Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, über die Revision des Dipl. Betrw. (DH) M F in W, vertreten durch Dr. Michael Kollik, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Strauchgasse 1 3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 18. März 2024, Zl. VGW 141/081/2187/2024 3, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Das Land Wien hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde vom 23. Jänner 2024 wurde die dem Revisionswerber (mit Bescheid der belangten Behörde vom 30. November 2023) zuerkannte Mindestsicherungsleistung mit 31. Jänner 2024 eingestellt (Spruchpunkt I.). Weiters wurden die dem Revisionswerber zustehenden Leistungen dahingehend neu bemessen, dass diesem für Jänner 2024 Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfs in der Höhe von € 279,09, eine Mietbeihilfe in der Höhe von € 188,29 und ein Behindertenzuschlag von € 208,05 zuerkannt wurden. Für den Zeitraum vom 1. Februar 2024 bis zum 31. Juli 2024 wurde eine Mietbeihilfe in der Höhe von monatlich € 188,29 zuerkannt (Spruchpunkte II. bis IV.).
2 Die belangte Behörde begründete dies im Wesentlichen damit, dass wegen der Änderung der Pensionshöhe und der Erhöhung des Mindeststandards ab 1. Jänner 2024 die Leistung neu zu berechnen gewesen sei. Auf Grund des vorliegenden Einkommens und der sich daraus ergebenden Überschreitung des Mindeststandards sei ab Februar 2024 nur mehr ein Anspruch auf Mietbeihilfe gegeben.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 18. März 2024 wurde die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen und der angefochtene Bescheid dahin abgeändert, dass dem Revisionswerber für den Zeitraum vom 1. Februar 2024 bis zum 31. Juli 2024 keine Mindestsicherungsleistungen zuerkannt wurden; im Übrigen wurde der angefochtene Bescheid bestätigt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde ausgesprochen, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG unzulässig sei (Spruchpunkt II.).
4 Begründend ging das Verwaltungsgericht nach einer wörtlichen Wiedergabe der Beschwerde, in der unter anderem ausgeführt wurde, dass der Revisionswerber „um Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht“ ersuche, sollte „die Beschwerdegegnerin der Beschwerde nicht stattgeben“ in sachverhaltsmäßiger Hinsicht (anders als die belangte Behörde) davon aus, dass der Revisionswerber (neben einer Berufsunfähigkeitspension der PVA in der Höhe von € 313,98 monatlich, einer Ausgleichszulage in der Höhe von € 301,35 monatlich, einer Pension der Dt. Rentenversicherung in der Höhe von € 209,65 monatlich sowie einer näher genannten weiteren Berufsunfähigkeitsrente in der Höhe von € 321,51 monatlich) über „eine zusätzliche unbekannte Einnahmequelle bzw. Vermögen über dem Vermögensfreibetrag“ verfüge, sodass er imstande sei, „seinen Lebensunterhalt und Wohnbedarf zur Gänze selbständig abzudecken“.
5 Diese Feststellung stützte das Verwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung (ausschließlich) darauf, dass der Revisionswerber im Beschwerdeverfahren einem Auftrag des Verwaltungsgerichtes vom 22. Februar 2024, „vollständige Kontoauszüge ab November 2023 bis dato“ vorzulegen, bislang nicht nachgekommen sei. Aufgrund dieser mangelnden Mitwirkung sei davon auszugehen, dass dieser „zumindest seit Jänner 2024 ein weiteres Einkommen lukriert bzw. über Vermögen über dem Vermögensfreibetrag verfügt“, sodass er imstande sei, seinen Lebensunterhalt vollständig abzudecken.
6 Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht wie folgt:
„Von der Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG abgesehen werden, weil sich der entscheidungsrelevante Sachverhalt vollinhaltlich dem Akteninhalt entnehmen lässt und der Beschwerdeführer trotz entsprechender Belehrung im angefochtenen Bescheid im Beschwerdeschriftsatz nicht die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Auch die belangte Behörde hat von der Beantragung der Durchführung einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung Abstand genommen.“
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
8 Das Verwaltungsgericht legte die Verfahrensakten vor.
9 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10In der Zulässigkeitsbegründung der vorliegenden außerordentlichen Revision wird (unter anderem) geltend gemacht, das Verwaltungsgericht weiche von der „einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes“ ab, weil es den Antrag des Revisionswerbers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung übersehen habe und aktenwidrig davon ausgehe, dass dieser die Durchführung einer Verhandlung nicht beantragt habe. Dieser habe aber in seiner Beschwerde (sowie in einer nachfolgenden Stellungnahme dadurch, dass er die Vernehmung eines Zeugen beantragt habe) eine Verhandlung beantragt, das Verwaltungsgericht habe diesen Antrag auch im Erkenntnis zitiert. Das Verwaltungsgericht weiche zudem von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Verweis auf VwGH 20.11.2014, Ra 2014/07/0052, VwSlg. 18.973 A) ab, wonach sich das Verwaltungsgericht mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG auseinandersetzen und seine Entscheidung nachvollziehbar begründen müsse.
11 Die Revision erweist sich als zulässig und begründet:
12§ 24 VwGVG lautet auszugsweise:
„ Verhandlung
(1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
...
(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
...“
13Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher grundsätzlich durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Wie der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG bereits wiederholt festgehalten hat, hatte der Gesetzgeber als Zweck einer mündlichen Verhandlung dabei die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus auch die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Gericht vor Augen. Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 GRC stehen dem Absehen von einer Verhandlung nach dem VwGVG insbesondere dann nicht entgegen, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht und auch keine Fragen der Beweiswürdigung auftreten können, sodass eine Verhandlung nicht notwendig ist. Nach der Judikatur des EGMR kann zudem das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ein Absehen von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung rechtfertigen. Demnach kann der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung im Anwendungsbereich des VwGVG etwa in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden. Bei Missachtung der Verhandlungspflicht im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. VwGH 23.3.2023, Ra 2022/10/0110, mit Verweis auf VwGH 21.12.2021, Ra 2020/10/0077; 1.6.2021, Ro 2020/10/0002). Streitigkeiten über Sozialhilfeleistungen betreffen nach der Judikatur des EGMR zivile Rechte im Sinn von Art. 6 EMRK (vgl. nochmals VwGH 23.3.2023, Ra 2022/10/0110, mit Verweis auf VwGH 21.12.2021, Ra 2020/10/0077; 30.1.2014, 2012/10/0193; 27.3.2012, 2009/10/0084; 12.8.2010, 2008/10/0315).
14Ausführungen dazu, aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 24 Abs. 4 VwGVG ausgegangen ist, finden sich im angefochtenen Erkenntnis nicht. Das Verwaltungsgericht geht vielmehr davon aus, dass der Revisionswerber keinen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG gestellt habe. Dies trifft aber nicht zu, hat dieser doch ausdrücklich sollte (nicht bereits) die belangte Behörde der Beschwerde stattgeben um die „Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht“ ersucht. Dazu wurde in der Beschwerde erläuternd ausgeführt, die belangte Behörde habe ab Februar 2024 den Behindertenzuschlag außer Acht gelassen; dies sei vor etwas mehr als zwei Jahren bereits einmal Gegenstand einer Beschwerde gegen die belangte Behörde gewesen. Die belangte Behörde habe diesen Fehler seinerzeit korrigiert, sodass die Beschwerde damals zurückgezogen habe werden können. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes lag demnach ein Antrag des Revisionswerbers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor.
15 Für die Unterlassung der Durchführung der mündlichen Verhandlung fehlt es daher an einer nachvollziehbaren Begründung. Dass die Voraussetzungen für ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung jedenfalls gegeben gewesen wären, ist fallbezogen nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat nämlich für den Zeitraum vom 1. Februar 2024 bis zum 31. Juli 2024 sowohl die Versagung der von der belangten Behörde zuerkannten Wohnbeihilfe als auch die Versagung aller weiteren Leistungen (ausschließlich) damit begründet, dass wegen der im Beschwerdeverfahren unterlassenen Mitwirkung davon auszugehen sei, dass der Revisionswerber über „eine zusätzliche unbekannte Einnahmequelle bzw. Vermögen über dem Vermögensfreibetrag“ verfüge, sodass er imstande sei, „seinen Lebensunterhalt und Wohnbedarf zur Gänze selbständig abzudecken“. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat aber wenn das Verwaltungsgericht eine zusätzliche, die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzende Beweiswürdigung vornimmteine solche ergänzende Beweiswürdigung regelmäßig erst nach Durchführung einer Verhandlung zu erfolgen (vgl. VwGH 3.10.2017, Ra 2016/07/0002, mwN).
16Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.
17Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
18Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. Jänner 2025