicherten selbst eine grob fahrlässige Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vorzuwerfen sei, sei es für die Gewährung einer Integritätsabgeltung unerheblich, ob neben dem Schädiger auch der Versicherte Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig missachtet habe. Ein darüber hinausgehendes Fehlverhalten des Klägers liege nicht vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus den Berufungsgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das Klagebegehren abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Berufungsbeantwortung, der Berufung keine Folge zu geben.

Die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu behandelnde Berufung ist berechtigt .

Rechtliche Beurteilung

1.1 Das Erstgericht hielt in seiner Beweiswürdigung zum Aufenthalt des Klägers auf der Zwischendecke abschließend fest, dass dieser weder auf der Suche nach seinem Kollegen in die falsche Richtung gegangen noch unbegründet auf die Zwischendecke gestiegen sei, was von der Beklagten in ihrer Beweisrüge als Feststellung bekämpft wird. Sie begehrt die Ersatzfeststellung, dass der Kläger die Kühldecke ohne nachvollziehbaren Grund aufgesucht habe, sich in einem Bereich, in dem man nicht aufrecht gehen habe können, bei Dunkelheit fortbewegt habe und aus nicht nachvollziehbaren Gründen die nur 65 cm breite Öffnung zwischen Paneelwand und Lüftungskanal durchschritten habe.

1.1.1 Unabhängig von der Frage des Vorliegens einer dislozierten Feststellung lässt sich mit der angestrebten Ersatzfeststellung nicht in Einklang bringen, dass am Tag des Unfallgeschehens der Kläger im Bereich der Zwischendecke Sprinklerrohre zu verlegen hatte und auf diese stieg, um nachzusehen, wo weitere Rohre angebracht oder abmontiert werden sollten.

1.1.2 Dass es dunkel und die Zwischendecke nicht aufrecht begehbar war, stellte das Erstgericht ohnehin fest.

1.2 Anstatt der Feststellung, wonach im Zeitpunkt des Unfalls keine Absturzsicherung vorgelegen habe, begehrt die Beklagte eine entsprechende Negativfeststellung.

Die gesetzmäßige Ausführung des Berufungsgrundes der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung verlangt ua die Darlegung, aufgrund welcher Beweisergebnisse und welcher beweiswürdigenden Überlegungen die begehrte Ersatzfeststellung zu treffen ist (vgl RIS-Justiz RS0041835). Diesen Anforderungen wird die Beweisrüge nicht gerecht, wenn sie lediglich ausführt, dass eindeutige Beweisergebnisse nicht vorliegen würden, und pauschal auf die Beweiswürdigung des HG Wien (Cg*) und des OLG Wien (3 R 5/21h) verweist sowie auf die „auch in anderen Punkten durchaus unglaubwürdig und zweifelhaft“ erscheinende „klägerische Aussage“, ohne darauf jedoch näher einzugehen.

1.3 Der Beweisrüge der Beklagten kommt daher insgesamt keine Berechtigung zu.

1.4 Wenn die Beklagte unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung (zusätzliche) rechtlich erhebliche Feststellungen begehrt, macht sie damit einen der Rechtsrüge zuzuordnenden sekundären Feststellungsmangel geltend.

2In ihrer Rechtsrüge führt die Beklagte zusammengefasst ins Treffen, dass der Baustellenkoordinator weder Arbeitgeber noch ein diesem Gleichgestellter sei, sondern ausschließlich als Beauftragter des Bauherrn tätig und damit nicht von § 213a ASVG erfasst werde; das BauKG nicht als Arbeitnehmerschutzvorschrift iSd § 213a ASVG anzusehen sei und das Fehlverhalten des Baustellenkoordinators sowie des Dienstgebers nicht als grob fahrlässig zu qualifizieren sei.

3Wurde der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht und hat der Versicherte dadurch eine erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität erlitten, so gebührt, wenn wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalls oder dieser Berufskrankheit auch ein Anspruch auf Versehrtenrente besteht, gemäß § 213a ASVG eine angemessene Integritätsabgeltung.

3.1Von wem die Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig außer Acht gelassen worden sein müssen, ist der Bestimmung des § 213a ASVG nicht zu entnehmen (vgl Reischauer , Neuerungen im Bereich des Arbeitgeber-Haftungsprivilegs im Zusammenhang mit Kfz-Verkehr und Integritätsabgeltung, DRdA 1992, 317; Windisch/Graetz , Glosse zu OGH 10 ObS 2338/96p, DRdA 1997/38, 323).

3.2In ständiger Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0111032) judiziert der Oberste Gerichtshof, dass nicht nur die Übertretung der Arbeitnehmerschutzvorschriften durch Arbeitgeber und ihnen gleichgestellte Personen den Anspruch auf Integritätsabgeltung begründe, auch eine grob fahrlässige Übertretung durch andere Personen, insbesondere durch Arbeitskollegen des Versicherten, könne ihn auslösen. Diese Rechtsprechung und die Formulierung gehen auf einen Aufsatz von Reischauer (DRdA 1992, 317 [326]) zurück, wobei auch der Autor offen lässt, wer neben den Arbeitskollegen mit den „anderen“ gemeint sein soll. In der Zusammenfassung beschränkt der Autor eine Übertretung jedoch auf den Dienstgeber, ihm Gleichgestellte und Arbeitskollegen ( Reischauer , DRdA 1992, 317 [329]), ohne „andere“ miteinzubeziehen.

3.3Die Integritätsabgeltung wurde mit der 48. ASVG-Novelle eingeführt, um eine dem Schmerzengeld und der Verunstaltungsentschädigung bzw dem Ersatz wegen Verhinderung des besseren Fortkommens verwandte Leistung zu schaffen, um Härtefälle, die der Haftungsausschluß des § 333 ASVG teilweise bewirken kann, zu supplieren (AB 1142 BlgNR 17. GP 2). Die Integritätsabgeltung ist im Konkurrenzbereich zwischen ziviler Haftpflichtordnung und Sozialversicherung angesiedelt. Ihr Zweck ist es, durch eine Geldleistung einen gewissen Ausgleich für körperliche Schmerzen, Leid, verminderte Lebensfreude, Beeinträchtigung des Lebensgenusses und ähnliche Ursachen seelischen Unbehagens zu bieten. Damit wird ihre Verwandschaft mit den immateriellen Schadenersatzansprüchen des ABGB deutlich (RIS-Justiz RS0084634 [T1]) und dem entsprechend wies der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung zu 2 Ob 185/99s (= RIS-Justiz RS0114739) darauf hin, dass die Integritätsabgeltung eine kongruente Leistung zu einem zivilrechtlichen Schmerzengeldanspruch bzw einer Verunstaltungsentschädigung darstelle.

3.4Da es somit Zweck der Integritätsabgeltung ist, einen Ersatz für die im Allgemeinen aufgrund des Haftungsausschlusses iSd § 333 ASVG nicht zu erlangenden und auch durch keine sonstige Leistung der gesetzlichen Unfallversicherung substituierten Ansprüche auf Schmerzengeld (§ 1325 ABGB) und Entschädigung für Verhinderung besseren Fortkommens (§ 1326 ABGB) zu schaffen (vgl Fellinger/I. Faberin SV-Komm § 213a ASVG [293. Lfg] Rz 1), wird grundsätzlich jener Personenkreis von § 213a ASVG erfasst, dem das Haftungsprivileg des § 333 ASVG zugute kommt. Das sind die Dienstgeber und ihnen gleichgestellte Personen, wie die gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertreter sowie die Aufseher im Betrieb (vgl dazu etwa Auer-Mayerin SV-Komm § 333 ASVG [319. Lfg] Rz 42; Atria in Sonntag, ASVG 16 §§ 333-335 Rz 27 ff).

3.5 Zu klären ist daher die – in der Literatur kontrovers diskutierte (vgl dazu etwa Atria in Sonntag, ASVG 16 §§ 333-335 Rz 36; Auer-Mayerin SV-Komm § 333 ASVG [319. Lfg] Rz 54) – Frage, ob dem Baustellenkoordinator das Haftungsprivileg gemäß § 333 ASVG zuzubilligen ist. Da dem Baustellenkoordinator – außer er ist zugleich auch Werkunternehmer auf der Baustelle – keine Dienstgeberfunktion zukommt, ist lediglich eine Haftungsbefreiung gemäß § 333 Abs 4 ASVG denkbar (vgl Egglmeier-Schmolke , Haftung für Unfälle auf Baustellen, bbl 2007, 82 [92]).

3.5.1Die früher auf die Fürsorgepflicht des Werkbestellers gemäß § 1169 ABGB gestützte Koordinationspflicht des Bauherrn wird durch die Regelungen des BauKG konkretisiert (OGH 2 Ob 272/03v mwN). Durch die Vorschriften des BauKG soll den Gefahren begegnet werden, die aufgrund der gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden Tätigkeit von Arbeitnehmern verschiedener Unternehmen auf Baustellen entstehen (RIS-Justiz RS0119449 [T1]). Die Verpflichtungen nach dem BauKG werden grundsätzlich dem Bauherrn auferlegt, der die erforderlichen Sicherheits- bzw Koordinationsmaßnahmen selbst durchzuführen bzw die Bestellung eines Baustellenkoordinators zu veranlassen hat. In seinem Anwendungsbereich konkretisiert (und verdrängt) das BauKG als speziellere Norm die allgemeinen werkvertraglichen Regeln, aus denen sich Fürsorgepflichten des Bauherrn als Werkbesteller ableiten ( Streibel in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG Praxiskommentar § 333 [79. Lfg] Rz 138 mwN).

Gemäß § 3 Abs 1 BauKG hat der Bauherr einen Baustellenkoordinator für die Ausführungsphase zu bestellen. Diesen treffen im Interesse des Arbeitnehmerschutzes gemäß § 5 BauKG Koordinationspflichten (Abs 1), Überwachungspflichten (Abs 2) und Organisationspflichten (Abs 3). So hat er gemäß § 5 Abs 1 BauKG unter anderem die Umsetzung der allgemeinen Grundsätze der Gefahrenverhütung gemäß § 7 ASchG bei der Durchführung der Arbeiten (Z 1) und die Umsetzung der für die betreffende Baustelle geltenden Bestimmungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit (Z 2) zu koordinieren. Gemäß § 5 Abs 2 BauKG hat er unter anderem darauf zu achten, dass die Arbeitgeber den SiGe-Plan (Z 1) und die allgemeinen Grundsätze der Gefahrenverhütung gemäß § 7 ASchG (Z 2) anwenden.

3.5.2Stellt der Baustellenkoordinator bei Besichtigungen der Baustelle Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer fest, hat er gemäß § 5 Abs 4 BauKG unverzüglich den Bauherrn oder den Projektleiter sowie die Arbeitgeber und die allenfalls auf der Baustelle tätigen Selbständigen zu informieren; werden die Missstände nicht beseitigt, kann er sich an das Arbeitsinspektorat wenden.

3.5.3Bei seinen Aufgaben kommt dem Baustellenkoordinator aber keine Weisungsbefugnis gegenüber den auf der Baustelle tätigen Personen zu (OGH 7 Ob 218/19p Pkt 3.2 mwN). Die Gesetzesmaterialien halten dazu fest, dass der Baustellenkoordinator in der Regel keine Anordnungsbefugnisse gegenüber den auf der Baustelle tätigen Unternehmen und kein Durchgriffsrecht hat. Die Einschaltung des Bauherrn oder des Projektleiters wird daher häufig die einzige Möglichkeit sein, Abhilfe zu schaffen; zudem kann er sich an die zuständige Arbeitnehmerschutzbehörde wenden, nachdem er erfolglos bei den zuständigen Personen eine Beseitigung von Missständen verlangt hatte (ErlRV 1462 BlgNr 20. GP 13).

3.5.4Schon daran hat die Aufsehereigenschaft des Baustellenkoordinators zu scheitern, muss doch nach ständiger Rechtsprechung der Geschädigte dem Aufseher im Betrieb wie einem Dienstvorgesetzten, dem Weisungsrechte zustehen, untergeordnet sein (RIS-Justiz RS0085661; vgl auch OGH 2 Ob 272/03v; ebenfalls auf die Weisungsbefugnis abstellend Atria in Sonntag, ASVG 16 §§ 333-335 Rz 36; Streibel in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG Praxiskommentar § 333 [79. Lfg] Rz 143).

3.5.5Zudem wies der Oberste Gerichtshof in 2 Ob 272/03v darauf hin, dass der Baustellenkoordinator im Rahmen seines gesetzlichen Aufgabenkreises eher Pflichten des Bauherrn, dessen Beauftragter er ist, als Pflichten des Arbeitgebers wahrzunehmen habe. Der Baustellenkoordinator ist zwar ebenso für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzbestimmungen zuständig und nach § 8 Abs 4 ASchG hat der Arbeitgeber bei der Umsetzung der Grundsätze der Gefahrenverhütung die Anordnungen und Hinweise der Koordinatoren zu berücksichtigen, daraus kann aber weder eine Aufsehereigenschaft abgeleitet werden, noch lässt sich eine Vertreterfunktion des Baustellenkoordinators aus dem Gesetz ableiten (idS Egglmeier-Schmolke , bbl 2007, 82 [92]; aA Lukas/Resch , Haftung für Arbeitsunfälle am Bau 63 ff).

3.6Der Baustellenkoordinator fällt daher nicht in den Adressatenkreis des § 213a ASVG in Zusammenhang mit der Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften. Da aber der Baustellenkoordinator dem Geschädigten nach allgemeinen Grundsätzen haftet, entsteht auch keine Versorgungslücke. Der Kläger machte auch im Verfahren vor dem HG Wien zu Cg* (OLG Wien 3 R 5/21h, OGH 2 Ob 119/21w) erfolgreich (unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens) Schadenersatzansprüche gegenüber dem Baustellenkoordinator geltend.

4.1Unter Arbeitnehmerschutzvorschriften iSd § 213a ASVG sind jene öffentlich-rechtlichen Arbeitsrechtsnormen zu verstehen, die dem Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit im Zusammenhang mit der Erbringung der Arbeitsleistung dienen, auf unmittelbarem staatlichen Eingriff basieren und typischerweise als Sanktionsinstrumentarium die Verwaltungsstrafe vorsehen (RIS-Justiz RS0084412). Zu den Arbeitnehmerschutzvorschriften gehören insbesondere das ASchG, das AZG, das KJBG, die Allgemeine Arbeitnehmerschutz-V und die Verordnung über Beschäftigungsverbote und -beschränkungen für Jugendliche ( Fellinger/I. Faberin SV-Komm § 213a ASVG [293. Lfg] Rz 4 ua unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Mit dieser demonstrativen Aufzählung wird zum Ausdruck gebracht, dass im gegebenen Zusammenhang nicht das gesamte Arbeitsrecht in seiner Funktion als Schutzrecht der Arbeitnehmerschaft zu verstehen ist, sondern bloß jenes Segment an arbeitsrechtlichen Normen, das von der Lehre als „Arbeitnehmerschutzrecht im engeren Sinn“ bezeichnet wird ( Dörner, Die Integritätsabgeltung nach dem ASVG 41 f). Es handelt sich dabei im Wesentlichen um öffentlich-rechtliche Pflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Staat ( Löschnigg , Arbeitsrecht 14 Rz 7/006).

4.2Die Rechtsprechung stellt ebenfalls auf die vordergründige Verantwortung des Arbeitgebers für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften ab (vgl RIS-Justiz RS0111032) und sieht als primäre Anspruchsvoraussetzung der Integritätsabgeltung die Verursachung des Arbeitsunfalls durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften im Rahmen des vom Arbeitgeber zu vertretenden und ihm zuzuordnenden Bereichs an(OGH 10 ObS 27/09g). Die Regelungen zum Arbeitnehmerschutz richten sich an den Dienstgeber (vgl OGH 9 ObA 102/22y Rz 45 mwN), ausgenommen davon ist lediglich das BauKG (vgl Streibel in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG Praxiskommentar § 333 [79. Lfg] Rz 122). Da sich das BauKG grundsätzlich an den Bauherrn und nicht den Arbeitgeber richtet (siehe Pkt 3.5.1), vermag eine Verletzung der Schutzbestimmungen dieses Gesetzes keinen Anspruch auf eine Integritätsabgeltung nach § 213a ASVG zu begründen.

5Das BauKG entbindet den Arbeitgeber allerdings nicht von seinen Pflichten nach dem ASchG, insbesondere nicht von seinen Koordinationspflichten nach § 8 ASchG (vgl Schneeberger in Heider/Schneeberger, ASchG 7§ 8 Rz 8). Zudem hat der Arbeitgeber nach der das ASchG konkretisierenden Bauarbeiterschutzverordnung ua dafür zu sorgen, dass auf Baustellen die in § 7 ASchG genannten Grundsätze der Gefahrenverhütung angewendet werden (§ 3a) und dass bei Absturzgefahr Absturzsicherungen, Abgrenzungen oder Schutzeinrichtungen anzubringen sind (§ 7). Gegen diese Pflicht hat der Arbeitgeber des Klägers gegenständlich jedenfalls verstoßen.

5.1Das Gesetz verlangt jedoch eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften. Grobe Fahrlässigkeit iSd ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit nach § 1324 ABGB gleichzusetzen (RIS-Justiz RS0030510). Darunter ist eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht zu verstehen, die den Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich erscheinen lässt (RIS-Justiz RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RIS-Justiz RS0052197). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist auch nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen (RIS-Justiz RS0085332, RS0031127 [T22]). Zu prüfen ist, ob nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz nicht angestellt wurden (RIS-Justiz RS0052197 [T7], RS0085228 [T3], RS0030644 [T34]). Der objektiv besonders schwere Sorgfaltsverstoß muss auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen sein (RIS-Justiz RS0030272). Bei der Beurteilung des Verschuldensgrades sind jeweils die Umstände des Einzelfalls zu prüfen (RIS-Justiz RS0026555, RS0085228 [T1], RS0089215, RS0105331).

5.2Der Arbeitgeber des Klägers war weder verantwortlich für die Herstellung des zu großen Wanddurchlasses noch für die Montage der Lüftung. Beide bauausführenden Unternehmen hätte ebenfalls eine Koordinationspflicht gemäß § 8 ASchG sowie die Verantwortung für die Herstellung einer ordnungsgemäßen Absturzsicherung getroffen. Zudem war ein Baustellenkoordinator bestellt. Ein solcher ist zwar nicht für die Erfüllung der den Arbeitgeber treffenden Schutzpflichten verantwortlich, dennoch ist dessen Bestellung bei der Verschuldensabwägung zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen kann im Verhalten des Arbeitgebers des Klägers gerade noch keine grob fahrlässige Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften erblickt werden, sodass auch aus diesem Grund dem Kläger keine Integritätsabgeltung zusteht.

6Dem Klagebegehren kommt daher insgesamt keine Berechtigung zu; das erstgerichtliche Urteil war daher abzuändern. Auf die Frage der Doppelliquidation und die Anwendung des § 332 ASVG aufgrund des Schadenersatzzuspruchs im Verfahren vor dem HG Wien braucht nicht eingegangen zu werden.

7Die Kostenentscheidung erster und zweiter Instanz beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Umstände für einen Kostenersatz nach Billigkeit trotz vollständigen Unterliegens wurden vom Kläger weder dargelegt noch ergeben sich diese aus der Aktenlage.

8Die ordentliche Revision ist gemäß § 502 Abs 1 ZPO zulässig, da – soweit überblickbar – der Oberste Gerichtshof die Beantwortung der Frage, ob der Baustellenkoordinator unter § 333 Abs 4 ASVG zu subsumieren ist, bis dato offen lassen konnte (vgl OGH 2 Ob 272/03v, 2 Ob 162/08z, 9 ObA 141/08p) und sich noch nicht damit auseinanderzusetzen hatte, ob das BauKG als Arbeitnehmerschutzvorschrift iSd § 213a ASVG anzusehen ist.