Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, in der Revisionssache 1. der H A, 2. des M A, 3. der S A, und 4. des U A, alle vertreten durch Dr. Silvia Vinkovits, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Friedrich Schmidt Platz 4/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 2023, 1. W220 2269113 1/8E, 2. W220 2269107 1/5E, 3. W220 2269108 1/5E und 4. W220 22691111/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Zuerkennung des Status von Asylberechtigten) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien jeweils Aufwendungen von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweit- bis Viertrevisionswerber. Sie sind Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft.
2 Am 17. Oktober 2022 stellte die Erstrevisionswerberin für sich sowie für die Zweit- bis Viertrevisionswerber Anträge auf internationalen Schutz.
3 Mit den Bescheiden vom 27. Jänner 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte den Revisionswerbern im Familienverfahren den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.
4 Die gegen die Abweisung der Asylanträge gerichteten Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und wies die Anträge der Revisionswerber auf Aussetzung des Verfahrens zurück. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für zulässig.
5Die Zulassung der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliege, da sich der Verwaltungsgerichtshof im Wege der Vorabentscheidungsersuchen vom 14. September 2022, EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028) und EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425), hinsichtlich der Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten aufgrund der Kumulierung von einschränkenden Maßnahmen gegen Frauen und ob dafür die Betroffenheit aufgrund des Geschlechts ausreichend oder eine Prüfung der individuellen Situation erforderlich sei, an den Gerichtshof der Europäischen Union gewandt habe.
6 Das Bundesverwaltungsgericht legte die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision dem Verwaltungsgerichtshof samt den Akten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor. In dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeleiteten Vorverfahren wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die vorliegende Revision richtet sich gegen die Abweisung der Beschwerden der Revisionswerber hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten und schließt sich hinsichtlich ihrer Zulässigkeit der Begründung des Bundesverwaltungsgerichts an.
8Mit Beschluss vom 14. Dezember 2023, Ro 2023/19/0003 bis 0006, wurde das zulässige Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
9 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, diese Fragen beantwortet.
10Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils in den Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024, zu Ra 2021/20/0425 und zu Ra 2022/20/0028, mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im Revisionsfall erstattet wurde. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend den Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024 im Fall einer Situation, wie sie im Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.
12 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob eine Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.
13 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.
14 Entgegen dieser Rechtslage ist das Bundesverwaltungsgericht auch im Revisionsfall tragend davon ausgegangen, dass es für den Anspruch der Erstrevisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auf eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ der Erstrevisionswerberin ankomme und sie in ihrem Herkunftsstaat nach der Berichtslage zu den von den Taliban Frauen auferlegten Einschränkungen aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei.
15Somit ist aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch hier die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Erstrevisionswerberin mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG im angefochtenen Umfang aufzuheben war.
16Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 20.4.2023, Ra 2022/19/0028, mwN), weshalb auch das Erkenntnis über die Beschwerde der Zweit- bis Viertrevisionswerber im angefochtenen Umfang der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
17Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 3. Februar 2025