JudikaturJustiz13Os5/08x

13Os5/08x – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. April 2008

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. April 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart des Richteramtsanwärters MMag. Klaus als Schriftführer im Verfahren zur Unterbringung der Dr. Ingrid L***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Betroffenen gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Schöffengericht vom 6. November 2007, GZ 12 Hv 97/07i 342, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Klagenfurt verwiesen.

Mit ihrer Berufung wird die Betroffene auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe :

Mit dem angefochtenen Urteil ordnete das Landesgericht Klagenfurt die Unterbringung der Dr. Ingrid L***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 1 StGB an, weil sie in G***** (Bezirk L*****) unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades, nämlich einer chronischen paranoiden Schizophrenie beruhte,

I. ihre Verpflichtung zur Fürsorge gegenüber ihren nachgenannten drei Töchtern, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, gröblich vernachlässigte und dadurch deren Gesundheit beträchtlich schädigte, indem sie „jeglichen altersadäquaten und entwicklungsfördernden Sozialkontakt einschließlich Kontakte zum Kindesvater systematisch unterband, den Schulbesuch und damit den Anspruch auf Bildung und Ausbildung verweigerte sowie trotz wiederholter Aufklärung über die Gefährdung der Genannten und die Notwendigkeit, der Gefahrensituation wirksam zu begegnen, alle behördlich angebotenen und angeordneten medizinischen und therapeutischen Maßnahmen ablehnte oder nur scheinhalber annahm",

1. von spätestens Anfang 2000 bis 20. Juli 2004 hinsichtlich der am 20. Juli 1986 geborenen Elisabeth M*****, „wodurch neben Sprach- und Sprechauffälligkeiten überdauernde Störungen in Form einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit ängstlich vermeidenden und passiv aggressiven Anteilen, einer chronisch depressiven Verstimmung im Sinn einer Dysthymie und einer induzierten wahnhaften Störung eintraten und die Tat somit eine Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen (§ 85 StGB) zur Folge hatte";

2. von spätestens Anfang 2001 bis 24. Oktober 2005 hinsichtlich der am 20. September 1988 geborenen Katharina M*****, wodurch Sprach- und Sprechauffälligkeiten sowie eine nachhaltige kombinierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung mit schizoider und ängstlich vermeidender Symptomatik eintraten;

3. von spätestens Herbst 2001 bis 24. Oktober 2005 hinsichtlich der am 11. Dezember 1991 geborenen Viktoria M*****, wodurch Sprach- und Sprechauffälligkeiten sowie eine Anpassungsstörung mit kurzer depressiver Reaktion (Somatisierungstendenzen) eintraten;

II. von 21. Juli 2004 bis 17. März 2006 ihre Verpflichtung zur Fürsorge gegenüber ihrer wegen Krankheit wehrlosen Tochter Elisabeth M***** durch die Fortsetzung der unter I angeführten Tathandlungen gröblich vernachlässigte und dadurch deren Gesundheit beträchtlich schädigte, wodurch die unter I/1 bezeichneten Auswirkungen weiter verstärkt wurden,

und dadurch (richtig:) das Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 und Abs 3 erster Fall StGB (I/1) und drei Vergehen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 StGB (I/2 und 3, II) beging.

Rechtliche Beurteilung

Der aus Z 4, 5, 5a und 11 des § 281 Abs 1 StPO ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde der Betroffenen kommt Berechtigung zu.

Aus Z 5 zweiter Fall rügt sie zutreffend das Übergehen der - in der wiederholten Hauptverhandlung verlesenen (S 404/VI) - Angaben des psychiatrischen Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Reinhard H***** (S 352/V), wonach der Wille der Betroffenen „vom wahnhaften Leben, die Kinder vor dem Mann und den weiteren Fremdeinwirkungen zu schützen", geprägt gewesen sei, und dessen weiterer Ausführungen: „Die Betroffene wollte, wie jede Mutter, für ihre Kinder etwas Gutes tun. Ihr Wille war aber durch die Krankheit verfälscht und daher hat dieser Täterwille mutmaßlich Schlechtes bewirkt." Ebensowenig erörtert wurden die Angaben des Prim. Dr. G*****, welcher deponiert hatte, dass die Betroffene überzeugt gewesen sei, „das Richtige für ihre Kinder" zu tun (S 452/VI).

Diesen Angaben kann Erheblichkeit in Betreff der entscheidenden Tatsache nicht abgesprochen werden, ob die Beschwerdeführerin in einem das Tatbestandsmerkmal des gröblichen Vernachlässigens betreffenden Tatbildirrtum gehandelt hat: Eine Tat ist nur dann mit Strafe bedroht (worauf § 21 Abs 1 StGB abstellt), wenn sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand erfüllt sind. Beachtlich ist hinsichtlich des Letzteren auch ein Tatbildirrtum, welcher auf der die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden geistigen oder seelischen Abnormität höheren Grades beruht ( Ratz in WK2 § 21 Rz 14 ff mit Nachweisen aus Judikatur und Schrifttum; zuletzt 13 Os 4/07y [RIS Justiz RS0118333 T2]; vgl auch 15 Os 149/04, SSt 2005/6).

Wollte Dr. L***** ihre Fürsorgeverpflichtung gar nicht gröblich vernachlässigen, wäre sie mit anderen Worten einem Wertungsirrtum in Betreff dieses normativen Tatbestandsmerkmals unterlegen (vgl Fuchs , AT I6 14/21 28), käme eine auf Vernachlässigen (§ 92 Abs 2 StGB) gegründete Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB nicht in Betracht 7 Abs 1 StGB).

Wer meint, durch sein Verhalten den objektiv gegebenen Fürsorgepflichten nachzukommen, weil er gerade sein Vorgehen zur Gewährleistung der Fürsorge für geboten hält, befindet sich in einem Irrtum über den Inhalt seiner Fürsorgepflicht und will diese durch sein - objektiv - pflichtwidriges Tun gerade nicht vernachlässigen (zum Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale instruktiv Fuchs AT I6 14/62).

Soweit die Sachverhaltsgrundlage für die Annahme gröblicher Vernachlässigung der Fürsorgepflicht in von aktivem Tun trennbarem, mithin einer selbständigen Bewertung zugänglichem Antriebsverlust bestanden hätte (vgl die Hinweise in US 9 bis 11, 57; zu durch Neben , Mit- und Nacheinander von aktiven und passiven Verhaltensweisen geprägten Geschehensabläufen instruktiv Hilf in WK2 § 2 Rz 23 ff, insb 27), wäre, was ergänzend angemerkt sei, nach ständiger Rechtsprechung und einhelliger Lehre zudem bereits auf der Ebene des Tatbestands die Frage einer tatsächlichen Handlungsmöglichkeit in Rechnung zu stellen gewesen ( Hilf in WK2 § 2 Rz 46 ff). Nicht entscheidend wäre in einem solchen Fall, ob eine die tatsächliche Handlungsunfähigkeit bewirkende Antriebslosigkeit auf der die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades beruht.

Gleichermaßen im Recht ist die Beschwerde mit dem Vorbringen (Z 11 zweiter Fall), dass es das Schöffengericht unterlassen hat, die Prognosetat im Urteil ihrer Art nach näher zu umschreiben ( Ratz in WK2 § 21 Rz 26; RIS Justiz RS0113980 [insb T8], RS0118581). Denn nur so kann eine Subsumtion unter den Rechtsbegriff einer mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlung (also einer Kategorie des materiellen Strafrechts) mit schweren Folgen stattfinden. Die in Betreff einer solchen Subsumtion undeutlichen Hinweise auf „schwere und schwerste Aggressionshandlungen" (US 59 f; hinsichtlich deren Wahrscheinlichkeit sich zudem das Erfordernis der Befürchtung relativierende Urteilsannahmen finden [vgl US 99, wo bloß noch davon die Rede ist, dass solche Handlungen „nicht ausgeschlossen werden" könnten]) und „Induktionen", also die Übernahme der „psychotischen Überzeugung" der Betroffenen „auf dem Weg der psychischen Übertragung von Personen aus der näheren Umgebung" (US 58), genügt dafür nicht, weil keine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung darauf allein abstellt. Soweit als Prognosetat ein Handeln oder Unterlassen nach § 92 Abs 2 StGB in Erwägung gezogen wird, bedarf es beispielsweise einer erneut aktuellen Verpflichtung zur Fürsorge oder Obhut, von deren hoher Wahrscheinlichkeit das Erstgericht jedoch keineswegs ausgegangen ist (vgl § 145 ABGB).

Aufhebung und Verweisung an das Erstgericht bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sind daher unabdingbar (§§ 285e erster Satz, 288 Abs 2 Z 1 StPO). Das weitere Beschwerdevorbringen bedarf keiner Erörterung.

Bei aufrecht bleibendem Unterbringungsantrag wäre im nachfolgenden Rechtsgang zu beachten, dass die § 151 Abs 1 Z 3 StPO aF ersetzende Vorschrift des § 155 Abs 1 Z 4 StPO keine gerade dem Schutz des Zeugen verpflichtete Anordnung darstellt ( Kirchbacher , WK StPO § 151 Rz 28 ff). Mit Blick auf das Grundrecht nach Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit d MRK wäre eine Abstandnahme von der Befragung der Frauen nur aufgrund einer vom erkennenden Gericht selbst unter Gelegenheit der Parteien - allenfalls auf schonende Weise (§ 250 Abs 3 StPO) - teilzunehmen ermittelte Aussageunfähigkeit oder der Erklärung der Frauen zulässig, auf das ihnen nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO zustehende Recht, nicht aussagen zu müssen, nicht zu verzichten.

Die Rechtswirksamkeit einer solchen Erklärung setzt vorangegangene gesetzförmige Information der Zeuginnen über den Befreiungsgrund voraus (§ 159 StPO; eingehend 13 Os 131/05x, SSt 2006/73 = EvBl 2007/15 = JBl 2007, 398 = AnwBl 2007, 452). Ein von der Pflicht zur Aussage befreiter Zeuge hat kein korrespondierendes Recht, bei der Hauptverhandlung nicht zu erscheinen (13 Os 71/03, SSt 2003/53 = EvBl 2004/17).

Ergibt sich keine Aussageunfähigkeit und wird der Aussagebefreiungsgrund nicht in Anspruch genommen, garantiert § 250 Abs 3 StPO eine schonende Vorgangsweise bei der Vernehmung.

Bleibt anzumerken, dass der Freispruch Dris. L***** „vom weiteren Vorwurf, sie hätte die Verpflichtung zur Fürsorge gegenüber Katharina M***** dadurch gröblich vernachlässigt, dass sie eine ärztlicherseits nahegelegte Heilgymnastik verweigerte, wodurch die Ausbildung einer schweren, mit Buckelbildung verbundenen Skoliose beschleunigt wurde", schon deshalb verfehlt - und wirkungslos - war, weil er nur eine Erfolgskomponente (vgl US 53 f), nicht aber eine selbständige Tat im materiellen Sinn betraf ( Lendl , WK StPO § 259 Rz 1 f). Dazu kommt, dass auch insoweit bloß Antrag auf Unterbringung (§ 429 Abs 1 StPO) gestellt und nicht Anklage erhoben worden war. Wird die Begehung einer dem Unterbringungsantrag zugrunde liegenden selbständigen Tat im materiellen Sinn verneint, ist insoweit der Antrag abzuweisen, aber kein Freispruch zu fällen ( Lendl , WK StPO § 259 Rz 15). In Betreff einer bloßen Erfolgskomponente hat aber auch keine Antragsabweisung zu erfolgen.

Schließlich sei mit Nachdruck auf die die Verfahrenskonzentration sichernde Vorschrift des § 232 Abs 2 StPO und das aus § 270 Abs 2 Z 5 StPO erhellende Gebot zu gedrängter Darstellung der Entscheidungsgründe hingewiesen, nämlich - neben der hier nicht problematischen Individualisierung - im Wesentlichen der (zu II vorliegend undeutlich gebliebenen) Feststellung der für die Schuld- und Subsumtionsfrage sowie die Unterbringungsanordnung entscheidenden Tatsachen (zum Begriff Ratz , WK StPO § 281 Rz 22) und der Schilderung der hiefür maßgeblichen beweiswürdigenden Erwägungen. Unangemessene Breite ist dazu angetan, den Blick aller Verfahrensbeteiligten vom (rechtlich) Wesentlichen abzulenken und das Verfahrensziel zu verfehlen (vgl auch Art 6 Abs 1 erster Satz MRK).

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