JudikaturBVwG

L508 2234463-2 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
16. Oktober 2024

Spruch

L508 2234463-2/34E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch RA MMag. Dr. Franz Stefan PECHMANN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.08.2024, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis V. des angefochtenen Bescheides wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VIII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbots gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG auf drei Jahre herabgesetzt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein Staatsangehöriger aus der Türkei und der türkischen Volksgruppe sowie der islamischen Religionsgemeinschaft zugehörig, reiste im Jahr 2003 gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Mutter in das österreichische Bundesgebiet ein.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (nachfolgend: BFA) vom 06.07.2020 wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz wurde gegen ihn ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Gem. § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt IV.). Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

3. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.09.2020 wurde der Beschwerde wider diesen Bescheid vom 06.07.2020 stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

4. Unter anderem aufgrund mehrerer strafgerichtlicher Verurteilungen wurde der BF mit Note des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.06.2021 darüber in Kenntnis gesetzt, dass erneut beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot zu erlassen.

Der BF nahm in der Folge von einer ihm eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme Gebrauch.

5. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2022 wurde wider den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde wider den BF ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

6. Am 07.02.2024 stellte der BF aus dem Stande der Verwaltungsverwahrungshaft einen Antrag auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensakts [im Folgenden: AS] 7, 21, 51).

7. Im Rahmen der Erstbefragung nach dem AsylG durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts am folgenden Tag (AS 5 - 19) gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, dass er zu seiner Familie nach Österreich gekommen sei und sich hier ein Leben aufgebaut habe. Sein Lebensmittelpunkt sei in Österreich. Er verfüge über keine sozialen Kontakte und keine Unterkunft in der Türkei. Seine Eltern seien pflegebedürftig und würden seine Hilfe benötigen. Er sei in Österreich aufgewachsen und hier integriert. In der Türkei hätte er nichts und könne er sich deshalb nicht vorstellen, in die Türkei zurückzureisen.

8. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 11.03.2024 (AS 63 - 68) erklärte der BF sodann - zu seinen Ausreisegründen befragt -, dass er keine Asylgründe hätte. Er wäre abgeschoben worden und hätte keine Zeit gehabt, einen Anwalt zu kontaktieren.

Im Zuge der Einvernahme legte der BF einen bis 01.04.2024 gültigen Arbeitsvorvertrag und eine Einstellungszusage vor (AS 59 - 61).

9. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 20.03.2024 (AS 93 - 174) wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde wider den BF ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Der BF machte im gegenständlichen Verfahren keine Asylgründe geltend (AS 106, 161). In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wurde, weshalb gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Ferner wurde erläutert, weshalb keine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe, einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde und weshalb gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz gegen den BF ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen worden sei.

10. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2024 (AS 175 ff) wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und dieser ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

11. Gegen den oa. Bescheid des BFA erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit Schriftsatz vom 16.04.2024 (AS 191 ff) in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Hinsichtlich des genauen Inhalts der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.

11.1. Zunächst wurde nach einer kurzen Darstellung des Verfahrensgangs und Wiederholung des wesentlichen Vorbringens moniert, dass das BFA den Bescheid erlassen habe ohne die Eltern des BF, welche die Ausführungen zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich belegen hätten können, vorab einzuvernehmen. Zudem sei im Bescheid keine einzelfallbezogene Gefährdungsprognose anhand konkreter Feststellungen und unter Berücksichtigung aller Abwägungsgründe vorgenommen worden. Die belangte Behörde sei verpflichtet gewesen, das Bestehen eines Privat- und Familienlebens zu überprüfen und dieses bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung bzw. des Einreiseverbots zu berücksichtigen.

11.2. In weiterer Folge wurde moniert, dass zudem der Grundsatz des Parteiengehörs gemäß § 45 Abs. 3 AVG verletzt worden sei. Hinsichtlich der Frage der Intensität der privaten Bindungen in Österreich sei die Verschaffung eines detaillierten persönlichen Eindrucks unabdingbar. Der BF habe nicht ausreichend Gelegenheit gehabt, auf die Feststellungen zu seinem Heimatland zu antworten bzw. zu reagieren.

11.3. Das von der belangten Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren sei grob mangelhaft gewesen, da diese ihrer nach §§ 37, 39 Abs. 2 AVG bestehenden konkretisierten Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts nicht nachgekommen sei. Hätte die Behörde ihre Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erfüllt, so hätte die Behörde korrekte Feststellungen getroffen. Es wurde daher auch beantragt, die Mutter und den Vater des BF als Zeugen zum Beweis des Privat- und Familienlebens des BF in Österreich einzuvernehmen.

11.4. Ferner würden sich die getroffenen Länderfeststellungen als unvollständig und teilweise unrichtig erweisen und sich kaum/ nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF befassen.

11.5. Bezüglich der Beweiswürdigung wurde ausgeführt, dass die belangte Behörde den Antrag des BF abgewiesen habe, weil sie dessen Gründe als nicht glaubhaft erachte. Diese Feststellung basiere auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung und einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung und verletze § 60 AVG.

11.6. Im Rahmen rechtlicher Ausführungen wurde dargelegt, dass dem Beschwerdeführer internationaler Schutz gemäß § 3 AsylG zu gewähren gewesen wäre. Die angeführten Verfahrensfehler seitens der belangten Behörde, deren mangelhafte Beweiswürdigung und unrichtige rechtliche Beurteilung hätten allerdings zu seiner Nichtgewährung geführt. Dem Beschwerdeführer hätte (zumindest) der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen, wenn die belangte Behörde ihre Ermittlungspflicht in angemessener Weise wahrgenommen und den vorliegenden Sachverhalt rechtlich richtig beurteilt hätte. Was die Spruchpunkte IV. und V. des angefochtenen Bescheides (Rückkehrentscheidung und Abschiebung) betrifft, so sei der angefochtene Bescheid inhaltlich rechtswidrig sei, weil die belangte Behörde verkannt habe, dass der BF durch eine Rückkehrentscheidung in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt werde. Das BFA habe eine mangelhafte Interessenabwägung vorgenommen und sei daher zu Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verhängung einer Rückkehrentscheidung zulässig wäre. Darüber hinaus würde eine Abschiebung den BF in seinen Rechten nach Art. 2, 3 und 8 EMRK verletzen. Der VwGH habe insbesondere ausgesprochen, dass in einem Fall, wo einem Fremden eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung im Herkunftsstaat drohen würde, die individuellen Schutzinteressen die öffentlichen Interessen grundsätzlich überwiegen würden. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung gem. § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG sei unzulässig, weil der BF offensichtlich keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle und daher eine sofortige Abschiebung aus diesen Gründen nicht erforderlich sei. Was den Spruchpunkt VIII. des angefochtenen Bescheides (Einreiseverbot) betrifft, so habe es das BFA unterlassen, eine individualisierte Gefährlichkeitsprognose zu treffen. Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbots sei die Behörde verpflichtet, im Rahmen einer Einzelfallprüfung eine eigene Prognosebeurteilung anzustellen. Der belangten Behörde sei vorzuwerfen, keine abschließende Beurteilung des Persönlichkeitsbildes des BF vorgenommen und die vermeintlich vom BF ausgehende Gefährdung nicht im erforderlichen Ausmaß geprüft zu haben. Die belangte Behörde unterlasse es vollständig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie lange die vermeintlich vom BF ausgehende Gefährdung zu prognostizieren sei. All diese Umstände würden die Mangelhaftigkeit der unzureichend durchgeführten Prognosebeurteilung unterstreichen. Allein die Tatsache, dass ein Tatbestand des § 53 Abs. 3 FPG erfüllt sei, entbinde die Behörde nicht von der Pflicht, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen eine Prognose über die Möglichkeit der schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Verbleib des Fremden zu treffen sei. Die belangte Behörde habe bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbots jedoch keine ausreichende Einzelfallprüfung vorgenommen, sodass nicht nachvollziehbar sei, aufgrund welcher Annahme das BFA zum Ergebnis komme, dass ein auf sechs Jahre befristetes Einreiseverbot angemessen sei. Insbesondere habe es die Behörde unterlassen die bestehenden privaten Anknüpfungspunkte des BF in Österreich entsprechend zu gewichten und den Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet. Das Einreiseverbot sei zu beheben und hilfsweise maßgeblich zu reduzieren.

11.7. Gemäß Artikel 47 Abs. 2 GRC habe jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt werde. Gem. § 21 Abs. 7 BFA-VG könne eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergebe, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspreche. Der VwGH habe im Zuge der Auslegung der Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ die folgenden Kriterien erarbeitet. Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde müsse die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde dürfe kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht bleiben könne wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstoße.

In der gegenständlichen Beschwerde sei die Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens aufgezeigt worden. Zudem sei der Beweiswürdigung des Bundesamtes substantiiert entgegengetreten worden. Da die entscheidungswesentlichen Feststellungen von der Beurteilung der Glaubwürdigkeit abhängig seien, habe sich das BVwG einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer zu verschaffen.

11.8. Abschließend wurde beantragt,

- eine mündliche Verhandlung durchzuführen;

- falls nicht alle zu Lasten des Beschwerdeführers gehenden Rechtswidrigkeiten des angefochtenen Bescheides geltend gemacht wurden, diese amtswegig aufzugreifen;

- den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen;

- den angefochtenen Bescheid bezüglich der Spruchpunkte II. bis VIII. zu beheben und dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen;

- den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot aufgehoben, die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikels 8 EMRK erteilt werde;

- hilfsweise die Unzulässigkeit der Abschiebung in die Türkei festzustellen und auszusprechen, dass der Aufenthalt des BF gemäß § 46a FPG geduldet sei;

- hilfsweise das Einreiseverbot auf eine angemessene Dauer herabzusetzen;

- hilfsweise eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren;

- hilfsweise den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen

- hilfsweise die ordentliche Revision zuzulassen. Zudem wurde angeregt, dass Bundesverwaltungsgericht wolle der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkennen.

11.9. Der Beschwerde sind der bereits vorgelegte bis 01.04.2024 gültige Arbeitsvorvertrag, die bereits vorgelegte Einstellungszusage, eine fachärztliche Stellungnahme gemäß Gesundheitsverordnung-Führerscheingesetz eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 05.04.2024, eine Teilnahmebestätigung bezüglich eines Nachschulungskurses gemäß § 2 FSG-NV für alkoholauffällige Lenker vom 21.03.2024 und ein Zeugnis zur Integrationsprüfung - Niveau B1 des ÖSD (AS 209 - 214) angeschlossen.

11.10. Mit diesem Rechtsmittel wurde kein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet, welches geeignet wäre, zu einer anderslautenden Entscheidung zu gelangen.

12. Am 19.04.2024 wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Anfrage an das Amt der Wiener Landesregierung, Magistratsabteilung 35 - Fachbereich gestellt (OZ 4), um nähere Informationen bezüglich eines aktuellen Aufenthaltstitels des BF zu erlangen und langte am 29.04.2024 die bezughabende Anfragebeantwortung ein, wonach der BF über keinen gültigen Aufenthaltstitel nach dem NAG verfüge (OZ 13).

13. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.04.2024 (OZ 8) wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

14. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für 02.08.2024 eine öffentliche mündliche Verhandlung an. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte des Weiteren das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für die Türkei (Version 8, Datum der Veröffentlichung: 07.03.2024) und stellte dem BF eine Stellungnahme hierzu bis spätestens eine Woche vor der mündlichen Verhandlung frei. Ferner wurde der BF aufgefordert bis spätestens eine Woche vor der Verhandlung eine umfassende Stellungnahme zu seinem Privat- und Familienleben abzugeben sowie sämtliche Unterlagen hinsichtlich seiner Integration in Vorlage zu bringen.

15. Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung wurden seitens des Bundesverwaltungsgerichts - soweit möglich - die Akten des Bezirksgerichts XXXX zur Zahl XXXX und des Bezirksgerichts XXXX zur Zahl XXXX sowie des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zu den Zahlen XXXX und XXXX beigeschafft (OZ 9, 10, 12).

16. Mit E-Mails vom 24.07.2024 und 25.07.2024 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Amtshilfe die Landespolizeidirektion Wien zunächst um Übermittlung eines Auszugs aus der Verwaltungsstrafevidenz und in der Folge um die Übermittlung jener Straferkenntnisse (Anzeigen), bei welchen der Beginn der Tilgungsfrist mit 28.05.2024 datiert ist (OZ 20, 22). Den jeweiligen Ersuchen wurde seitens der Landespolizeidirektion Wien - soweit möglich - entsprochen (OZ 21, 23, 26, 27 f).

17. Mit Eingabe vom 26.07.2024 (OZ 25) erstattete der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung eine Stellungnahme. Demnach befänden sich die Eltern und drei Geschwister in Österreich. Mit Ausnahme der Mutter, die einen Daueraufenthalt habe, würden alle Familienangehörigen über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen. Zudem sei der BF eine Entlastung für seine Eltern, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters auf Unterstützung angewiesen seien. Der BF habe zwar noch fünf in der Türkei lebende Schwestern. Zu diesen bestünde jedoch seit ca. 2016 kein Kontakt mehr. Der BF habe in der Vergangenheit - auch während seines letzten Haftaufenthalts - in Österreich gearbeitet. Er sei arbeitsfähig und -willig. Er verfüge über eine Einstellungszusage und einen Arbeitsvorvertrag bei einer Firma für eine Tätigkeit als Fleischer. Der BF habe ein aktives Freundesleben in Österreich. In der Türkei besitze er aufgrund seines über 20 Jahre andauernden Aufenthalts in Österreich keine Freunde mehr. Der BF habe seit ca. zehn Jahren eine Lebensgefährtin, die ebenfalls in Österreich lebe. Seit seiner Entlassung aus der Haft sei er für die Dauer eines Jahres einmal pro Woche im Verein Neustart in Betreuung. In der Vergangenheit habe er an einer Alkoholsucht gelitten. Infolgedessen habe er in seiner Haft eine entsprechende Therapie in Anspruch genommen. In der Zwischenzeit habe der BF seine Alkoholsucht erfolgreich überwunden und sei seit mehr als drei Jahren abstinent. Eine Verbindung zu seinem Herkunftsstaat sei nicht mehr gegeben. Er sei nach Auskunft eines von ihm beauftragten türkischen Rechtsanwalts geschieden. Die ehemalige Ehegattin lebe in der Türkei. Mit ihr habe er einen Sohn, der sich bei ihr in der Türkei befinde. Der letzte Kontakt zu seiner ehemaligen Gattin sei im Jahr 2016 erfolgt. Nach der Entlassung des BF aus der Haft im Februar 2024 habe der bislang letzte telefonische Kontakt zu seinem Sohn stattgefunden. In der Türkei lebe zwar seine ehemalige Ehegattin, sein Sohn und fünf Schwestern. Außer gelegentlichen Kontakten mit seinem Sohn habe er aber keinen Kontakt zu diesen Personen.

Der Stellungnahme sind der bereits vorgelegte bis 01.04.2024 gültige Arbeitsvorvertrag, die bereits vorgelegte Einstellungszusage und die bereits vorgelegte fachärztliche Stellungnahme gemäß Gesundheitsverordnung-Führerscheingesetz eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 05.04.2024 angeschlossen.

18. Am 02.08.2024 wurde vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung abgehalten (OZ 30), an welcher der Beschwerdeführer, der mit seiner rechtsfreundlichen Vertretung erschien, teilnahm. Die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter, beantragte jedoch die Abweisung der Beschwerde. Im Verlauf der mündlichen Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt, Erörterung der aktuellen Länderberichte zur Situation in der Türkei sowie ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers als Partei und der Eltern als Zeugen.

19. Hinsichtlich des Verfahrenshergangs und des Parteivorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Verfahrensbestimmungen

1.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

1.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.

1.3. Prüfungsumfang

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

2. Zur Entscheidungsbegründung:

Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes und der am 02.08.2024 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt.

Aufgrund des vorliegenden Verwaltungsaktes, des Ergebnisses des ergänzenden Ermittlungsverfahrens sowie der Beschwerdeverhandlung ist das erkennende Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

2.1. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens gelangt das BVwG nach Maßgabe unten dargelegter Erwägungen zu folgenden entscheidungsrelevanten Feststellungen:

2.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und dessen Fluchtgründen:

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Türken an und ist islamischen Glaubens.

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Kopf der Entscheidung genannten Namen und wurde zum dort angegebenen Datum geboren.

Dem Beschwerdeführer fehlt es an persönlicher Glaubwürdigkeit.

Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an.

Der Beschwerdeführer entfaltete während seines Aufenthalts in Österreich kein maßgebliches (exil-)politisches Engagement.

Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Der Beschwerdeführer stellte den Antrag auf internationalen Schutz um seinen Aufenthalt in Österreich aufgrund privater Interessen zu prolongieren. Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat weder aus Gründen der politischen Gesinnung noch aus anderen Gründen (einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Gefahr von) intensiven staatlichen Übergriffen oder intensiven Übergriffen von Privatpersonen ausgesetzt. Es kann sohin nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der GFK asylrelevant verfolgt bzw. dessen Leben bedroht wurde beziehungsweise dies im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte.

Es konnten im konkreten Fall auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Türkei in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würde.

Im Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in seinem Heimatland festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Beschwerdeführer leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Aktuelle ärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen, hat der BF nicht in Vorlage gebracht.

Der Beschwerdeführer befindet sich in einem arbeitsfähigen Zustand und Alter.

Der Beschwerdeführer ist geschieden und Vater eines minderjährigen Sohnes. Der Beschwerdeführer wurde im Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray in der Region Zentralanatolien geboren, wuchs dort auf und lebte vor seiner Ausreise unter normalen Lebensumständen. Er besuchte in der Türkei die Schule und erlangte einen Maturaabschluss. Der minderjährige Sohn, die ehemalige Ehegattin, fünf Schwestern und mehrere Tanten, Onkel und Cousins leben nach wie vor im Herkunftsstaat. Sein Sohn und seine ehemalige Ehegattin wohnen im Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray bei seiner ehemaligen Schwiegermutter und eine Schwester wohnt in Istanbul. Die Wohnorte der anderen Familienangehörigen waren nicht feststellbar. Die Eltern des Beschwerdeführers reisen regelmäßig zu Urlaubszwecken und/oder Verwandtenbesuchen, zuletzt im Jänner 2024, in die Türkei. Sollte der Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie in der Türkei tatsächlich abgebrochen sein, läge dem kein nachhaltiges Zerwürfnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Familie zugrunde, das eine neuerliche Kontaktaufnahme in jedem Fall ausschließen würde.

Der Beschwerdeführer verließ gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Mutter die Türkei legal Anfang des Jahres 2003 und reiste im Wege einer Familienzusammenführung im Alter von 18 Jahren legal in das Bundesgebiet ein. Ihm wurde ein unbefristeter Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ zuerkannt. Dieser war zuletzt bis 21.08.2017 gültig. Aufgrund mehrerer Straftaten wurde das unbefristete Aufenthaltsrecht seitens der zuständigen Niederlassungsbehörde mit Bescheid vom 11.10.2017 beendet und der BF auf den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ mit Gültigkeit bis 11.10.2018 zurückgestuft. Am 06.09.2018 beantragte er die Verlängerung dieses Aufenthaltstitels. Das Verlängerungsverfahren wurde indes infolge der rechtskräftigen Entscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2022 seitens der zuständigen Niederlassungsbehörde gem. § 25 Abs. 2 NAG eingestellt. Gegen ihn bestand seit 10.03.2022 eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung. Der Ausreiseverpflichtung in die Türkei kam er nicht nach. Am 07.02.2024 stellte der BF den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bevor er diesen Antrag stellte, hielt er sich daher längere Zeit unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Erst mit der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz ist der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet wieder zulässig und verfügt er erst seit der Beschwerde gegen die Entscheidung des BFA aufschiebende Wirkung zukommt - infolge der daraus resultierenden Zulassung des Antrags - wieder über ein Aufenthaltsrecht.

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise, abgesehen von regelmäßigen urlaubsbedingten Unterbrechungen, durchgehend in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer verfügt über kein Aufenthaltsrecht für Österreich außerhalb des Asylverfahrens.

Der Beschwerdeführer führt erst seit seiner Haftentlassung im Februar 2024 mit einer türkischen Staatsangehörigen, die über einen bis 07.05.2029 gültigen Aufenthaltstitel (Daueraufenthalt - EU) verfügt, eine Beziehung. Er lernte sie zwar bereits vor einigen Jahren - der genaue Zeitpunkt kann nicht festgestellt werden - kennen, führte indes vor seiner letzten Haft lediglich eine lose On-Off-Beziehung mit ihr. Der Beschwerdeführer und seine Freundin verfügen über keinen gemeinsamen Haushalt und der Beschwerdeführer erhält keine finanzielle Unterstützung von ihr. Die beiden sind nicht verheiratet und es gibt auch keine konkreten Pläne für eine Hochzeit. Die beiden haben keine Kinder. Zwischen den beiden besteht kein finanzielles oder anderweitiges (wechselseitiges) Abhängigkeitsverhältnis. Eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen den beiden trat im Verfahren nicht zutage, wobei besonders hervorzuheben ist, dass diese Person nicht einmal ein Unterstützungsschreiben für den BF verfasste oder diesen zur Einvernahme vor dem BFA bzw. zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht als Vertrauensperson begleitete. Der BF kennt weder ihren Familienstand, noch ihr Geburtsdatum oder ihre Wohnadresse. Der Beschwerdeführer und seine Freundin waren sich beim Eingehen der Beziehung im Februar 2024 und allen nachfolgenden Schritten des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst.

In Österreich halten sich abgesehen von einem Onkel, einem Cousin und einer Cousine die Eltern, ein Bruder und zwei Halbschwestern des BF auf. Sein Vater, sein Bruder und seine Halbschwestern sind österreichische Staatsangehörige. Seine Mutter verfügt über einen bis 20.05.2025 gültigen Aufenthaltstitel (Daueraufenthalt - EU). Der BF wohnt seit seiner Haftentlassung im Februar 2024 wieder bei seinen Eltern. Die Umgangssprache des Beschwerdeführers mit seinen Eltern ist Türkisch. Der Bruder wohnt in der Nähe zum BF und dessen Eltern etwa fünf Minuten Fahrzeit mit dem Auto entfernt. Zwischen dem BF und seinen Familienangehörigen besteht kein ausgeprägtes finanzielles oder anderweitiges (wechselseitiges) Abhängigkeitsverhältnis. Die Eltern sind gesund und erweisen sich als nicht hilfsbedürftig. Ebenso wenig bedarf der an Schizophrenie leidende Bruder der Hilfe des BF, zumal dieser von seinen Eltern unterstützt werden kann.

Im Falle der Rückkehr in die Türkei könnte der Beschwerdeführer den Kontakt zu seiner Freundin und seinen Familienangehörigen auf unterschiedlichem Wege aufrechterhalten (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte im Herkunftsstaat oder in einem Drittstaat etc.). Es steht dem Beschwerdeführer zudem frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung einer Wiedereinreise nach § 26a FPG bzw. Art. 25 des EU-Visakodex und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen.

Der Beschwerdeführer verfügt hier über einen normalen Freundes- und Bekanntenkreis. Zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Bekannten/Freunden besteht kein ein- oder wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis und auch keine über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindung. Der Beschwerdeführer brachte keine Unterstützungserklärungen in Vorlage.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich die ÖSD Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz (Niveau: B1) und zu Werte- und Orientierungswissen bestanden. Er verfügt über gute Deutschkenntnisse, die es ihm erlauben eine alltagstaugliche Konversation in deutscher Sprache zu führen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Maler- und Anstreicherlehre begonnen, die Ausbildung bzw. Berufsschule indes nicht abgeschlossen. Des Weiteren machte er eine Ausbildung zum Fleischhauer, wobei er diesbezüglich die Lehrabschlussprüfung nicht ablegte. Er absolvierte erfolgreich einen Lehrgang als Metallschweißer beim Berufsförderungsinstitut und eine Ausbildung zum Baggerfahrer. Ferner erhielt er eine Ausbildung zum Lagerlogistiker in deren Rahmen er den „Staplerschein“ erwarb. Er kann jedoch keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen.

Der Beschwerdeführer war von 09.02.2004 bis 05.05.2004, von 12.07.2004 bis 14.07.2004, von 02.05.2005 bis 30.09.2005, von 20.05.2008 bis 25.09.2008, von 01.10.2008 bis 15.10.2008, von 23.12.2008 bis 18.07.2009, von 28.09.2009 bis 05.11.2009, am 11.11.2009, am 23.11.2009, von 01.12.2009 bis 03.07.2010, von 01.09.2010 bis 04.09.2010, von 20.09.2010 bis 05.10.2010, von 01.03.2011 bis 31.03.2011, von 27.02.2012 bis 02.03.2012, von 03.04.2012 bis 19.04.2012, am 11.07.2012, am 13.07.2012, am 17.07.2012, von 19.07.2012 bis 20.07.2012, am 24.07.2012, am 01.08.2012, am 03.08.2012, von 17.07.2014 bis 29.08.2014, von 10.06.2017 bis 09.09.2017, von 05.01.2018 bis 10.02.2018, von 07.03.2018 bis 23.03.2018, von 29.03.2018 bis 04.08.2018, von 19.10.2018 bis 30.10.2018, von 09.11.2018 bis 14.11.2018, von 14.11.2018 bis 26.01.2019 und von 12.09.2020 bis 06.02.2021 als (geringfügig beschäftigter) Arbeiter(lehrling) und von 01.04.2011 bis 14.05.2011 und von 19.05.2011 bis 20.05.2011 als Angestellter bei verschiedenen Arbeitgebern vorwiegend im Bau- und Reinigungsbereich sowie in Fleischereien beschäftigt.

In den Zeiträumen ohne aufrechtes Beschäftigungsverhältnis von 13.03.2006 bis 27.03.2006, von 08.01.2007 bis 09.02.2007, von 05.03.2007 bis 08.03.2007, von 23.07.2009 bis 03.09.2009, von 14.09.2009 bis 27.09.2009, von 24.11.2009 bis 30.11.2009, von 04.08.2010 bis 31.08.2010, von 05.09.2010 bis 19.09.2010, von 06.10.2010 bis 25.11.2010, von 09.02.2011 bis 26.03.2011, von 24.08.2020 bis 03.11.2020 und von 12.11.2020 bis 17.03.2021 bezog der Beschwerdeführer Arbeitslosengeld und in den Zeiträumen von 27.03.2011 bis 31.03.2011, von 21.05.2011 bis 05.07.2011, von 08.07.2011 bis 03.09.2011, von 13.02.2012 bis 26.02.2012, von 03.03.2012 bis 02.04.2012, von 23.05.2012 bis 27.05.2012, von 28.06.2012 bis 27.01.2013, von 29.01.2013 bis 06.02.2013, von 16.02.2013 bis 06.03.2013, von 09.03.2013 bis 15.09.2013, von 17.09.2013 bis 25.09.2013, von 01.10.2013 bis 03.10.2013, von 10.10.2013 bis 13.10.2013, von 18.10.2013 bis 12.02.2014, von 15.02.2014 bis 20.02.2014, von 22.02.2014 bis 01.03.2014, von 08.03.2014 bis 13.03.2014, von 09.04.2014 bis 16.07.2014, von 30.08.2014 bis 05.09.2014, von 07.09.2014 bis 08.10.2014, von 12.10.2014 bis 17.10.2014, von 19.10.2014 bis 22.10.2014, von 27.10.2014 bis 25.05.2015, von 24.11.2015 bis 24.10.2016, von 31.01.2017 bis 09.04.2017, von 13.04.2017 bis 14.02.2018, von 26.02.2018 bis 06.03.2018, von 25.03.2018 bis 14.08.2018 und von 06.09.2018 bis 08.11.2018 Notstands- bzw. Überbrückungshilfe. In den Zeiträumen von 22.04.2012 bis 23.04.2012 und von 16.02.2019 bis 16.05.2019 bezog der BF Krankengeld.

Der Beschwerdeführer bezog bislang keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Der BF ist gegenwärtig nicht erwerbstätig. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt von Ersparnissen aus seinen Haftzeiten und mithilfe seiner in Österreich lebenden Eltern. Der Beschwerdeführer verfügt über eine an den Erhalt eines gültigen Aufenthaltstitels mit Zugang zum Arbeitsmarkt geknüpfte Einstellungszusage für eine Beschäftigung als Fleischer in Teilzeitstellung (21 Wochenstunden) zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von ca. € 1.150,--.

In der Vergangenheit arbeitete der BF während der Verbüßung einer Haftstrafe im Zuge eines Freigangs ehrenamtlich als Fahrer für die Caritas. Er leistet aktuell keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit und ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist als erwerbsfähig anzusehen, etwaige - eine Teilnahme am Arbeitsleben ausschließende - gesundheitliche Einschränkungen des Beschwerdeführers sind nicht aktenkundig.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 30.03.2005, XXXX , wegen des Vergehens des versuchten Betruges - als junger Erwachsener - nach §§ 15, 146 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je € 2,00, insgesamt € 80,00 (im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen), verurteilt. Der Beschwerdeführer hat im August 2004 in Wien mit einem weiteren Täter durch Täuschung über Tatsachen, nämlich durch Vorgabe Hanftee als Cannabiskraut zu verkaufen, versucht, sich dadurch unrechtmäßig zu bereichern und das Opfer dadurch am Vermögen zu schädigen. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd die bisherige Unbescholtenheit und dass es beim Versuch geblieben ist, als erschwerend kein Umstand berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 08.08.2007, XXXX , wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Absatz 1, erster Fall StGB und des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde. Der Beschwerdeführer hat im Februar 2007 in Wien vorsätzlich Beamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich der Klärung eines angezeigten Sachverhalts und seiner Festnahme, dadurch zu hindern versucht, dass er einem Polizeibeamten Schläge gegen den Oberkörper versetzte sowie in weiterer Folge versuchte, diesen Polizeibeamten und einen weiteren Polizeibeamten durch Fußtritte und Schläge mit der Hand zu treffen, wobei ein Polizeibeamter und der BF zu Sturz kamen, und durch die vorhin genannten Tätlichkeiten einem Beamten während und wegen der Vollziehung seiner Aufgaben, eine leichte Verletzung, nämlich mehrere Hautabschürfrungen am 2. bis 4. Finger links, eine Hautabschürfung am rechten Handrücken sowie eine Hautabschürfung an beiden Kniegelenken zugefügt. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 08.02.2011, XXXX , wegen des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Absatz 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Ein Strafteil von fünf Monaten wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21.08.2014 XXXX , wurde die Probezeit auf insgesamt fünf Jahre verlängert. Der Beschwerdeführer hat in Wien im November 2010 eine unbekannte weibliche Person durch Gewalt, nämlich Festhalten, zu einer Unterlassung, nämlich dem Aussteigen aus der Straßenbahnlinie der Linie 52, zu nötigen versucht und im November 2020 zwei im Urteil namentlich genannte Personen gefährlich bedroht, um diese in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er ein Messer gegen sie richtete. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, als erschwerend eine einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen von zwei Vergehen berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21.08.2014, XXXX , wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 4 iVm Abs. 1 StGB und des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer hat in Wien im Juli 2012 als Zeuge in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung vor der Kriminalpolizei bei einer förmlichen Vernehmung zur Sache vor einem Beamten der Bundespolizeidirektion Wien/Büro für besondere Ermittlungen durch die Behauptungen, er wäre am 18.07.2012 in einem Polizeifahrzeug auf der Rückbank zwischen zwei Beamten gesessen und der neben ihm sitzende Polizist hätte ihm einen Faustschlag gegen dessen rechte Augenbraue versetzt, was eine Schwellung oberhalb des rechten Auges zur Folge gehabt hätte, falsch ausgesagt und zwei Polizeibeamte durch das vorangehend beschriebene Verhalten der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt, indem er einen an der Amtshandlung beteiligten männlichen Exekutivbeamten, der ca. 25 Jahre alt, von schlanker Statur sei, dunkle Haare habe und ca. 180 cm groß sei, einer von Amts wegen zu verfolgenden mit Strafe bedrohten Handlung, nämlich des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, falsch verdächtigt, wobei er wusste (§ 5 Abs. 3), dass die Verdächtigung falsch ist. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd die lange Verfahrensdauer, als erschwerend eine einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 03.09.2015, XXXX , wegen des Vergehens der Beleidigung nach § 115 Absatz 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde. Der Beschwerdeführer hat im Februar 2015 in Wien öffentlich einen Polizeibeamten durch die Äußerungen „Polizistenarschloch“, „Du kannst mir meinen Schwanz blasen gehen, geh deine Mutter ficken“ sowie „leckt mich am Arsch“ beleidigt. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd das Geständnis und das Anerkenntnis, als erschwerend vier Vorstrafen berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 31.01.2017, XXXX , wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung nach §§ 15, 83 Absatz 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer hat im Oktober 2016 in Wien eine Person vorsätzlich am Körper zu verletzen versucht (§ 15 StGB), indem er diese am Hals packte, wobei ihn die Person jedoch wegstoßen konnte und im Anschluss an die vorangehend dargestellte Handlung gefährlich mit einer Verletzung am Körper bedroht, indem er ein 20 cm langes Küchenmesser mit abgebrochener Klingenspitze aus seiner Jackentasche zog und dieses der Person zeigte, um sie ihn Furcht und Unruhe zu versetzen. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd das Geständnis, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und das lange Zurückliegen der Vorstrafen, als erschwerend zwei einschlägige Vorstrafen und das Zusammentreffen zweier Vergehen berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27.05.2019, XXXX , wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB und wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer hat im April 2019 seine Eltern gefährlich mit dem Tod sowie mit einer Verletzung am Körper bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, nämlich seinen Vater und seine Mutter, indem er mit einem Küchenmesser hantierte und dabei äußerte: „Ich werde öfters auf euch einstechen!“ sowie „Ich werde euch eines Tages umbringen. Dich, Vater, werde ich auch umbringen. Ihr werdet beide in meinen Armen sterben!“ und im Anschluss an die vorangehend beschriebene Tathandlung seine Mutter, indem er ankündigte: „Ich werde dich umbringen und deinen Mann werde ich auch umbringen!“ und im März 2019 fremde Sachen, nämlich die Fenster zu einer im Urteil genau bezeichneten Gemeindewohnung beschädigt, indem er die Scheiben mehrerer Fenster mit einem Stein einschlug. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd kein Umstand, als erschwerend vier einschlägige Vorstrafen, das Zusammentreffen strafbaren Handlungen und die Tatbegehung gegenüber den Eltern (Angehörige) berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde nach Erhebung einer Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 09.11.2021, XXXX , mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 28.06.2022, XXXX , wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten und einer Woche verurteilt. Bei den dieser Verurteilung zugrundeliegenden Taten hat der Beschwerdeführer vier im Urteil namentlich genannte Personen jeweils gefährlich mit dem Tod bedroht, um diese in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er mit einem ausgeklappten Taschenmesser mit einer Klingenlänge von 6 cm in aggressiver Weise auf die Männer zuging, mit dem Messer fuchtelte, Stichbewegungen in Richtung dieser Personen ausführte und dabei äußerte „Ich habe das Messer nun draußen und werde einen von euch kaputt machen“. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd der Umstand, wonach das gegen den Täter geführte Verfahren aus einem nicht von ihm oder seinem Verteidiger zu vertretenden Grund unverhältnismäßig lange gedauert hat, als erschwerend vier einschlägige Vorstrafen, das Zusammentreffen von vier Vergehen und der rasche Rückfall berücksichtigt.

Der BF wurde in den vergangenen Jahren zudem wegen mehrerer Verwaltungsübertretungen rechtskräftig bestraft. So verhängte die zuständige Verwaltungsstrafbehörde gegen den Beschwerdeführer unter anderem rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 20.06.2020 wegen Verletzung des § 99 Abs. 1 lit a iVm § 5 Abs. 1 StVO eine Geldstrafe in Höhe von € 4.500,00, im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe in Höhe von 32 Tagen und 21 Stunden. Der BF hat im Februar 2020 in Wien ein Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigen Zustand gelenkt, wobei die Atemalkoholuntersuchung mittels geeichtem Alkomaten einen Alkoholgehalt der Atemluft von 0,86 mg/l ergab. Ferner verhängte die zuständige Verwaltungsstrafbehörde gegen den Beschwerdeführer rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 18.05.2024 wegen Übertretung des § 82 Abs. 1 SPG und des § 1 Abs. 1 Z 2 und 2 WLSG Geldstrafen in Höhe von € 500,00, € 600,00 und € 600,00, im Nichteinbringungsfall Ersatzfreiheitsstrafen in Höhe von 14 Tagen, 5 Tagen und 23 Stunden und 5 Tagen und 23 Stunden. Der BF hat sich im Mai 2024 in Wien durch das nachfolgend beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten. Er nahm eine aggressive Kampfhaltung ein, brüllte wild auf die Beamten ein und ging mit drohenden Handbewegungen auf die Polizisten zu, wobei er mehrmals die gebotene Nahdistanz unterschritt. Ferner hat er durch das lautstarke Herumgeschreie von Wortfolgen wie „Fickt euch!“, „Scheiß Polizei!“, welche für die übrigen Hausparteien und Passanten deutlich hörbar waren, ungebührlicherweise störenden Lärm erregt und durch die lautstarke Verwendung dieser Fäkalsprache und Verbalinjurien den öffentlichen Anstand verletzt.

Im Zuge der Verbüßung seiner letzten Haftstrafe nahm der Beschwerdeführer zur Überwindung seiner Alkoholsucht an einer entsprechenden Therapie teil. Seit seiner Entlassung aus der Haft sucht der BF wöchentlich den Verein Neustart zwecks Betreuung seiner Person auf. Der BF absolvierte von 29.02.2024 bis 21.03.2024 erfolgreich einen Nachschulungskurs für alkoholauffällige Lenker. Laut fachärztlicher Stellungnahme vom 05.04.2024 besteht beim BF derzeit kein Hinweis auf einen gehäuften Alkoholmissbrauch und/oder Alkoholabhängigkeit und konnte deshalb eine Erteilung der Lenkerberechtigung der Gruppe 1 wegen ausreichend langer Abstinenz ( 3 Jahre) befürwortet werden.

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des Beschwerdeführers in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.

Er hat abgesehen von seinem mehr als 21-jährigen Aufenthalt in Österreich sein Leben bis zu seiner Ausreise Anfang 2003 in der Türkei verbracht, wo er auch sozialisiert wurde und wo sich mehrere engste Familienangehörige aufhalten.

Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei wieder bei Familienangehörigen, konkret seinen Geschwistern, wohnen wird können. Davon abgesehen ist der Beschwerdeführer als arbeitsfähig und -willig anzusehen, was einerseits durch die in der Vergangenheit in Österreich erfolgte Verrichtung einer Erwerbstätigkeit und andererseits durch die Schilderungen des Beschwerdeführers, in Österreich auch zukünftig wieder einer Arbeit nachgehen zu wollen, belegt wird. Der Beschwerdeführer spricht Türkisch.

Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nicht vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei festzustellen ist.

2.1.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei war insbesondere festzustellen:

Zur Lage in der Türkei werden unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen folgende - mit Note vom 04.07.2024 bzw. im Zuge der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführte - Länderfeststellungen dem Verfahren zugrunde gelegt:

Politische Lage

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.).

Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).

Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).

Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).

Das Präsidialsystem

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022a, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).

Machtfülle des Staatspräsidenten

Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, S. 13-15; vgl.EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, S. 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 14).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).

Monitoring des Europarates

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, S. 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022).

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).

Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).

Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vgl. EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, S. 29).

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).

Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Divergierende Einschätzungen der Gülen-Bewegung

Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn/BPB 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016) und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn/BPB 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).

Historische Kooperation zwischen Gülen-Bewegung und AKP-Regierung

Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfassungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach. Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Militärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, S. 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Insbesondere das Gesetz über anonyme Zeugen aus 2008 wurde vor allem von der Gülen-Bewegung genutzt. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sondergerichte konnten jeden Fall, den sie wollten, in Zusammenarbeit einleiten und die gewünschte Entscheidung herbeiführen. Die AKP hat diese Situation in jeder Hinsicht unterstützt (Mezopotamya 2.8.2022). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014; vgl. Cagaptay o.D., S. 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen "tiefen Staat" kämpft (Cagaptay o.D., S. 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulation von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vgl. Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014).

Schrittweise Kriminalisierung durch den Staat: von der kriminellen Vereinigung zur Terrororganisation

Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S. 4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (BPB 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung verfolgte ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich und zerschlug Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern und enteignete diese teilweise (AA 24.8.2020, S. 4).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als bewaffnete terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 1.2.2018, S. 8; vgl. Sabah 17.6.2017).

Es ist unklar, wie viele Gülenisten es in der Türkei gab. Selbst als die Gülen-Bewegung noch eine juristische Person war, war es schwierig, ihre genaue Mitgliederzahl zu bestimmen, da sie keine Mitgliedsausweise an neue Mitglieder ausstellte. Da die Gülenisten in der Türkei zu einer verdeckten Existenz bestimmt waren, war es unmöglich, die aktuelle Größe dieser Bewegung im Land zu ermitteln (MBZ 31.8.2023, S. 41).

In der Vergangenheit umfasste die Gülen-Bewegung in der Türkei verschiedene Einrichtungen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen. Die herausragende Qualität und der gute Ruf dieser Organisationen zogen sowohl engagierte Gülenisten als auch solche an, die der Bewegung nicht angehörten. Daher waren in der Vergangenheit Millionen von Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise mit der Gülen-Bewegung verbunden. Angesichts dieses früheren Umfanges der Gülen-Bewegung war es nicht immer klar, wie die türkischen Behörden entschieden, gegen welche Gülenisten sie vorgehen sollten (MBZ 31.8.2023, S. 42). Folglich ist es durchaus möglich, dass jemand an einer Gülen-Einrichtung studiert, für diese gearbeitet, oder etwa ein Konto bei der Asya Bank (galt als Hausbank der Gülen-Bewegung) gehabt hat, ohne Gülenist im ideologischen Sinne zu sein. Eine solche Person kann dennoch mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden und infolgedessen persönliche Probleme mit den türkischen Behörden bekommen. Umgekehrt konnten in einigen Fällen wohlhabende tatsächliche oder angebliche Gülenisten persönliche Probleme mit den türkischen Behörden vermeiden, indem sie korrupte Beamte bestachen. Diese Praxis ist als FETÖ Borsası (wörtlich "FETÖ-Börse") bekannt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern oder die Übergabe eines Unternehmens konnte ein (mutmaßlicher) Gülenist erreichen, dass sein erzwungener beruflicher Rücktritt rückgängig gemacht oder er von der Fahndungsliste gestrichen wurde. Zudem gab es Fälle von AKP-Politikern, die Verbindungen zur Gülenbewegung hatten, aber durch ihren politischen Einfluss einer strafrechtlichen Verfolgung entrannen (MBZ 2.3.2022, S. 36, 38).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 28.7.2022, S. 4; vgl. UKHO 1.2.2018, S. 6). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Ausmaß der Verfolgung

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden laut Justizminister Yılmaz Tunç - Stand Juli 2023 - gegen 693.162 Personen, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden, Gerichtsverfahren eingeleitet, und gegen 67.893 Personen laufen noch Ermittlungen. Insgesamt wurden bislang 122.632 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert und 97.139 freigelassen. 1.634 vermeintliche Mitglieder wurden in 289 Verfahren im Zusammenhang mit dem Putschversuch zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt (DS 13.7.2023). Rund 1.400 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und mehr als 1.800 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Offiziellen Angaben zufolge befanden sich im Juli 2023 noch 15.539 vermeintliche Gülen-Anhänger in Haft (SCF 17.7.2023) bzw. im August 2023 gemäß dem Justizminister 15.050 in regulärer oder Untersuchungshaft (HRW 11.1.2024).

Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 540.000 Personen (zeitweise) festgenommen. Über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker wurden entlassen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete, inklusive Wissenschaftler, wurden entlassen (MEI 20.10.2022, S 2; vgl. SCF 5.10.2020).

Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten. Die Verhaftungen erfolgen in Wellen und können sich über das ganze Land erstrecken. Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei vom Februar 2022 1.244 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (AnA 17.2.2022).

Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Anfang 2023 angeführt [Anm.: Weiter zurückliegende Beispiele finden sich in älteren Länderinformationen zur Türkei]: Nachdem im Oktober 2022 in einer der größten Operationen mindestens 660 vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung verhaftet (DS 18.10.2022) wurden, die meisten unter Verdacht Geld gesammelt oder weiterverteilt zu haben, das von Gülen-Anhängern aus dem Ausland geschickt worden war (Ahval 18.10.2022; vgl. DS 18.10.2022), setzten auch 2023 sich die Verhaftungen von vermeintlichen Mitgliedern oder Anhängern der Gülenbewegung fort. - Am 30.1.2023 verhaftete die Polizei zehn Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung (BAMF 6.2.2023, S. 11). Tags darauf wurden im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft Ankara eingeleiteten Untersuchung Haftbefehle gegen 35 Akademiker erlassen, die vormals an Gülen-Universitäten tätig waren. Bei Polizeioperationen in 32 Provinzen wurden 27 Personen festgenommen (BAMF 6.2.2023a, S. 11; vgl. HDN 1.2.2023). Mitte März 2023 wurden 58 Personen, darunter Lehrer, Geschäftsleute, aktive und entlassene Militäroffiziere und ehemalige Kadetten wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen (SCF 17.3.2023). Nur wenige Tage später wurden 47 Personen bei einer Operation in İzmir, die auch in den Provinzen İstanbul, Ankara, Samsun und Muğla durchgeführt wurde, festgenommen, weil sie den Familien von Personen geholfen hatten, die wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert waren. Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung führte die Polizei Hausdurchsuchungen bei 57 Verdächtigen durch, nahm 47 von ihnen fest und beschlagnahmte ihre Ersparnisse, Schmuck, Mobiltelefone und Computer (SCF 20.3.2023; vgl. AnA 19.3.2023). Ende April bis Anfang Mai 2023 wurden über 30 Personen, darunter Lehrer, Studenten und Geschäftsleute, aufgrund von Haftbefehlen der Staatsanwaltschaften von Istanbul, Ankara und Bursa wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet (SCF 5.5.2023). Neu im Amt, gab Innenminister Ali Yerlikaya bekannt, dass allein im Juni 2023 bei 513 Operationen gegen die Gülen-Bewegung 748 Personen festgenommen und 130 von ihnen inhaftiert wurden (Sözcü 6.7.2023; vgl. TM 7.7.2023). Am 7.10.2023 wurde die Festnahme von 132 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern, vornehmlich im Militär- und Polizeiappart, vorgenommen (BNN 7.10.2023), gefolgt von der Festnahme weiterer 30 Verdächtiger in der ersten Novemberwoche 2023 durch die Polizei in Ankara, darunter angeblich auch hochrangige Anführer der Gülen-Bewegung (ILKHA 7.11.2023). Kurz vor Jahresende 2023 gab Innenminister Ali Yerlikaya bekannt, dass 445 aktive Polizisten, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen, suspendiert wurden und weiterführende Untersuchungen eingeleitet wurden (HDN 30.12.2023). Das Jahr 2024 begann Mitte Jänner mit der Verhaftung von 18 Verdächtigen der Gülen-Bewegung. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft und das Büro für Organisierte Kriminalität beschuldigten die Verdächtigen, als "geheimer Imam der Polizei", "privater Imam", "Gymnasialleiter" und "wichtiger regionaler Buchhalter" tätig zu sein (DS 16.1.2024a).

Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 18.3.2021, S. 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AlMon 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen].

Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S. 9; vgl. Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.1.2019, S. 10). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 38, JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.1.2019, S. 11); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 28.7.2022, S. 7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. SCF 6.8.2019).

Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen (MBZ 18.3.2021, S. 38f.). Während praktisch jeder mit einem Gülen-Hintergrund strafrechtlich belangt werden kann, stehen mutmaßliche Gülenisten im Sicherheitsapparat, wie Militärs und Gendarme, besonders im Visier. Auch Personen, die Führungspositionen in Gülen-Institutionen wie den Gülen-Schulen, der Fatih-Universität in Istanbul und der Tageszeitung Zaman innehatten, fallen den Behörden eher negativ auf (MBZ 2.3.2022, S. 38).

Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen, oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein (MBZ 2.3.2022, S. 39). Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (MBZ 18.3.2021, S. 41). Zu dieser Unberechenbarkeit trägt u.a. der Umstand bei, dass die Behörden weder objektive Kriterien verwenden, noch sie diese konsequent anwenden (MBZ 2.3.2022, S. 39). Selbst Personen, die keine Gülenisten waren, wie Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und linke Gewerkschaftsmitglieder, wurden beschuldigt, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 31.8.2023, S. 43).

Die Verwandten von hochrangigen Gülenisten sind besonders gefährdet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen (MBZ 2.3.2022, S. 41). So wurde nebst Selahaddin Gülen, ein Neffe Fetullah Gülens, der bereits 2021 vom Nationale Nachrichtendienst MİT von Kenia in die Türkei verbracht wurde, auch Asiye Gülen, eine Nichte Fetullah Gülens, und deren Ehemann im Juni 2023 in Istanbul festgenommen (MBZ 31.8.2023, S. 45). Und Mitte Juli 2023 verhafteten die Istanbuler Polizei und der Geheimdienst MİT Selman Gülen, einen weiteren behördlich gesuchten Neffen Fetullah Gülens, die Frau des Ersteren, Nur Gülen, sowie deren Eltern (DS 14.7.2023). Es gab jedoch auch mehrere Fälle von Familien, die einen Gülen-Unterstützer in ihren Reihen hatten, ohne dass die Angehörigen Probleme mit den türkischen Behörden hatten (MBZ 2.3.2022, S. 41).

Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter" (TM 5.3.2021). Diese Kriterien sind in vier Kategorien gruppiert, nämlich: jene, die unmittelbar den Kernbereich des Privatlebens der profilierten Person betreffen; diejenigen, die sich auf das Berufsleben (ab der Kadettenzeit) der Person beziehen; diejenigen, die sich auf das soziale Umfled und die Zugehörigkeit der profilierten Person beziehen; diejenigen, die sich auf die Verwandten der profilierten Person beziehen (Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021). Zu den Kritierien gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool u.a. etwa eine Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).

Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren, und Bekannte innerhalb des sozialen Umfeldes von Gülen-Mitgliedern brechen die Kontakte ab (MBZ 31.8.2023, S. 44f.). Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden (MBZ 2.3.2022, S. 41). Infolgedessen haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder auch ihren Arbeitsplatz verloren oder fanden keine (neue) Anstellung (MBZ 31.8.2023, S. 46). Auch das "FETÖ-Meter" wurde als Instrument, vor allem in der Armee, eingesetzt, um Personen zu entlassen. Zu Entlassungen kam es selbst aufgrund einer Verwandtschaft (Ehepartners, Geschwister) mit einem angeblichen Gülen-Mitglied, das z.B. ein Konto bei der Asya Bank hatte oder ein angeblicher Bylock-Benützer war (Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 21-26). Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (MBZ 18.3.2021, S. 43).

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Zu den Kernforderungen der PKK gehören eine kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung für die Kurden in ihren Siedlungsgebieten in der Türkei, aber auch im Nordirak und im Norden Syriens an. Maßgeblich bleibt hierbei allein die von den Führungskadern vorgegebene Parteilinie (BMIH/BfV 20.6.2023, S. 241; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH/BfV 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021).

Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21).

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i.e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien (gegen den Islamischen Staat) brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27f.). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 1.6.2016). Der sog. Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).

Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 18.12.2023 4.573 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe (ICG 8.1.2024). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak (BMIBH 15.6.2021, S. 261).

Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans)

Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC Sentinel 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer Abdullah Öcalan verhaftet worden war (CEP 3.6.2021; vgl. SWP 16.12.2016). Für Rayk Hähnlein von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sind die TAK eine urbane Jugendorganisation, die vor allem benachteiligte und ideologisch leicht beeinflussbare kurdische Jugendliche in den Städten des Südostens anspricht, deren Idol Abdullah Öcalan ist. Das Durchschnittsalter liegt bei rund 25 Jahren. Keiner ihrer Selbstmordattentäter war älter als 30 Jahre. Der militärische Arm der PKK hatte damit einen radikalen und eigenständigen Stadtableger geschaffen, um das bis dahin vor allem auf den ländlichen Raum konzentrierte Netzwerk zu erweitern und für junge Städter attraktiv zu machen (SWP 16.12.2016). Die TAK gelten jedenfalls als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl ebenso unbekannt ist wie die internen und externen Dynamiken (AlMon 29.2.2016; vgl. LSE 8.3.2017). Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AlMon 29.2.2016).

Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab (CEP 3.6.2021; vgl. SWP 16.12.2016). Zwischen 2010 und 2015 setzten die TAK ihre Anschläge aus, um die Annäherung und den Friedensprozess zwischen AKP-Regierung und PKK nicht zu gefährden. Erst nach dessen Scheitern im Sommer 2015 und den sich anschließenden militärischen Großoffensiven gegen die PKK in Cizre, Silopi und anderen Städten begaben sich die TAK wieder auf den Pfad der Gewalt (SWP 16.12.2016). Seit 2004 haben die TAK mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 16.1.2024; vgl. CEP 3.6.2021). Während die PKK behauptet, nur Polizei und Militär anzugreifen, wird weithin angenommen, dass sie die TAK als Fassade benutzt, um Angriffe in Städten durchzuführen, in denen ein hohes Risiko für zivile Opfer besteht, um eine weitere internationale Verurteilung zu vermeiden (AlMon 20.4.2022).

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C möglich (BMIH/BfV 20.6.2023, S. 251). Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). Hauptfeinde sind die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und der "US-Imperialismus". Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen (BMIH/BfV 7.6.2022, S. 245, 295; vgl. CEP 3.6.2021; S. 7). Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIH/BfV 20.6.2023, S. 252; vgl. EU 16.1.2024). Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein (BMIBH 15.6.2021, S. 274).

Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. - Mitte Juni 2022 wurden bei gleichzeitigen Operationen in sieben Provinzen 22 Verdächtige verhaftet, denen eine Mitgliedschaft in der DHKP-C unterstellt wurde (Sabah 15.6.2022). Und Ende November 2022 wurde Gulten Matur, ein Führungsmitglied der Organisation, in Istanbul verhaftet (AnA 28.11.2022). Ebenfalls im November 2022 verurteilte das 18. Hohe Strafgericht in Istanbul 19 Anwälte, die der 2017 behördlich geschlossenen "Progressiven Anwaltsvereinigung (ÇHD)" angehörten, wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C und Verbreitung der Propaganda der DHKP/C zu insgesamt 146 Jahren Gefängnis. Das höchste Einzelurteil betrug 21 Jahre und acht Monate (SCF 16.11.2022). Mitte Dezember 2023 wurden zwölf Mitglieder der DHKP-C bei Operationen in Istanbul und Tunceli (Dersim) festgenommen (DS 12.12.2023).

Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens

2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. BS 23.2.2022a, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022a), und dies trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022a). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. EC 8.11.2023, S. 23, USDOS 20.3.2023a, S. 2, 16). In seiner Entschließung vom 13.9.2023 bekräftigte das Europäische Parlament uneingeschränkt den Inhalt der Entschließung aus dem Vorjahr im Sinne, dass die "dargestellte desolate Lage in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor unverändert ist" (EP 13.9.2023, Pt. 8). Bei der Anwendung des EU-Besitzstands und der europäischen Standards im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte befindet sich die Türkei laut der Europäischen Kommission (EK) noch in einem frühen Stadium. Laut EK kam es sogar zu Rückschritten (EC 8.11.2023, S. 23). In diesem Zusammenhang betonte die Präsidentin der Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (MEDEL), der Vereinigung der Europäischen Richter für Demokratie und Freiheit, Mariarosaria Guglielmi, im Juni 2023, dass die türkischen Bürgerinnen und Bürger aufgrund der jahrelangen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, des harten Zugriffs der politischen Mehrheit auf den Obersten Justizrat und der Massenverhaftungen und Prozesse gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte derzeit keinen wirksamen gerichtlichen Schutz ihrer Grundrechte genießen. Diese Situation wird durch die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung noch verschärft, die zu einem mächtigen Instrument für die Verfolgung von Oppositionellen und all jenen, die unrechtmäßig verhaftet wurden, durch die Justiz geworden ist (MEDEL 23.6.2023).

Faires Verfahren

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9).

Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11).

Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019). Ein jüngstes, prominentes Beispiel hierfür:

In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023a S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023a, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).

Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand

"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl.ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022).

Politisierung der Justiz

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7f.).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (Bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).

Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2023 auf Rang 117 von 142 Ländern (2021: Platz 116 von 140 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator viel weiter auf 0,41 ab (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 133 von 142) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 137 von 142) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 12.2023).

Konflikt der Höchstgerichte und dessen Politisierung durch die Regierung

Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11f.; vgl. LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, das für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1.11.2023 eine Klage gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts ein. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete Atalay noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere Tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben, denn die Klage wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Kassationsgerichts eingereicht, also bei jener Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben (LTO 29.11.2023).

Sicherheitsbehörden

Die Regierung (Exekutive) verfügt weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften. Der Umfang des militärischen Justizsystems wurde eingeschränkt. Höhere zivile Gerichte überprüfen weiterhin Berufungen gegen Entscheidungen von Militärgerichten. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte bleibt jedoch unvollständig, da es keine wirksamen Rechenschaftsmechanismen gibt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17).

Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023a, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u.a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 7.2023, S. 2, 19).

Die Polizei und die Gendarmerie, türkisch Jandarma, die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (USDOS 20.3.2023a, S. 1, ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2023, S. 19; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 7.2023, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 196.285 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21; vgl. BICC 7.2023, S. 18, 26). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2023, S. 18, 26).

Es gab Berichte, dass Gendarmerie-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). [Siehe hierzu u.a. das Kapitel Flüchtlinge]. Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten, welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (BAMF 2.2023, S. 1; vgl. USDOS 13.3.2019).

Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Gendarmerie, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2022, S. 19).

Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, S. 6).

Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023; S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u.a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).

Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen. Das Verfassungsgericht räumte dem Parlament eine Frist von neun Monaten ein, um das genannte Urteil in ein Gesetz zu gießen (MBZ 31.8.2023, S. 20).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen. Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 22f.).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).

Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen selbst über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren halten an. Folter und Misshandlungen erfolgen dabei in Anhaltezentren, Gefängnissen, informellen Anhaltezentren sowie auch im öffentlichen Raum (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32, EC 8.11.2023, S. 31, İHD/HRA 6.11.2022a). Auch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe weist in seinem Bericht über den Besuch in der Türkei im Mai 2019 auf Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung durch Beamte gegenüber Festgenommenen mit dem Ziel von Geständnissen oder als Strafe hin (die Berichte über den Besuch im Jänner 2021 und über den Ad-hoc-Besuch im September 2022 wurden bislang nicht veröffentlicht). Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann nach derzeitigem Wissensstand dennoch nicht die Rede sein (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022). In Bezug auf die Türkei zeigte sich auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) "besorgt über Berichte, die darauf hinweisen, dass trotz der "Null-Toleranz"-Botschaft der Behörden die Anwendung von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnis in den letzten Jahren zugenommen hat und die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich überschattet. Die Versammlung begrüßt die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen Verstöße gegen das Verbot von Misshandlungen festgestellt und neue Untersuchungen von Beschwerden angeordnet wurden, und ermutigt andere nationale Gerichte, dieser Rechtsprechung zu folgen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CoE-PACE 11.12.2023).

Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizei- und Gendarmeriegewahrsam und -gefängnissen wurden selten gründlich untersucht und die Täter noch seltener strafrechtlich verfolgt. Neben anhaltenden Berichten über grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Überbelegung in Abschiebezentren, in denen Ausländer, einschließlich Asylbewerber, bis zum Abschluss des Abschiebungsverfahrens in Verwaltungshaft genommen werden, gab es gut dokumentierte Fälle, in denen Soldaten und Gendarmerie auf Migranten und Asylbewerber schossen oder diese schwer misshandelten, die versuchten, die Grenze von Syrien zur Türkei zu überqueren (HRW 11.1.2024).

In den Tagen nach den Erdbeben im Februar 2023 gab es mehrere Berichte über Vorfälle im Katastrophengebiet, bei denen einfache Bürger von Polizisten, Gendarmen Polizisten, Gendarmen, Soldaten oder Nachbarschaftswächtern misshandelt oder gefoltert wurden. Gerechtfertigt wurde dies mit dem Vorwurf der Plünderung. Besonders vulnerabel waren hier wiederum die syrischen Flüchtlinge (HRW 11.1.2024; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 39, AlMon 21.2.2023, DW 16.2.2023).

Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 20.3.2023a, S. 5).

Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD/HRA 6.11.2022a, S. 11; vgl. TİHV/HRFT 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung, grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und in Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 12.1.2023b, vgl. İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). Auch der Polizei wird vorgeworfen, dass deren Personal im Falle von Menschenrechtsverletzungen weitgehend unbelangt bleibt. So berichtete 2022 der damalige Innenminister Süleyman Soylu infolge einer parlamentarischen Anfrage, dass lediglich zwölf von 2.594 Polizeioffizieren, welche in den vergangenen fünf Jahren verdächtigt wurden, exzessive Gewalt angewendet zu haben, in irgendeiner Weise bestraft wurden (TM 21.1.2022).

In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte (HRW 12.1.2023a). Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 11.1.2024). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).

Reaktionen des Verfassungsgerichts und der Behörden auf Foltervorwürfe

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).

Die Opfer von Misshandlungen oder Folter können sich zwar an formelle Beschwerdeverfahren wenden, doch sind diese Mechanismen nicht besonders wirksam. Dies gab Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Autonomie staatlicher Stellen wie der Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu (Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei, TİHEK, engl. Abk.: HREI ) und der Ombudsperson. So ist die TİHEK mehreren Quellen zufolge bei der Bearbeitung von Berichten über Misshandlungen und Folter weder effizient noch autonom. Die TİHEK führt zwar offizielle Besuche in den Gefängnissen durch, doch geht es dabei in erster Linie um hygienische Fragen und nicht um Fälle von Misshandlung und Folter. Die Beamten auf den Polizeidienststellen zeigen häufig kein Interesse an der Bearbeitung von Beschwerden im Zusammenhang mit staatlich geförderter Gewalt. Die Opfer haben bessere Erfolgsaussichten, wenn sie ihre Beschwerden direkt bei der Staatsanwaltschaft einreichten, vor allem, wenn sie durch stichhaltige Beweise wie medizinische Berichte oder Videomaterial untermauert waren. Derselben Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge riskieren Bürger, die Vorfälle staatlich geförderter Gewalt meldeten, wegen Verleumdung angeklagt zu werden (MBZ 31.8.2023, vgl. S. 40). Auch die Europäische Kommission stellte im November 2023 fest, dass, obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, die TİHEK/ HREI nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) erfüllt und Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 8.11.2023, S. 31).

Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter nicht nur wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen, sondern es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (MBZ 18.3.2021, S. 34; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30).

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) beklagte anlässlich ihres Jahresberichts aus dem Jahr 2022 ein Andauern der Folterpraxis. Hierbei spricht die Menschenrechtsvereinigung die Problematik an, wonach die Dokumentation von Folter ein weiteres Problem darstellt, da die türkische Justiz nur die Berichte des Instituts für Rechtsmedizin als Beweismittel akzeptiert, was bedeutet, dass Folter nur von einer offiziellen Experteninstitution dokumentiert werden kann, wobei das Institut für Rechtsmedizin eine staatliche Einrichtung ist, und somit völlig dem politischen Willen unterworfen (İHD/HRA 27.9.2023b). Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung wurden im Jahr 2022 1.452 Fälle von Folter in Haft und weitere 2.947 (darunter 42 Kinder) außerhalb (extra-custodial places) vermeldet. 277 Fälle wurden aus den Gefängnissen gemeldet. 4.553 Personen wurden anlässlich von Protesten durch Sicherheitskräfte geschlagen und verwundet (İHD/HRA 27.9.2023a).

Der Jahresbericht 2022 über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, der von der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), verfasst wurde, hat 5.361 Vorfälle von Folter oder Misshandlung im Jahr 2022 aufgedeckt, wobei 80 der Betroffenen Minderjährige waren. Laut dem Bericht von Tanrıkulu, einem prominenten Menschenrechtsaktivisten und stellvertretenden Vorsitzenden eines parlamentarischen Ausschusses für Menschenrechte, befanden sich unter den 5.381 Personen 1.280 Fälle von Folter oder Misshandlung in Haftanstalten (SCF 7.2.2023). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S. 26).

Allgemeine Menschenrechtslage

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).

Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).

Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).

Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Allgemeine Situation der Meinungs- und Medienfreiheit

Die Türkei befindet sich laut Europäischer Kommission hinsichtlich der Meinungsfreiheit noch in einem frühen Stadium. Die in den letzten Jahren beobachteten gravierenden Rückschritte haben sich fortgesetzt. Die Umsetzung der Strafgesetze in Bezug auf die nationale Sicherheit und die Terrorismusbekämpfung verstößt weiterhin gegen die EMRK und weicht von der Rechtsprechung des EGMR ab. Es kommt weiterhin zu Fällen von Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten, Künstlern und Nutzern sozialer Medien. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen beeinträchtigt (EC 8.11.2023, S. 33f.).

Die Türkei verschlechterte sich im World Press Freedom Index 2023 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] merklich innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder, nämlich um 16 Plätze, von Rang 149 auf Platz 165. Verschlechtert hat sich auch der absolute Wert von 41,25 auf 33,97 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert] (RSF 3.5.2023).

Presse- und Medienfreiheit - Medien als Instrument der Regierung

Die türkischen Mainstream-Medien, die einst für einen lebhafteren Ideenkonflikt sorgten, sind zum Glied einer straffen Befehlskette mit von der Regierung genehmigten Schlagzeilen, Titelseiten und Themen für Fernsehdebatten geworden. Die größten Medienmarken werden von Unternehmen und Personen kontrolliert, die Staatspräsident Erdoğan und seiner AK-Partei (AKP) nahestehen, nachdem diese seit 2008 eine Reihe von Übernahmen getätigt haben. Sie beeinflussen wesentlich die Berichterstattung. Der Trend verstärkte sich im Zuge des gescheiterten Putschversuches vom Juli 2016, als danach 150 vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehende Media-Outlets liquidiert wurden. Die letzte große Übernahme war 2018 jene der Tageszeitung Hürriyet sowie anderer Medien des regierungskritischen Verlegers und Milliardärs Aydin Doğan durch die regierungsnahe Demirören Gruppe (REU 31.8.2022). Somit gelten gegenwärtig 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 37, FH 10.3.2023, D1). Wirtschaftseliten mit engen Verbindungen zu Erdoğan werden beschuldigt, Journalisten zu bestechen und eine negative Presse gegen die Opposition zu inszenieren (FH 10.3.2023, D1).

Da 90 % der nationalen Medien inzwischen von der Regierung kontrolliert werden, hat sich die Öffentlichkeit in den letzten fünf Jahren an den Rest der kritischen oder unabhängigen Medien verschiedener politischer Couleur gewandt, um sich über die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Krise auf das Land zu informieren. Dazu gehören lokale Fernsehsender wie Fox TV, Halk TV, Tele1 und Sözcü sowie internationale Nachrichten-Websites wie BBC Turkish, Voice of America (VOA) Turkish und die Deutsche Welle Turkish (RSF 3.5.2023).

Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu - RTÜK), die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom AKP-kontrollierten Parlament ernannt (FH 10.3.2023, D1)

Ein weiteres Instrument der Druckausübung ist die staatliche Presse-Anzeigenagentur [auch: Pressewerberat] (Basın İlan Kurumu - BİK). Diese ist für die Vergabe staatlicher Anzeigen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel an die Printmedien und seit 18.10.2022 auch an digitale Medien zuständig, eine wichtige Einnahmequelle für die Medien. Medien sind vor allem nach kritischer Berichterstattung gegen Regierungsmitglieder immer wieder von Anzeigensperren betroffen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43). Wenn die BİK feststellt, dass ein Medien-Artikel gegen seinen Ethikkodex verstößt, bestraft sie die betreffende Zeitung mit der Aussetzung der staatlichen Werbung, d. h. der Werbung der Regierung und der ihr nahestehenden Einrichtungen, wie z. B. der staatlichen Banken. So wurden 2020 fast alle Suspendierungen gegen die fünf bekanntesten unabhängigen Zeitungen verhängt. Zusammen wurden den fünf Zeitungen rund vier Millionen Lira an staatlichen Werbegeldern für das Jahr 2020 entzogen (REU 31.8.2022).

Das Europäische Parlament zeigte sich 2021 "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und die staatlichen Pressewerberat (BİK), der als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S. 12, Pt. 27; vgl. RSF 3.5.2023). Zwischen Mitte Juni 2022 und März 2023 verhängte der RTÜK 1.768 Bußgelder gegen Medien. Im gleichen Zeitraum verhängten türkische Gerichte 128 Sendeverbote gegen TV-Stationen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43f.; vgl. FH 10.3.2023, D1). Schon im Juni 2022 forderte das EP den Vorsitzenden des RTÜK auf, "die übermäßige Verhängung von Geldbußen und Sendeverboten, mit denen die legitime Meinungsfreiheit von Journalisten und Rundfunksender aus der Türkei eingeschränkt wird, einzustellen" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 14).

Anweisungen an die Nachrichtenredaktionen kommen, auch via Telefon oder Whatsapp, oft von Beamten aus der Direktion für Kommunikation (İletişim Başkanlığı), die für die Beziehungen zu den Medien zuständig ist. Die Direktion unter der Leitung von Fahrettin Altun ist eine Schöpfung Erdoğans und beschäftigt rund 1.500 Mitarbeiter. 48 Auslandsbüros in 43 Ländern beobachten überdies, wie im Ausland über die Türkei berichtet wird. Bei wichtigen Nachrichten, die Erdoğan oder seine Regierung in Bedrängnis bringen könnten - insbesondere bei Ereignissen, die die Wirtschaft oder das Militär betreffen - setzt sich Altun laut Reuters-Quelle regelmäßig mit Redakteuren und leitenden Korrespondenten in Verbindung, um einen Plan für die Berichterstattung aufzustellen (REU 31.8.2022).

Druck auf Medien und Verfolgung von Journalisten und anderen Kritikern

Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck und werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 10.3.2023, D1; vgl. BS 23.2.2022a, S. 10). Die Behörden ordnen regelmäßig die Löschung kritischer Online-Inhalte oder negativer Berichterstattung über Minister, den Staatspräsidenten und Mitglieder der Justiz an (HRW 11.1.2024).

Das massive Vorgehen gegen die Pressefreiheit und die systematische Unterdrückung unabhängiger Medien in der Türkei setzte sich nach den verheerenden Erdbeben im Februar 2023 und im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 fort. Die von der Europäischen Kommission finanzierte Medienbeobachtungsplattform Mapping Media Freedom (MFRR) verzeichnete im Zeitraum Jänner bis Juni 2023 eine Rekordzahl von Verstößen gegen die Presse- und Medienfreiheit im Land - 136 Fälle, an denen 172 Personen oder Medienunternehmen beteiligt waren. Willkürliche Verhaftungen, strafrechtliche Anklagen und Verurteilungen wurden immer wieder eingesetzt, um Journalisten einzuschüchtern und kritische und unabhängige Berichterstattung zum Schweigen zu bringen (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12). Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit der "Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation", mit Terrorpropaganda (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12), "provokativen Inhalten" (AA 28.7.2022, S. 9), "Beleidigung von Amtsträgern" und "offene Aufstachelung zum Hass und zur Feindschaft" begründet (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12).

Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere auf Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 28.7.2022, S. 9) über Korruption berichten (REU 31.8.2022; vgl. AA 28.7.2022, S. 9, FH 10.3.2023, D1). Am 1.11.2023 sind zum Beispiel die beiden Journalisten Tolga Şardan und Dinçer Gökçe wegen des Vorwurfs der "Verbreitung falscher Informationen" getrennt voneinander vorübergehend festgenommen und angeklagt worden. Einen Tag später verhaftete die Polizei den Online-Kolumnisten Cengiz Erdinç wegen desselben mutmaßlichen Tatbestands (Mit Stand Ende 2023 immer noch in Haft). Die drei Medienschaffenden hatten zuvor über Korruption in der türkischen Justiz berichtet (BAMF 31.12.2023, S. 5; vgl. BIRN 2.11.2023).

Die Türkei ist nach wie vor eines jener Länder weltweit, das am häufigsten Journalisten inhaftiert (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12). Mit Stand 2.2.2024 waren laut Media and Law Studies Association (MLSA) mindestens 38 Journalisten und Medienmitarbeiter inhaftiert (MLSA 2.2.2024). Das Europäische Parlament verurteilte im September 2023 "die anhaltende Verfolgung, Zensur und Drangsalierung von Journalisten und unabhängigen Medien in der Türkei; [und war] außerdem besorgt darüber, dass gezielt gegen türkischstämmige Journalisten sowie politische Gegner in der EU vorgegangen wird" (EP 13.9.2023, Pt. 12).

Der Druck auf Journalisten dauert an. Ihre Arbeitssituation ist schwierig, die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe sowie im Medienbereich allgemein hoch. Zukunftsängste und mangelnde Jobsicherheit begünstigen ebenso die Selbstzensur (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43) wie die Furcht vor Repressionen durch rechtliche und wirtschaftliche Schritte im Falle von Kritik an der Regierung (USDOS 20.3.2023a, S. 33; vgl. BS 23.2.2022a, S. 10). Journalisten sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche oftmals nicht geahndet werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43; vgl. BS 23.2.2022a; S. 10, USDOS 20.3.2023a, S. 33). Tätlich angegriffen werden vor allem diejenigen, die über Politik, Korruption oder Verbrechen berichten (FH 10.3.2023, D1). Körperliche Übergriffe auf Journalisten erfolgen sowohl durch die Polizei als auch durch Privatpersonen, in seltenen Fällen auch mit tödlichen Folgen. - Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Eigentümer und Chefredakteur einer Lokalzeitung, vor seinem Büro in Ízmit erschossen. Er prangerte die örtliche Korruption und die Mafia an (SZ 21.2.2022).

Journalisten wurden auch wegen der Berichterstattung über Proteste strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 11.1.2024; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzu kommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020).

Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates dienten - z. B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die beispielsweise über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020).

Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, "den Staat und die Regierung zu verunglimpfen". Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S. 12; vgl. Independent 13.12.2021).

Verhaftet wegen Terrorunterstützung werden jedoch nicht nur Journalisten. - So wurde etwa die Vorsitzende des medizinischen Berufsverbands TTB, Şebnem Korur Fıncancı, nach einem TV-Interview der Terrorpropaganda beschuldigt und verhaftet, weil sie Aufklärung zu möglichen Chemiewaffen-Einsätzen der türkischen Armee im Nordirak forderte, nachdem eine Delegation der Organisation "Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges" Ende September im Nordirak vermeintlich einige indirekte Indizien für mögliche Verletzungen der Chemiewaffenkonvention gefunden hatte. Staatspräsident Erdoğan beschuldigte Fincanci ihr Land beleidigt zu haben und "die Sprache der Terrororganisation" PKK zu sprechen (FR 27.10.2022; vgl. AP 27.10.2022). Am 11.1.2023 verurteilte das Gericht die Medizinerin zu zwei Jahren, acht Monaten und 15 Tagen Gefängnis. Allerdings wurde Fincanci im Anschluss an die Urteilsverkündung umgehend freigelassen. Haftstrafen von weniger als drei Jahren werden in der Türkei selten vollstreckt (Standard 11.1.2023; vgl. DW 11.1.2023).

Mitunter kommt es auch zum Publikationsverbot von Büchern. - Ein Gericht verbot im Herbst 2022 den Vertrieb und Verkauf eines Buches der ehemaligen, inhaftierten HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ mit dem Titel "Mauern werden eingerissen", in dem es u.a. um die Ausgangssperren im Sommer 2015 geht, und zwar wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" (NaT 10.9.2022; vgl. Mezopotamya 8.9.2022).

Urteile des Verfassungsgerichts

Das Verfassungsgericht allerdings, das mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, dass die von der staatlichen BİK verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Den betroffenen Zeitungen mussten jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022; vgl. REU 31.8.2022). Als Folge gab die BİK bekannt, dass sie die Verhängung von Strafen für Verstöße gegen die Berufsethik ausgesetzt habe. Die Regierung schwieg zum Urteil des Verfassungsgerichts (REU 31.8.2022).

Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (CoE-PACE 22.4.2021, S. 4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des Letzteren die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021).

Meinungsfreiheit

Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 20.3.2023a, S. 33). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022). Allerdings reduzierte sich der Anteil im Jahr 2023. Nur mehr zehn von 72 Fällen, bei denen zumindest ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, betrafen die Meinungsfreiheit (ECHR 1.2024).

Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/ Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes). Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen. Die Justizreformstrategie sieht zwar eine Änderung von Art. 7(2) Antiterrorgesetz dahingehend vor, dass die Äußerung von Gedanken, die nur der Berichterstattung und/oder der Kritikausübung dienen, kein Vergehen mehr darstellen sollen. Sie wird aber weiterhin als zu vage gesehen und begünstigt willkürliche Auslegungen, weil der Terminus "terroristische Propaganda" nicht klar definiert wird. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 41). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9).

Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards, so die Europäische Kommission. Die selektive und willkürliche Anwendung von Rechtsvorschriften gibt überdies weiterhin Anlass zur Sorge, da sie gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts auf ein faires Verfahren verstößt. Trotz gesetzlicher Änderungen, mit denen die Notwendigkeit einer soliden Beweisgrundlage bei "Katalogdelikten" eingeführt wurde, werden Fälle im Zusammenhang mit der freien Meinungsäußerung weiterhin in die Kategorie der Straftaten zugeordnet, die automatisch eine "Untersuchungshaft" erfordern (EC 8.11.2023, S. 34f.). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Letztere stimmt nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein (CoE-PACE 22.4.2021, S. 3). Zwar stellt nunmehr Art. 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 9).

Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021). Die Behörden hatten Kiliç im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig (inklusive des türkischen Richters), dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kılıç eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wurde (DW 31.5.2022; vgl. AP 31.5.2022). Fünf Jahre nach der ersten Verhaftung erging im November 2022 das Urteil des Kassationsgerichts zu den Verurteilungen von Taner Kılıç (verurteilt zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation) und drei weiteren Menschenrechtsverteidigern (verurteilt zu 25 Monaten wegen Unterstützung einer Terrororganisation) im Fall Büyükada. Der Fall von Taner Kılıç wurde wegen "unvollständiger Ermittlungen" aufgehoben und an das Gericht der ersten Instanz zurückverwiesen (AI 22.11.2022).

Die Behörden klagen Bürger, darunter auch Minderjährige, wegen Beleidigung der Staatsführung und Verunglimpfung des "Türkentums" an. Fürsprecher der Meinungsfreiheit wiesen darauf hin, dass führende Politiker und Abgeordnete von Oppositionsparteien zwar regelmäßig mehrfach wegen solcher Beleidigungen angeklagt wurden, im umgekehrten Falle, nämlich der Beleidigung von Oppositionellen, AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023a, S. 42). Insbesondere Oppositionspolitiker, darunter gewählte Mandatare sehen sich mit Strafverfolgung und Verurteilung wegen Beleidigung von staatlichen Würdenträgern oder des türkischen Staates bzw. des Türkentums konfrontiert (FH 3.3.2021; vgl. Duvar 8.12.2022a, HRW 14.12.2022, Evrensel 14.12.2022).

Auch gegen Rechtsanwälte wird vorgegangen. - Im Jänner 2021 erteilte das Justizministerium die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen zwölf Mitglieder der Anwaltskammer von Ankara. Die Anwälte wurden der "Beleidigung eines Amtsträgers" beschuldigt, weil sie homophobe und diskriminierende Äußerungen des Präsidenten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, geäußert während eines Freitagsgebets, kritisiert hatten. Im April 2021 akzeptierte das zuständige Gericht in Ankara die Anklage. Im Juli 2021 wurden auch Ermittlungen gegen Mitglieder der Anwaltskammern von Ístanbul und Ízmir wegen "Beleidigung religiöser Werte" genehmigt (AI 29.3.2022a).

Ein Beispiel der Beleidigung der türkischen Nation, der Regierung und der Staatsorgane war im November 2022 der Präsident der Istanbuler Bäcker-Gewerkschaft, Cihan Kolivar. Dieser wurde festgenommen, weil er in einer Fernsehsendung den übermäßigen Brotkonsum der Türken und einen möglichen Anstieg der Brotpreise angesprochen hatte. - "Brot ist das Grundnahrungsmittel einer dummen Gesellschaft. Da unser Volk seinen Hunger mit Brot stillt, haben wir seit 20 Jahren [korrupte] Politiker in der Regierung", so Kolivar. Ein Sprecher der regierenden AKP bezeichnete Kolivars Äußerungen als Beispiel für Hassreden und sagte, dieser handele rücksichtslos, indem er mit seinen Äußerungen "unsere Nation und unser Brot beleidigt" (TM 9.11.2022).

Soziale Medien und Internet

Die Bedingungen für ein offenes und freies Internet sind laut Europäischer Kommission in der Türkei nicht gegeben. Websites und soziale Medien werden häufig für Personen gesperrt, die sich kritisch über die Regierung äußern (EC 8.11.2023, S. 37). Die Internetfreiheit hat weiter abgenommen. Die türkischen Behörden verfügen über ein ganzes Arsenal an Instrumenten zur Zensur von Online-Inhalten. Das Gesetz über soziale Medien aus dem Jahr 2020 wird genutzt, um Plattformen zu zwingen, Inhalte zu entfernen, vor allem von den Websites unabhängiger und kritischer Medienunternehmen. Tausende von Online-Nutzern, darunter auch Mitglieder der politischen Opposition, wurden wegen ihrer Aktivitäten in den sozialen Medien strafrechtlich belangt. Selbstzensur, die Verbreitung einerseits regierungsnaher Medien und die Sperrung von Websites unabhängiger Medien andererseits haben zu einem weniger vielfältigen Online-Raum geführt. Einsprüche gegen Entscheidungen über inhaltliche Beschränkungen sind selten wirksam. Darüber hinaus organisieren regierungsnahe Troll-Netzwerke Verleumdungskampagnen gegen engagierte Aktivisten, und prominente Journalisten sehen sich als Vergeltung für ihre Online-Berichterstattung körperlicher Gewalt ausgesetzt (FH 18.10.2022).

Kritische und uneinsichtige Nutzer sozialer Nutzer sozialer Medien werden häufig überprüft, strafrechtlich verfolgt und verurteilt (EC 8.11.2023, S. 37, vgl. MBZ 2.3.2022, S. 25). Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen, z. B. auf Facebook, geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Staatspräsidenten führen (ARTICLE19 8.4.2022). Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen werden, werden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5).

Dem niederländischen Außenministerium zufolge ziehen folgende kritische Berichte in den sozialen Medien eine negative Aufmerksamkeit der türkischen Behörden nach sich: Präsident Erdoğan und seine Familie, die Coronavirus-Politik der Regierung, die militärischen Operationen der Türkei im In- und Ausland, die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung, Gülen und seine Bewegung, der Islam und sexuelle Minderheiten. Beiträge dieser Art werden gesperrt oder entfernt, und jeder, der solche Nachrichten veröffentlicht oder weiter gibt, muss mit einem Strafverfahren rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 25; vgl. FH 18.10.2022). Websites können wegen "Obszönität" gesperrt werden oder wenn sie als verleumderisch für den Islam angesehen werden, was auch Inhalte einschließt, die den Atheismus fördern. Zusätzlich zu den weitverbreiteten Sperrungen fordern staatliche Behörden proaktiv die Löschung oder Entfernung von Inhalten. Die meisten Sperrungsverfügungen werden von der Telekommunikationsbehörde BTK (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu) und nicht von den Gerichten erlassen (FH 18.10.2022).

Die Generaldirektion für Sicherheit teilte mit, dass im Jahr 2021 insgesamt 106.000 Social-Media-Konten in der Türkei aufgrund von Beiträgen untersucht wurden, die von den Behörden als problematisch eingestuft wurden. Die behördlichen Untersuchungen der Accounts richteten sich gegen Beleidigungen des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda oder Aufstachelung zu Feindschaft und Hass unter der Bevölkerung, wobei diesbezüglich 46.646 Nutzer identifiziert wurden (TM 15.3.2022). Anderen Angaben des Innenministeriums zufolge verdoppelten sich 2021 die Zahlen der untersuchten Konten sowie der Verfahren verglichen mit 2020. - 146.167 Konten in sozialen Medien wurden untersucht und rechtliche Schritte gegen 60.051 Personen eingeleitet. In der Folge wurden 1.911 Personen festgenommen und 73 inhaftiert (ARTICLE19 8.4.2022).

Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).

Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AlMon 13.12.2021).

Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Wenn ein Gericht oder Richter feststellt, dass ein veröffentlichter Inhalt das Gesetz verletzt, und der Provider innerhalb von 24 Stunden den Inhalt nicht entfernt oder nicht sperrt, haftet er für die entstandenen Schäden. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 41f.). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu - BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK ist die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 34). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BIRN 11.12.2020).

Das sog. "Desinformationsgesetz" (2022)

Am 18.10.2022 trat das Gesetz zur Bekämpfung von Desinformation in Kraft, kurz: Desinformationsgesetz, welches bei vorsätzlicher Veröffentlichung von Falsch- oder Desinformationen zur nationalen und äußeren Sicherheit, zur öffentlichen Ordnung oder zur allgemeinen Gesundheit, die die öffentliche Ruhe stören und alleinig zum Ziel haben, Sorge, Angst oder Panik auszulösen, Freiheitsstrafen von ein bis drei Jahren vorsieht. Die Bewertung, ob eine "Des- oder Falschinformation" vorliegt, obliegt den Gerichten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 42; vgl. DW 14.10.2022, Guardian 13.10.2022). Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben (Zeit online 14.10.2022). Das Gesetz verpflichtet auch Messenger-Dienste, wie WhatsApp, dazu, dem Staat Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen, wenn die staatliche Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien dies verlangt. Emre Kızılkaya, Leiter des türkischen Zweigs des Internationalen Presseinstituts mit Sitz in Wien, nimmt an, dass dieses Gesetz auch digitale Plattformen wie Google News oder Facebook dazu zwingen wird, der Regierung ihre Algorithmen offenzulegen (Guardian 13.10.2022). Journalistenverbände warnten, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der türkischen Geschichte werden (Zeit online 14.10.2022). Auf dringendes Ersuchen des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) hatte die Venedig-Kommission eine Stellungnahme zu den Änderungsentwürfen des Gesetzes veröffentlicht. Die Venedig-Kommission sah einen Eingriff in das durch Artikel 10 EMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegen und wies darauf hin, dass es alternative, weniger einschneidende Maßnahmen als die strafrechtliche gibt, um das Delikt der Verbreitung von Falschinformationen zu bekämpfen (CoE 10.10.2022).

Urteile des Verfassungsgerichts

Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S. 101-104; vgl. LoC 7.1.2022).

Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).

Opposition

Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre limitiert. Dies geschieht zudem durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 20.3.2023a, S. 69). Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich in einer Entschließung vom 7.6.2022 "zutiefst besorgt über die anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien, insbesondere auf die [...] HDP und andere Parteien, einschließlich der [...] CHP, indem etwa Druck auf sie ausgeübt, ihre Auflösung erzwungen und ihre Mitglieder inhaftiert werden, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren des demokratischen Systems untergraben wird" (EP 7.6.2022, S. 16f., Pt. 22). Im September 2023 wiederholte das EP seine Missbilligung in Bezug auf "das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten; [und] erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden; [und war] besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker" (EP 13.9.2023, Pt. 13).

Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi - HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind - so werden die Büros der HDP regelmäßig von der Polizei durchsucht und von rechtsextremen Gruppen angegriffen - erleben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe (FH 10.3.2023, B1). Die Justiz geht auch weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 8.11.2023, S. 14; vgl. BIRN 1.2.2022).

Todesstrafe

Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 16).

Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (REU 25.6.2022; vgl. Duvar 24.6.2022).

Für eine Wiedereinführung der Todesstrafe wäre eine Verfassungsänderung erforderlich, welche eine Zustimmung von mindestens 400 Abgeordneten oder von mindestens 360 Abgeordneten plus einer Volksabstimmung benötigt. Momentan (Ende 2023) verfügt das Regierungsbündnis nicht über die angegebenen Mehrheiten. Die Verfassungsänderung müsste also auch von Abgeordneten der Oppositionsparteien gestützt werden. Zudem müsste die Türkei ihre Unterschrift zu den Protokollen Nr. 6 und 13 zur EMRK zurückziehen. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe würde die Türkei nicht nur einen Ausschluss aus dem Europarat riskieren, sondern den endgültigen Bruch der Beziehungen zur EU (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 16).

Bewegungsfreiheit

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57).

Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).

Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl.ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Und vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).

Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit online 16.11.2023).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).

Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023a, S. 57f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).

Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Grundversorgung / Wirtschaft

Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3 % abschwächen, verglichen mit rund 4 % im Jahr 2023 und 5,5 % im Jahr 2022 (GTAI 12.12.2023a). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 10.2023, S. 4).

Bis zu den Mai-Wahlen 2023 verfolgte Staatspräsident Erdoğan trotz horrender Inflation eine Niedrigzinspolitik, die kurzfristig die Exporte und den Konsum anregte. Dies befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira, die in der Folge staatlich gestützt wurde. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen sind hoch. Instabile Rahmenbedingungen haben das Vertrauen der Investoren erschüttert. Nach den Wahlen im Frühjahr 2023 vollzog das Land einen Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Leitzins wurde bis Ende November 2023 schrittweise von 8,5 auf 40 % erhöht. Infolgedessen wird für 2024 ein Abschwächen des Wirtschaftswachstums erwartet. Weitere Herausforderungen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende geo- und innenpolitische Spannungen, aber auch hausgemachte Probleme (GTAI 12.12.2023b).

Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 12.12.2023b). Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 10.2023, S. 5). Die seit Juli 2023 wieder steigende offizielle Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr 2023 offiziell 64,77 %. Laut Berechnungen der Forschungsgruppe für Inflation (ENAGrup) stieg der Verbraucherpreisindex für denselben Zeitraum jedoch um 127,21 % (Duvar 3.1.2024a, vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist nach einem Höchststand von 14,2 % im Juli 2020 rückläufig und erreichte im August 2023 mit 9,2 % einen Tiefststand. Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit von 17,2 % bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im November 2023 bei 52,9 %. Die Erwerbsquote lag bei den Männern mit 70,7 % fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 35,5 % (TUIK 10.1.2024b).

Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2.140 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren (Erhebungszeitraum: Dezember 2022 - Jänner 2023) ergab, dass angesichts der wirtschaftlichen Stagnation 63 % der Befragten bereit sind die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9 % (KAS 1.6.2023). Und auch im Oktober 2023 gaben 39,1 % aller Türken und Türkinnen laut einer Umfrage von MetroPOLL Research an, dass sie gerne in einem anderen Land leben würden. Merklich höher lagen die Werte bei Anhängern der Opposition (Duvar 29.10.2023).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 %, gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch. Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialhilfezahlungen auf 151,9 Milliarden Lira oder 1,01 % des BIP (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers offiziell 0,415 im Jahr 2022, der höchste Wert der letzten zehn Jahre (TUIK 4.5.2023) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].

Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024b). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).

Nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 55 % im Jänner 2023 wurde dieser mit Juli 2023 auf 11.400 Lira netto (rund 440 Euro) erhöht, eine Steigerung von 34 %. Die Steigerung lag jedoch immer noch unter der offiziellen Inflationsrate, welche im Mai 2023 fast 40 % betrug. Laut unabhängigen Experten belief sich die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs bei mehr als 100 %. 40 % beträgt der Anteil der Bevölkerung, der vom Mindestlohn lebt. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die oben erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 23.6.2023). Ende Dezember 2023 kündigte die Regierung eine weitere Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 49 % auf rund 17.000 Lira (rund 520 Euro) an, denn seit Juni 2023 bzw. der letzten Erhöhung hatte der Mindestlohn circa 88 Euro an Wert eingebüßt (Duvar 27.12.2023; vgl. WKO 29.12.2023). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023).

Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Sozialbeihilfen / -versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).

Arbeitslosenunterstützung

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D..; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).

Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, berechnet am 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).

Pension

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der oder die Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er oder sie eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

Staatsbürger über 18 Jahre

Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen, können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar).

Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

Anmelden bei der Sozialversicherung SGK

Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden.

Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr.

Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 8.2022).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).

Kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 hat Präsident Erdoğan das Mindestalter für die Pension aufgehoben und damit mehr als zwei Millionen Bürgern die Möglichkeit gegeben, sofort in den Ruhestand zu treten. Bislang galt in der Türkei ein Mindestalter von 60 Jahren für Männer und 58 für Frauen (Zeit online 29.12.2022). Ab Mitte Jänner 2023 zählt nur noch die gearbeitete Zeit. 7.200 Tage berechtigen dann zum Pensionseintritt. Allerdings arbeiten viele Pensionisten trotzdem weiter, da die Pension nicht zum Leben reicht. Über zwei Mio. Türken würden in den Genuss der neuen Regelung kommen (ARD 2.1.2023).

Nachdem das staatliche türkische Statistikamt (TÜİK) bekannt gegeben hatte, dass der jährliche Verbraucherpreisindex für 2023 bei fas 65 % liegt, wurde u.a. auch die Erhöhung der Pensionen in die Wege geleitet. Die neue Mindestpension bleibt jedoch unter der Hungergrenze. Die Pensionen werden um 37,5 % erhöht. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise der offizielle Betrag, da die Regierung u.a. einen Sozialanteil für alle Pensionisten hinzufügen kann. Ein Experte für soziale Sicherheit erklärte, dass die niedrigste Pension, die derzeit bei 7.500 Lira liegt, wahrscheinlich um 50 % erhöht wird. Die Hungergrenze in der Türkei lag im Dezember 2023 bei 14.431 Lira, wie aus Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) hervorgeht. Die Gehälter von Beamten sowie Beamtenpensionen sollten um 46,5 % steigen (Duvar 3.1.2024c; vgl. TPE 17.12.2023).

Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S. 56f).

Medizinische Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54; vgl. MPI-SRSP 3.2022), genauer, wenn das Haushaltseinkommen pro Person ein Drittel des Bruttomindestlohns unterschreitet (MPI-SRSP 3.2022). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016).

Die Gesundheitsausgaben der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. aus eigener Tasche erreichten im Jahr 2022 knapp über 112 Milliarden Lira, was einem Anstieg von 98,8 % gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte an den gesamten Gesundheitsausgaben lag 2022 bei 18,5 %, während dieser 2021 noch 15,9 % ausmachte (TUIK 7.12.2023).

Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:

Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.

Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.

Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).

GSS - Allgemeine Krankenversicherung

Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, wurde mit dem durch das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz allen türkischen Bürgern der Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Das GSS erfasst Personen, die gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind; Personen, die ein Einkommen oder eine Pension nach dem Gesetz Nr. 5510 über die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung beziehen; Bürger, deren Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Drittel des Mindestlohns beträgt; sowie türkische Staatsbürger, die nicht über eine allgemeine Krankenversicherung verfügen, oder Unterhaltsberechtigte ohne Einkommensermittlung, Kinder unter 18 Jahren, Personen, die Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld beziehen. - Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist. Was die Kosten betrifft, so beträgt die allgemeine Krankenversicherungsprämie für Personen, deren Einkommen über einem Drittel des Bruttomindestlohns liegt, 3 % dieses Bruttomindestlohns. Die Höhe der von den Versicherten im Jahr 2023 zu zahlenden allgemeinen Krankenversicherungsprämie beträgt rund 300 Lira pro Monat (EUAA 8.4.2023).

Selbstbehalt (Zuzahlungen)

Beim Selbstbehalt (i.e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).

Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SRSP 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SRSP 20.6.2020).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022b). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022b).

Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z.B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2023).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/

TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).

Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).

2.2. Das BVwG stützt sich im Hinblick auf diese Feststellungen auf folgende Erwägungen:

2.2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts.

2.2.2. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes sowie der am 02.08.2024 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt.

Aufgrund des vorliegenden Verwaltungsaktes, des Ergebnisses des ergänzenden Ermittlungsverfahrens sowie der Beschwerdeverhandlung ist das erkennende Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

2.2.3. Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers ergeben sich aus der Erstbefragung, der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen sowie der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG im Einklang mit dem Akteninhalt.

Wie das Bundesverwaltungsgericht noch näher ausführen wird, ist der Beschwerdeführer als Person unglaubwürdig. In umfassender Würdigung waren dennoch einzelne Angaben des Beschwerdeführers den Feststellungen zugrunde zu legen.

Die Feststellungen zur Identität (Name und Geburtsdatum) und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde sowie in der mündlichen Verhandlung in Zusammenschau mit einem (der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Original) vorgelegten - bis 17.02.2029 gültigen - Reisepass und einer (der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Original) vorgelegten - bis 15.02.2029 gültigen und als authentisch (echt) qualifizierten - ID-Card (vgl. Auszug aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, OZ 2).

Dass der Beschwerdeführer Moslem und Angehöriger der türkischen Volksgruppe ist, hat der Beschwerdeführer nachvollziehbar angegeben und erscheint dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft.

Weitere Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinem Familienstand, zu seiner Vaterschaft, zu seiner Herkunft, zu seiner schulischen Ausbildung, seinen Sprachkenntnissen in Türkisch und zu seinen Lebensverhältnissen in seinem Herkunftsstaat sowie zu seinen beruflichen Ausbildungen bzw. Ausbildungsversuchen in Österreich waren auf Grundlage von stringenten und insoweit glaubhaften Angaben im Verwaltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sowie dem Verwaltungs- und Gerichtsakt des Beschwerdeführers zu treffen.

Die Feststellungen zu den in der Türkei lebenden Familienangehörigen des Beschwerdeführers ergeben sich ebenfalls aus den Aussagen des BF vor dem BFA und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung (AS 65 f; VH-Schrift, S 7). In jedem Fall hat das Bundesverwaltungsgericht keine Zweifel, dass der Beschwerdeführer den Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie – sollte momentan tatsächlich keiner bestehen – wiederaufnehmen könnte, da es zu keinem gravierenden Zerwürfnis innerhalb der Familie gekommen ist.

Die Feststellungen zur Umgangssprache des Beschwerdeführers mit seinen Eltern und deren regelmäßigen Aufenthalten in der Türkei ergeben sich gleichfalls aus den Angaben des BF und darüber hinaus aus den Ausführungen des als Zeugen einvernommenen Vaters in der mündlichen Verhandlung (VH-Schrift, S 10, 20).

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung leidet bzw. gesund ist, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer im bisherigen Verfahren diesbezüglich keinerlei Angaben getätigt hat. Zu Beginn der Erstbefragung am 08.02.2024 verneinte der BF Beschwerden oder Krankheiten zu haben, die ihn an dieser Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigen würden (AS 11). In der Einvernahme vor dem BFA am 11.03.2024 bestätigte der BF abermals einvernahmefähig zu sein. Des Weiteren legte er in der Einvernahme vor dem BFA auch explizit dar, nicht in dauerhafter ärztlicher Behandlung zu sein (AS 65). In der Verhandlung am 02.08.2024 fragte die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts den Beschwerdeführer konkret, wie es ihm gesundheitlich – sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht - gehe, ob er in ärztlicher Behandlung sei, sich in Therapie befinde oder Medikamente einnehme. Der Beschwerdeführer gab an, dass er gesund sei (VH-Schrift, S 4). Es ist somit von keiner - schon gar keiner schwerwiegenden - Erkrankung des Beschwerdeführers, sondern von dessen Gesundheit auszugehen. Dass der Beschwerdeführer Gründe haben könnte, insofern wahrheitswidrige Aussagen zu tätigen, ist nicht im Geringsten ersichtlich.

Im Falle einer Erkrankung oder sonstigen wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustands nach der mündlichen Beschwerdeverhandlung wäre davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer ein entsprechendes Vorbringen im Rahmen eines weiteren Schriftsatzes erstattet hätte. Wäre es daher zu wesentlichen Sachverhaltsänderungen gekommen, hätte der Beschwerdeführer diese dem Bundesverwaltungsgericht in Erfüllung seiner Pflicht bzw. Obliegenheit zur Mitwirkung im Verfahren mitgeteilt.

Die Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers beruhen auf dessen Ausführungen im gegenständlichen Verfahren im Hinblick auf die mehrjährige Schulausbildung in der Türkei auf Maturaniveau und die in Österreich gesammelte Berufserfahrung. Ferner brachte der Beschwerdeführer - wie zuvor erörtert - keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, welche die Arbeitsfähigkeit derart beeinträchtigen würden bzw. gab er zuletzt selbst in der mündlichen Verhandlung an, für sein zukünftiges Leben erneut eine Erwerbstätigkeit zu benötigen (VH-Schrift, S 16). Diesbezüglich legte der BF auch eine Einstellungszusage vor. In Anbetracht der Schulausbildung in der Türkei auf Maturaniveau und seine Berufserfahrung sowie der Sprachkenntnisse des BF geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar ist, durch Aufnahme einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Selbsterhaltung zu erwirtschaften.

Zum Umstand, wonach der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Mutter die Türkei legal Anfang des Jahres 2003 verließ und im Wege einer Familienzusammenführung im Alter von 18 Jahren legal in das Bundesgebiet einreiste, hat der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren und den vorangehenden fremdenrechtlichen Verfahren bereits eindeutige Angaben getätigt, die dementsprechend den Feststellungen zugrunde gelegt werden konnten (vgl. etwa AS 13, 66). Gestützt auf die Angaben des Beschwerdeführers und die Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister konnte das Bundesverwaltungsgericht die Feststellungen zum bis zum 21.08.2017 gültigen unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ treffen. Die Feststellungen zur Beendigung des unbefristeten Aufenthaltsrechts und zur Zurückstufung des BF auf den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ ergeben sich – in Zusammenschau mit einer Einsichtnahme in den Auszug aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister – aus den vorgelegten Verfahrensakten, insbesondere aus dem in den Akten befindlichen Bescheid der zuständigen Niederlassungsbehörde vom 11.10.2017. Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der BF am 06.09.2018 die Verlängerung dieses Aufenthaltstitels beantragte. Dass das Verlängerungsverfahren infolge der rechtskräftigen Entscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2022 seitens der zuständigen Niederlassungsbehörde gem. § 25 Abs. 2 NAG eingestellt wurde, ergibt sich aus der Mitteilung vom 26.04.2024 (OZ 13). Wann der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist in unbedenklichen Urkunden/Unterlagen dokumentiert und wurde nicht in Zweifel gezogen. Die Feststellungen zur Dauer, zur Zulässigkeit und anschließenden Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Österreich nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt- und dem Gerichtsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers in Zusammenschau mit den Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister unter Berücksichtigung der Normen des § 12 und § 28 AsylG.

Die Angaben zum aufenthaltsrechtlichen Status des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Verwaltungs- und Gerichtsakt. Die Feststellungen zum abgesehen von regelmäßigen urlaubsbedingten Unterbrechungen durchgehenden Aufenthalt in Österreich basieren ebenfalls auf den Angaben des Beschwerdeführers (VH-Schrift, S 7).

Das Bundesverwaltungsgericht erlaubt sich an dieser Stelle anzumerken, dass es ein wesentliches Indiz für die persönliche Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers darstellt, dass dieser offensichtlich nicht bereit ist, widerspruchsfreie Angaben zum Zeitpunkt seines letztmaligen Aufenthalts in der Türkei zu treffen. Insofern kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, wann sich der BF zuletzt in seinen Herkunftsstaat aufhielt. Im Zuge der Einvernahme vor dem BFA führte der BF nämlich noch aus, dass er zuletzt im Jahr 2010 anlässlich seiner Heirat in der Türkei gewesen sei (AS 65). In der mündlichen Verhandlung war dann davon die Rede, das letzte Mal im September 2018 in der Türkei gewesen zu sein (VH-Schrift, S 5, 7). Auf Vorhalt, vor dem BFA angegeben zu haben, dass er das letzte Mal 2010 anlässlich der Eheschließung in der Türkei gewesen sei, erwiderte der BF, dass dies ein Missverständnis gewesen sein müsse und wiederholte er, dass er letztmals im September 2018 in der Türkei gewesen sei. Vor der Scheidung sei er einmal - 2016 oder 2017 - in der Türkei gewesen (VH-Schrift, S 7). Im Ergebnis kann das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach dem letztmaligen Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Türkei aufgrund dieser unterschiedlichen Angaben daher nicht zweifelsfrei feststellen und stellt dies ein erstes Indiz für die persönliche Unglaubwürdigkeit des BF dar. Was den Verweis auf ein vermeintliches Missverständnis betrifft, so erlaubt sich die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts in diesem Zusammenhang noch anzumerken, dass es der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ebenso abträglich ist, dass er in der mündlichen Verhandlung versuchte, diesen Widerspruch in seinen Aussagen auf ein nicht näher präzisiertes Missverständnis zurückzuführen. Bei genauer Betrachtung der Niederschrift der Einvernahme zeigt sich, dass diese Behauptung des Beschwerdeführers nicht der Wahrheit entspricht. Die Einvernahme vor dem BFA fand in der Sprache Türkisch statt (AS 63). Der Beschwerdeführer bestätigte weiters, den Dolmetscher einwandfrei zu verstehen (AS 64). Die Niederschrift wurde dem Beschwerdeführer auch rückübersetzt. Nach der Rückübersetzung brachte der Beschwerdeführer keine Einwendungen vor (AS 67 f). Der Beschwerdeführer bestätigte vielmehr mit seiner Unterschrift letztlich die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift sowie die Rückübersetzung (AS 67 f). In der Niederschrift findet sich auch kein Hinweis darauf, dass es während der Einvernahme zu Verständigungsschwierigkeiten und/oder Missverständnissen gekommen wäre. Die Angaben des Beschwerdeführers wurden detailliert und nachvollziehbar protokolliert. Zudem brachte der BF in der Beschwerde nicht vor, dass es während seiner Einvernahme zu einem Missverständnis gekommen sei. Dass der Beschwerdeführer diesen Umstand nicht von sich aus dem BFA meldete und auch nicht im Zuge der Beschwerde vorbrachte, sondern erstmals auf einen Vorhalt in der mündlichen Verhandlung vorbrachte, zeigt eindeutig, dass der Beschwerdeführer diesen Umstand „nachgeschoben“ hat und dieser nicht den Tatsachen entspricht. Die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers wird durch seine unberechtigte und nicht nachvollziehbare Beanstandung somit weiter geschwächt.

Die Feststellungen zur durchsetzbaren Rückkehrentscheidung wider den BF ergeben sich aus ebendieser. Dass der BF der Ausreiseverpflichtung in die Türkei nicht nachkam, ergibt sich wiederum einerseits auf dem Umstand, wonach sich der BF in Österreich zuletzt von 04.10.2022 bis 07.02.2024 in Haft befand und anderseits aus den eigenen Angaben des BF, wonach er in den letzten Jahren mangels Aufenthaltstitel für Österreich nicht mehr in die Türkei reisen konnte (VH-Schrift, S 7). In Übereinstimmung hiermit bestätigte der BF auch, dass er den Antrag auf internationalen Schutz lediglich gestellt habe, um nicht in die Türkei abgeschoben zu werden (VH-Schrift, S 4).

Die Feststellungen zur Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und einer türkischen Staatsangehörigen stützen sich in Zusammenschau mit den Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister bezüglich der Freundin in erster Linie auf die Aussagen des Beschwerdeführers und der Eltern des BF in der mündlichen Verhandlung, wobei der genaue Zeitpunkt des Kennenlernens nicht festgestellt werden konnte, zumal der Beschwerdeführer erklärte, seine Freundin seit zehn Jahren zu kennen (VH-Schrift, S 8), während der Vater des BF ausführte, dass sich der BF und seine Freundin erst ca. zwei bis drei Jahre vor seinem letzten Gefängnisaufenthalt - somit vor ca. fünf bis sechs Jahren - kennengelernt hätten (VH- Schrift, S 18). Im Hinblick auf die Qualität und Intensität der On-Off-Beziehung ist hervorzuheben, dass die Schilderungen des BF in der mündlichen Verhandlung völlig oberflächlich blieben (VH-Schrift, S 8 ff). Ebenso wenig waren die Eltern des Beschwerdeführers in der Lage, Angaben zu tätigen, die substantiiert darlegen könnten, dass diese Beziehung eine tiefergehende Intensität aufweist (VH-Schrift, S 18 f; 22). Der Beschwerdeführer war nicht einmal in der Lage, den Familienstand, das Geburtsdatum oder die Wohnadresse dieser Person weiblichen Geschlechts korrekt zu benennen (VH-Schrift, S 8 f) und lassen die allgemein gehaltenen Ausführungen des Beschwerdeführers nicht auf eine (außergewöhnlich) enge Bindung des Beschwerdeführers zu dieser Person schließen. Befremdlich mutet auch an, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Schilderung seiner Freizeit abgesehen von der Erledigung des Einkaufs keine gemeinsamen Aktivitäten mit seiner Freundin nannte (VH-Schrift, S 10). Unter Bedachtnahme auf die bereits erörterten Aussagen und folgende Umstände war insgesamt festzustellen, dass eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen den beiden im Verfahren nicht zutage trat: Obwohl sich der Beschwerdeführer u. a. seiner Mitwirkungspflicht bereits im behördlichen Verfahren vor dem BFA bewusst gewesen sein muss, brachte er erstmals in der Stellungnahme vom 26.07.2024 (OZ 25) vor, mit einer türkischen Staatsangehörigen eine Beziehung zu führen. Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer damit seiner Mitwirkungspflicht nicht oder allenfalls unzureichend nachkam, muss das Bundesverwaltungsgericht zu dem Schluss kommen, dass die Beziehung für den Beschwerdeführer keine große Bedeutung haben kann, andernfalls hätte er dazu eher (konkret) etwas vorgebracht, zumal diese seit seiner Haftentlassung im Februar 2024 besteht. Stattdessen zog es der BF vor, diese Beziehung vor den österreichischen Behörden zu verbergen. Obwohl er bereits vor seiner letzten Haft über mehrere Jahre eine On-Off-Beziehung mit dieser Person weiblichen Geschlechts geführt haben will, äußerte sich der Beschwerdeführer hierzu zunächst auch in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht, sondern verwies noch einmal darauf, dass er mit dem Sohn und der ehemaligen Gattin in der Türkei zusammenleben wolle (AS 67; VH-Schrift, S 5 ff). Dass der Beschwerdeführer kein Unterstützungsschreiben seiner Freundin vorlegte, spricht für sich. Ebenso die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer weder von seiner Freundin zur Einvernahme vor dem BFA oder zur mündlichen Verhandlung begleiten ließ, noch deren Einvernahme im Vorfeld oder während der Einvernahme am 11.03.2024, in der Beschwerde oder in der Stellungnahme vom 26.07.2024 beantragte. Insofern der BF bzw. dessen Vater diesbezüglich ausführen, dass man sie gefragt habe, ob sie zur Verhandlung komme, dies aber nicht möglich gewesen sei, da aktuell Urlaubszeit herrsche und sie von ihrem Arbeitgeber nicht frei bekommen habe (VH-Schrift, S 9, 10, 19), so vermag dies nicht zu überzeugen. Dem BF bzw. seiner rechtsfreundlichen Vertretung wäre es jedenfalls freigestanden, deren Einvernahme als Zeugin zu beantragen, was zur Folge gehabt hätte, dass - falls die Freundin vom Gericht als Zeugin geladen worden wäre - der Arbeitgeber in jedem Falle verpflichtet gewesen wäre, diese Arbeitnehmerin von der Arbeit freizustellen und ihr die Teilnahme an der Verhandlung als Zeugin zu ermöglichen. Im Übrigen vermag dieser Verweis auf den Personalengpass in der Urlaubszeit auch nicht zu erklären, weshalb die Freundin den BF nicht zur Einvernahme vor dem BFA Mitte März 2024 begleitete.

Da der Beschwerdeführer und seine Freundin die Beziehung erst im Februar 2024 nach seiner Entlassung aus der Strafhaft eingingen, kann es keine Zweifel geben, dass sie sich des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst waren.

Die Feststellungen zu den in Österreich lebenden Verwandten (Eltern, Bruder, zwei Halbschwestern, Onkel, Cousin und Cousine) folgen den Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung in Zusammenschau mit den Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister bezüglich der in Österreich lebenden Mutter und mit den Auszügen aus dem Zentralen Melderegister bezüglich der in Österreich lebenden Eltern, des in Österreich lebenden Bruders und des BF. Dass der Bruder in der Nähe des BF und dessen Eltern - etwa fünf Minuten Fahrzeit mit dem Auto entfernt - wohnt, ergibt sich aus den Auszügen aus dem Zentralen Melderegister bezüglich der in Österreich lebenden Eltern, des in Österreich lebenden Bruders und des BF sowie einer Eingabe der jeweiligen Wohnadressen auf Google Maps zur Ermittlung der Fahrzeit zwischen den beiden Wohnorten. Abgesehen von der Behauptung, er sei von seinen Eltern finanziell und bezüglich einer Unterkunft abhängig und diese und sein Bruder seien wiederum von seiner Unterstützung im Alltag abhängig (VH-Schrift, S 10 ff), was nicht den Tatsachen entspricht und damit ebenfalls dessen persönliche Glaubwürdigkeit erschüttert, zumal der BF etwa auch Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber in Anspruch nehmen könnte und es seinen gesunden und nicht hilfsbedürftigen Eltern und seinem an Schizophrenie leidenden Bruder während der mehrjährigen Haft des BF auch möglich war, ihren Alltag ohne ihn zu bewältigen (vgl. VH-Schrift, S 11 f, 17, 21), besteht kein Grund für das Bundesverwaltungsgericht an den Ausführungen des Beschwerdeführers zu zweifeln. Hinsichtlich der Beziehung zu diesen Verwandten finden sich keine belastbaren Anhaltspunkte, die für eine besondere Beziehungsintensität und emotionale Nähe sprechen (VH-Schrift, S 10 ff, 17ff, 21 ff).

Dass es dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat möglich wäre, mit seiner in Österreich lebenden Freundin und den hier lebenden Familienangehörigen zu kommunizieren, steht schon deshalb außer Frage, weil der Beschwerdeführer nach seiner Einreise in das Bundesgebiet immer wieder mit Familienangehörigen kommunizierte; die technische Möglichkeit besteht also, was sich im Übrigen grundsätzlich auch aus zahlreichen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts ergibt. Dass (gegenseitige) Besuche - etwa auch in einem Drittstaat -, grundsätzlich unmöglich wären, ist nicht hervorgekommen. Allein schon aufgrund deren (früherer) türkischer Staatsbürgerschaft wäre es diesen Personen möglich, den BF einstweilen – bis zur Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG – in der Türkei auch zu besuchen, wie die Eltern auch eingestanden (VH-Schrift, S 20, 23). Es steht dem Beschwerdeführer zudem frei, einen temporären Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung einer Wiedereinreise nach § 26a FPG bzw. Art. 25 des EU-Visakodex und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen.

Den Feststellungen zum Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich liegen ebenfalls die Aussagen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zugrunde. Das Bundesverwaltungsgericht stellt insgesamt nicht in Abrede, dass der Beschwerdeführer einige private Kontakte unterhält. Im Hinblick auf die festgestellten und im (gerichtlichen) Verfahren genannten Freizeitaktivitäten (z. B. AS 67; VH-Schrift, S 15) kann jedoch keinesfalls ein Abhängigkeitsverhältnis und auch keine über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindung festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer legte keine Unterstützungserklärungen seiner Freunde und Bekannten vor, weshalb die dementsprechende Feststellung getroffen wurde.

Das erfolgreich absolvierte ÖSD Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz (Niveau: B1) und zu Werte- und Orientierungswissen ist urkundlich hinreichend nachgewiesen (AS 211 f). Von den guten Deutschkenntnissen des Beschwerdeführers konnte sich das Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung, welche teilweise ohne Beiziehung eines Dolmetschers durchgeführt werden konnte, selbst ein Bild machen (vgl. VH-Schrift, S 5).

Das Bundesverwaltungsgericht hat einen Datenbankauszug zu den vom Beschwerdeführer eingegangenen Arbeitsverhältnissen bzw. den bezogenen Unterstützungsleistungen eingeholt, auf deren Grundlage die angeführten Feststellungen zu treffen waren.

Dass der Beschwerdeführer bislang keine Leistungen aus der Grundversorgung bezog, ist einem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich zu entnehmen. Dass der BF seinen Lebensunterhalt aktuell von Ersparnissen und mithilfe seiner in Österreich lebenden Eltern bestreitet, sagte er glaubhaft aus (VH-Schrift, S 14). Die Feststellungen zur Einstellungszusage ergeben sich aus ebendieser (AS 61, 214; OZ 25).

Dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit während der Verbüßung einer Haftstrafe im Zuge eines Freigangs ehrenamtlich als Fahrer für die Caritas arbeitete, sagte er glaubhaft aus (AS 66, 192). Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer aktuell weder ehrenamtlicher/gemeinnütziger Arbeit noch legaler Erwerbsarbeit nachgeht und nicht Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen Organisation in Österreich ist, ergeben sich (bisweilen im Umkehrschluss) aus seinen Angaben vor der belangten Behörde (AS 66) und in der mündlichen Verhandlung (VH-Schrift, S 15).

Die Feststellungen zu den Verurteilungen des Beschwerdeführers, den diesen Verurteilungen zugrundeliegenden Tathandlungen und den jeweiligen Strafzumessungsgründen ergeben sich aus den angeführten Urteilen.

Anhand des im Gerichtsakt enthaltenen Auszugs aus der von der Landespolizeidirektion Wien geführten Verwaltungsstrafevidenz (OZ 21) in Zusammenschau mit den angeführten Straferkenntnissen (OZ 23, 26 f) waren schließlich die Feststellungen bezüglich der Verwaltungsübertretungen zu treffen.

Dass der Beschwerdeführer im Zuge der Verbüßung seiner Haftstrafe zur Überwindung seiner Alkoholsucht an einer entsprechenden Therapie teilnahm und seit seiner Entlassung aus der Haft wöchentlich den Verein Neustart zwecks Betreuung seiner Person aufsucht, brachte der Beschwerdeführer glaubhaft vor (OZ 25, S 3). Dass der Beschwerdeführer von 29.02.2024 bis 21.03.2024 erfolgreich einen Nachschulungskurs für alkoholauffällige Lenker absolvierte und laut fachärztlicher Stellungnahme vom 05.04.2024 beim BF derzeit kein Hinweis auf einen gehäuften Alkoholmissbrauch und/oder Alkoholabhängigkeit besteht und deshalb eine Erteilung der Lenkerberechtigung der Gruppe 1 wegen ausreichend langer Abstinenz ( 3 Jahre) befürwortet werden konnte, ist urkundlich hinreichend nachgewiesen (AS 209 f; OZ 25). Dass der BF seit mehr als drei Jahren abstinent sei (OZ 25, S 3), kann indes durch diese Unterlagen nicht mehr belegt werden, da der BF - auf Vorhalt des Straferkenntnisses vom 18.05.2024 - letztlich eingestehen musste, erst vor Kurzem Alkohol konsumiert zu haben, weshalb es dann zu dem mit Straferkenntnis vom 18.05.2024 sanktionierten Fehlverhalten gekommen sei (VH-Schrift, S 13 f).

Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass sein weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder der Beschwerdeführer im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der § 382b oder § 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor und es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine dahingehenden positiven Feststellungen getroffen werden können.

2.2.4. Die Feststellungen zum Vorbringen des Beschwerdeführers bzw. dessen Fluchtgründen und zu seiner Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung und in der Einvernahme vor dem BFA, den Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG sowie den getroffenen Länderfeststellungen.

Die Feststellung zum Nichtvorliegen einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Gefährdung des Beschwerdeführers ergibt sich einerseits aus dem seitens des BFA sowie des Bundesverwaltungsgerichts als unglaubwürdig bzw. nicht asylrelevant erachteten Vorbringen des Beschwerdeführers sowie andererseits aus den detaillierten, umfangreichen und aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in der Türkei und den Ergebnissen des ergänzenden Ermittlungsverfahrens.

Hinweise auf asylrelevante die Person des Beschwerdeführers betreffende Bedrohungssituationen konnte dieser nicht glaubhaft machen.

2.2.4.1. Das erkennende Gericht hat anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten - z. B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z. B. VwGH 25.01.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z. B. VwGH 22.02.2001, 2000/20/0461) - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.

Auch wurde vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es der Verwaltungsbehörde [nunmehr dem erkennenden Gericht] nicht verwehrt ist, auch die Plausibilität eines Vorbringens als ein Kriterium der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ihr zustehenden freien Beweiswürdigung anzuwenden (VwGH v. 29.6.2000, 2000/01/0093).

Weiters ist eine abweisende Entscheidung im Verfahren nach § 7 AsylG [numehr: § 3 AsylG] bereits dann möglich, wenn es als wahrscheinlich angesehen wird, dass eine Verfolgungsgefahr nicht vorliegt, das heißt, mehr Gründe für als gegen die Annahme sprechen (vgl. zum Bericht der Glaubhaftmachung: Ackermann, Hausmann, Handbuch des Asylrechts [1991] 137 f; s.a. VwGH 11.11.1987, 87/01/0191; Rohrböck AsylG 1997, Rz 314, 524).

Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylweber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der aufgrund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.

Der Beschwerdeführer wurde im Rahmen seines Asylverfahrens darauf hingewiesen, dass seine Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung im Asylverfahren darstellen. Der Beschwerdeführer wurde zudem aufgefordert, durch wahre und vollständige Angaben an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken und wurde er darauf aufmerksam gemacht, dass unwahre Angaben nachteilige Folgen haben.

Befragt zu seinen Fluchtgründen schilderte der Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung, vor dem BFA und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht eine Bedrohungssituation, die als nicht glaubhaft bzw. als nicht asylrelevant erachtet wird; dies aus folgenden Gründen:

2.2.4.1.1. Eingangs ist festzuhalten, dass sich die Feststellungen, wonach der Beschwerdeführer keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung angehört, aus den Ausführungen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (teilweise im Umkehrschluss) ergeben (AS 66; VH-Schrift, S 15 f, 23).

Die weiteren Feststellungen des Inhalts, dass der Beschwerdeführer der Gülen-Bewegung nicht angehört und nicht in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt war, beruhen auf dem Umstand, wonach der Beschwerdeführer ein diesbezügliches Vorbringen weder vor der belangten Behörde noch vor der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichts mit einem Wort erwähnte.

Der Vollständigkeit halber ist dennoch allgemein auf den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 sowie den daran anschließenden und im Juli 2018 ausgelaufenen Ausnahmezustand einzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht verweist diesbezüglich zunächst auf die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei, welche die wesentlichen Ereignisse seit dem versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 abbilden. Darüber hinaus ist eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von diesen Ereignissen und den daraus erwachsenden Folgen dem Bundesverwaltungsgericht nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer hielt sich zur Zeit des versuchten Militärputsches in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 offensichtlich nicht in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch ist demnach nicht anzunehmen. Der Beschwerdeführer gehört auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachte er weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung zum Ausdruck.

2.2.4.1.2. Ein maßgebliches aktuelles exilpolitisches Engagement im Bundesgebiet (im Sinne eines sogenannten Nachfluchtgrundes) kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft entnommen werden, zumal der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung erst auf eine entsprechende Frage durch die rechtsfreundliche Vertretung gegen Ende der mündlichen Verhandlung behauptete, dass er vor mehr als drei Jahren (!) - noch vor seiner letzten Haft - in betrunkenem Zustand auf Facebook etwas gegen Erdogan gepostet hätte. Gleichzeitig musste der BF indes eingestehen, diesbezüglich keine Bescheinigungsmittel vorlegen zu können, da dies sein altes Facebook-Konto gewesen sei. Insofern ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht einen Nachweis über etwaige Äußerungen auf Facebook vorlegte. Des Weiteren war der BF nicht in der Lage, nähere Ausführungen zum Inhalt seines angeblich wider den türkischen Präsidenten verfassten Postings zu treffen (VH-Schrift, S 23). Vor allem ist jedoch auch darauf zu verweisen, dass hiermit im Zuge der mündlichen Verhandlung ein sich steigerndes Vorbringen auftrat. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Steigerung des Vorbringens ein weiteres Indiz für seine Unglaubwürdigkeit bzw. die Unglaubhaftigkeit dieses geltend gemachten Asylgrundes, hatte doch der Beschwerdeführer bereits in seiner Einvernahme vor dem BFA die umfassende Möglichkeit, sämtliche Ausreisegründe und Rückkehrbefürchtungen umfassend vorzubringen. Bei diesen erstmals in der mündlichen Verhandlung geschilderten Angaben handelt es sich um eine klare Steigerung des Vorbringens des Beschwerdeführers, vermutlich zu dem Zweck, um seinem Antrag auf internationalen Schutz - nach Kenntnisnahme der Beweiswürdigung des BFA - mehr Substanz zu verleihen. Der Beschwerdeführer hätte diesen Umstand dem BFA und/oder dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht jedenfalls bereits seit geraumer Zeit mitteilen können. Diese Ausführungen stellen einen maßgeblichen Aspekt für das Verfahren dar, sodass zu erwarten ist, dass derartige neue Sachverhaltselemente zumindest eingangs der Verhandlung auf die entsprechende Frage, weshalb er Asyl wolle, hin präsentiert werden, was der Beschwerdeführer jedoch unterlassen hat (VH-Schrift, S 4 f, 23). Selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung dieser Angaben lässt sich den Ausführungen des Beschwerdeführers im Übrigen aber nicht entnehmen, dass den türkischen Behörden sein Verhalten bekannt wurde bzw. wie dies den türkischen Behörden - zumal bereits gelöscht - bekannt werden sollte, weshalb eine Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers aus diesem Grunde ebenfalls ausgeschlossen werden kann. Hinsichtlich des bloßen Verfassens eines kritischen und bereits gelöschten Postings wider den türkischen Präsidenten vor mehr als drei Jahren ist auch anzumerken, dass ein nennenswertes politisches Engagement und damit einhergehend ein besonderes Profil des Beschwerdeführers nicht vorliegt. Hinsichtlich der Aktivitäten in den sozialen Medien ist ferner anzumerken, dass sich aus den herangezogenen Länderberichten und aktuellen Medienberichten keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte ableiten lassen, nach welchen gegenwärtig eine Person türkischer Volksgruppenzugehörigkeit, die vor drei Jahren ein regierungskritisches Posting in den sozialen Medien verfasst, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen würde. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der vom Beschwerdeführer vor mehr als drei Jahren erfolgten Social-Media-Aktivität haben sollten, kamen im Verfahren nicht hervor. Unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Feststellungen (vgl. vor allem den Punkt "Behandlung nach Rückkehr") zeigt sich zudem, dass schon aus Kapazitätsgründen und solchen der dafür notwendigen organisatorischen Erfordernisse eine weitreichende nachrichtendienstliche Erfassung der zahllosen im Ausland lebenden türkischen Staatsangehörigen und deren einzelnen Aktivitäten, etwa auch in den sozialen Medien, weder realistisch noch zielführend wäre. Plausibel ist in dieser Hinsicht vielmehr, dass jene Personen unter besonderer Beobachtung stehen, die sich als maßgeblich für die Entwicklung und Umsetzung der politischen Strategien im Hintergrund erweisen und als Meinungsbildner und Redner im Vordergrund oppositioneller Vereinigungen auftreten, zumal alleine diesen auch ein möglicher indirekter Einfluss auf die politische Landschaft innerhalb der Türkei und damit ein mögliches Gefahrenpotential aus Sicht der türkischen Behörden zuzuschreiben wäre. Gerade dies ist aber den Beschwerdeführer betreffend wie oben dargestellt nicht erkennbar. Als maßgeblich erachtet das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich, inwieweit bestimmte Aktivitäten Betroffener überhaupt potentiell geeignet sind in den Augen der Behörden des Herkunftsstaates ein Bedrohungsbild zu erfüllen, das es zu bekämpfen gilt (vgl. in diesem Sinne auch die Leitsätze der Judikatur des VwGH zu diesem Thema). Würde man demgegenüber etwa jedwede Aktivität in den sozialen Medien unmittelbar mit einer daraus resultierenden besonderen Aufmerksamkeit der türkischen Behörden sowie einer weiter daraus folgenden Ermittlungstätigkeit bis hin zur daraus resultierenden Verfolgung im Anschluss an eine Rückkehr in den Herkunftsstaat verknüpfen, so würde eine solche Absicht der betreffenden Behörden nicht nur die Ressourcen eines Nachrichtendienstes im Ausland gänzlich überstrapazieren, sondern auch die Sinnhaftigkeit eines solchen Bestrebens mit Blick auf das geringe Bedrohungspotential exilpolitischer Betätigung niedrigen Profils in Frage stellen. Legt man diese grundsätzlichen Erwägungen zur gegenständlichen Thematik auf das Vorbringen des Beschwerdeführers um, so lässt sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts aus diesem Vorbringen in Verbindung mit den länderkundlichen Feststellungen weder schlüssig ableiten, dass er persönlich mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Blickfeld des türkischen Nachrichtendiensts geraten ist, noch dass sein Tun weiteren individualisierten Ermittlungen unterworfen und deren Ergebnisse gesammelt und an die türkischen Behörden zum Zweck der Verfolgung für den Fall der Rückkehr übermittelt wurden.

2.2.4.1.3. Ansonsten brachte der Beschwerdeführer bereits im Zuge der Antragstellung keine eigenen Fluchtgründe vor. Stattdessen führte der Beschwerdeführer in der Erstbefragung wörtlich aus: „Mein Lebensmittelpunkt ist in Ö. ich habe keine sozialen Kontakte, keine Unterkunft in der Türkei. Meine Eltern sind pflegebedürftig und sie benötigen meine Hilfe. Ich bin in Ö. aufgewachsen und hier integriert. Ich habe nichts in der Türkei, ich kann mir nicht vorstellen in die Türkei zurück zu reisen, da ich dort nichts habe. Mein Leben ist hier in Ö.“ (AS 15). In der Einvernahme vor dem BFA, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde seitens des BF - abgesehen vom vorangehend unter Punkt 2.2.4.1.2. angeführten Verfassen eines Erdogan-kritischen Postings - ebenso wenig ein individuelles, den Beschwerdeführer betreffendes Vorbringen erstattet (AS 66, 191 ff; VH-Schrift, S 4 f). Eigene Fluchtgründe nannte der Beschwerdeführer somit ansonsten nicht. Mit diesen Ausführungen wurden in keiner Weise und schon gar nicht mit geeigneten Beweisen (gewichtige) Gründe für die Annahme eines Risikos einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Bedrohung oder Gefährdung glaubhaft gemacht. Insofern bestätigte der BF im Zuge der mündlichen Verhandlung auch nochmals, dass er keine Asylgründe habe und den Antrag auf internationalen Schutz lediglich gestellt habe, um nicht in die Türkei abgeschoben zu werden (VH-Schrift, S 4).

Vor dem Hintergrund, dass nach Vorliegen der rechtskräftigen Rückkehrentscheidung ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für den Beschwerdeführer für Österreich nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war, erhärtet sich die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass der gestellte Antrag auf internationalen Schutz lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte, um im Bundesgebiet aufgrund privater Interessen verbleiben zu können. Dem in Österreich gestellten Antrag auf internationalen Schutz lag demnach in keiner Weise eine (ihm drohende) asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat zugrunde, sondern die Absicht, auf diesem Wege unter Umgehung der (strengeren) niederlassungs- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften ein Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers – zunächst weiterhin als Asylwerber – zu erlangen und mit seiner Präsenz im Bundesgebiet dahingehende Fakten zu schaffen.

2.2.4.2. Weder in der Beschwerdeschrift noch in der mündlichen Verhandlung wurde der festgestellten persönlichen Unglaubwürdigkeit und der Unglaubhaftigkeit bzw. fehlenden Asylrelevanz bezüglich des Vorbringens substantiiert entgegengetreten:

2.2.4.2.1. Die in der Beschwerdeschrift geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens sowie die dahingehende Kritik, dass sich das Bundesamt nicht ausreichend mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers und den herkunftsstaatsspezifischen Informationen auseinandergesetzt habe, geht schon deshalb ins Leere, da nunmehr seitens des BVwG eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde und dem Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung Gelegenheit geboten wurde, sämtliche Fluchtgründe abermals umfassend darzulegen und auch zu den getroffenen Länderfeststellungen umfassend Stellung zu nehmen. Des Weiteren erfolgte nunmehr auch eine zeugenschaftliche Einvernahme der Eltern des BF.

2.2.4.3. In einer Gesamtschau war dem Beschwerdeführer aufgrund sämtlicher zuvor getroffener Ausführungen sowie auch des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung die persönliche Glaubwürdigkeit abzusprechen.

Infolgedessen und aufgrund der vorstehenden Beweiswürdigung kann das Bundesverwaltungsgericht auch keine zur Gewährung von internationalem Schutz führende Rückkehrgefährdung erkennen und ergibt sich eine solche auch nicht aus der allgemeinen Lage in der Türkei zum Entscheidungszeitpunkt. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/ oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Abschließend erlaubt sich die erkennende Richterin diesbezüglich auf die nachfolgenden Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung zu verweisen.

2.2.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:

2.2.5.1. Die getroffenen Feststellungen zur Situation in der Türkei gründen sich nunmehr auf die dem Beschwerdeführer mit Note vom 04.07.2024 und im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 02.08.2024 nachweislich zur Kenntnis gebrachten aktuellen Länderfeststellungen zur allgemeinen Situation in der Türkei (LIB der Staatendokumentation Version 8, Datum der Veröffentlichung: 07.03.2024), denen weder der Beschwerdeführer noch dessen rechtsfreundliche Vertretung in einer schriftlichen Stellungnahme oder in der mündlichen Verhandlung - wie nachfolgend dargelegt - entgegentreten sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Es ist allgemein zu den Feststellungen auszuführen, dass es sich bei den herangezogenen Quellen zum Teil um staatliche bzw. staatsnahe Institutionen handelt, die zur Objektivität und Unparteilichkeit verpflichtet sind.

Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates über den berichtet wird zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteiennahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann.

Bei Berücksichtigung der soeben angeführten Überlegungen hinsichtlich des Inhalts der Quellen unter Berücksichtigung der Natur der Quelle und der Intention derer Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin um ausreichend ausgewogenes Material.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

2.2.5.2. Das Bundesverwaltungsgericht brachte dem Beschwerdeführer mit Note vom 04.07.2024 und im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 02.08.2024 die länderkundlichen Informationen zur Lage in der Türkei zur Kenntnis und räumte ihm die Möglichkeit der Stellungnahme ein. Weder der Beschwerdeführer noch deren rechtsfreundliche Vertretung traten den von der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichts in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen entgegen, sondern verzichteten jeweils auf die Möglichkeit einer Stellungnahme (VH-Schrift, S 24). Das Bundesverwaltungsgericht konnte seine Feststellungen daher auf Grundlage der von ihm als Beweismittel herangezogenen Länderinformationen treffen.

2.2.5.3. Eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen ist nur dann erforderlich, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH vom 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da der Beschwerdeführer jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hat, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit im Herkunftsstaat nicht geboten. Selbiges gilt im Übrigen für die Frage bezüglich des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers.

2.2.5.4. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Behörde beziehungsweise das Verwaltungsgericht verpflichtet ist, sich aufgrund aktuellen Berichtsmaterials ein Bild über die Lage in den Herkunftsstaaten der Asylwerber zu verschaffen (vgl. VwGH 30.10.2020, Ra 2020/19/0298). In Ländern mit besonders hoher Berichtsdichte, wozu die Türkei zweifelsfrei zu zählen ist, liegt es in der Natur der Sache, dass die Behörde nicht sämtliches existierendes Quellenmaterial verwenden kann, da dies ins Uferlose ausarten würde und den Fortgang der Verfahren zum Erliegen bringen würde. Vielmehr wird den oa. Anforderungen schon dann entsprochen, wenn es einen repräsentativen Querschnitt des vorhandenen Quellenmaterials zur Entscheidungsfindung heranzieht (vgl. VwGH 11.11.2008, 2007/19/0279). Die der Entscheidung zu Grunde gelegten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers können somit zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, jedoch nunmehr als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation des Beschwerdeführers in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann. Die vom Bundesverwaltungsgericht getroffene Auswahl des Quellenmaterials ist aus diesem Grunde daher ebenso wenig zu beanstanden.

Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

2.2.6. Was die in der mündlichen Verhandlung beantragte zeugenschaftliche Einvernahme der türkischen Freundin zum Privatleben des BF (VH-Schrift, S 24) betrifft, so ist auszuführen, dass sich der vorliegende Sachverhalt für das Bundesverwaltungsgericht bezüglich der Beziehung des BF zu dieser Person und folglich auch der Integration des BF als hinreichend geklärt darstellt und keine weitere Beweisaufnahme erforderlich ist, zumal die allfälligen Neuerungen in diesem Bereich des Privatlebens des BF ohnehin während des unsicheren Aufenthalts im Zuge des seit Februar 2024 laufenden Asylverfahrens entstanden sind und daher das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung das Interesse der BF an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Selbst Beweisanträge dürfen nämlich abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (VwGH 28.09.2018, Ra 2018/08/019; 23.06.2017, Ra 2016/08/0141, jeweils mwN).

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht. Vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist. Die Verfolgung kann gemäß § 3 Abs. 2 AsylG auch auf so genannten objektiven oder subjektiven Nachfluchtgründen beruhen.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN, VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine Verfolgung, die bereits stattgefunden hat („Vorverfolgung“), für sich genommen nicht hinreichend (vgl. VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212).

3.1.2. Im gegenständlichen Fall sind nach Ansicht der erkennenden Richterin die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund nicht gegeben. Der Beschwerdeführer vermochte nämlich keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen (vgl. Punkt 2 ff des gegenständlichen Erkenntnisses).

3.1.3. Aus den Feststellungen in Zusammenschau mit der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts folgt des Weiteren, dass sich der Beschwerdeführer – selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung seines Vorbringens - durch ein vor mehr als drei Jahren verfasstes und mittlerweile gelöschtes Posting mit Kritik am türkischen Präsidenten auf Facebook nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine Position brachte, in der er für türkische Behörden als auffällig regimekritisch oder gar im Sinne der innerstaatlichen Gesetzgebung als des Separatismus oder Terrorismus Verdächtiger anzusehen wäre und daher mit entsprechender Verfolgung zu rechnen hätte. Dem Beschwerdeführer droht daher auch wegen dieser unmaßgeblichen Aktivitäten in den sozialen Medien vor mehr als drei Jahren in seinem Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Verfolgung iSd § 3 Abs. 1 AsylG.

3.1.4. Nach den Länderfeststellungen sind Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland nicht bekannt. Allein der Umstand, dass eine Person (im Ausland) einen Asylantrag gestellt hat, löst bei der Rückkehr in die Türkei keine staatlichen Repressionen aus. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Eine Person wird in Polizeigewahrsam genommen und verhört, wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist. Wenn auf Grund eines Eintrags festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise hingegen festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Nachteilige Folgen für den Fall einer Rückkehr nach einer erfolglosen Asylantragstellung sind den herangezogenen umfassenden Länderfeststellungen hingegen nicht zu entnehmen. Insoweit erübrigt es sich auch weitergehende Ermittlungen diesbezüglich anzustellen.

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, war in der Folge davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung im gegebenen Fall nicht existent ist.

In einer Gesamtschau sämtlicher Umstände und mangels Vorliegens einer aktuellen Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA abzuweisen.

3.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hat die Behörde einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z1), wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine "reale Gefahr" einer Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben), Art 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 (Abschaffung der Todesstrafe) zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung nach § 7 zu verbinden (Abs 2 leg cit). Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht (Abs 3 leg cit).

Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).

Unter "realer Gefahr" ist in diesem Zusammenhang eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH 99/20/0573 v. 19.2.2004 mwN auf die Judikatur des EGMR. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller "Beweise" zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).

3.2.2. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Beweisverfahrens kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland einer existentiellen Gefährdung noch einer sonstigen Bedrohung ausgesetzt sein könnte, sodass die Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten würde. Eine Gefährdung durch staatliche Behörden bloß aufgrund des Faktums der Rückkehr ist nicht ersichtlich, auch keine sonstige allgemeine Gefährdungslage durch Dritte.

Der Beschwerdeführer hat weder eine lebensbedrohende Erkrankung noch einen sonstigen auf seine Person bezogenen "außergewöhnlichen Umstand" behauptet oder bescheinigt, der ein Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG darstellen könnte.

In der Türkei erfolgen weder grobe, massenhafte Menschenrechtsverletzungen unsanktioniert, noch ist nach den seitens des Bundesverwaltungsgerichts getroffenen Feststellungen von einer völligen behördlichen Willkür auszugehen ist, weshalb auch kein "real Risk" (VwGH vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582; VwGH 09.04.2008, 2006/19/0354) einer unmenschlichen Behandlung festzustellen ist.

Da sich der Herkunftsstaat des Beschwerdeführers nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konflikts besteht.

Die Sicherheitslage in der Türkei ist zwar als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder die PKK konfrontiert. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich indes nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray in der Region Zentralanatolien. Betreffend die Sicherheitslage im Distrikt Ortaköy ist mit Blick auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 in der Türkei verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, ihres mutmaßlichen Ablegers [TAK], des sog. Islamischen Staates und im geringen Ausmaß der DHKP-C. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak können den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den angrenzenden türkischen Gebieten haben, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.07.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen.

Vorab ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray in der Region Zentralanatolien, in welchem der Beschwerdeführer die letzten Jahre vor der Ausreise lebte, deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach – schon in Anbetracht seines Aufenthalts im Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray in der Region Zentralanatolien weit weg von den unsicheren Provinzen in der Osttürkei – nicht anzunehmen. Ferner brachte der Beschwerdeführer auch ansonsten nicht vor, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein bzw. geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass der Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray überhaupt von Kampfhandlungen und/ oder Ausgangssperren betroffen war. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz im Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang abschließend auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137-14 zur Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, in welchem sich der VwGH mit der Frage einer Rückkehrgefährdung iSd Art. 3 EMRK aufgrund der bloßen allgemeinen Lage (hier: Irak), insbesondere wegen wiederkehrenden Anschlägen und zum anderen einer solchen wegen – kumulativ mit der allgemeinen Lage – zu berücksichtigenden individuellen Faktoren, befasst hat und die Revision gegen das Erkenntnis des BVwG als unbegründet abgewiesen wurde.

Es ist unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation (gesunder Mann mit sozialem Netz durch seine Familienangehörigen, Sprachkenntnisse in Türkisch, mehrjährige Schulausbildung in der Türkei auf Maturaniveau und Berufserfahrung etwa in Fleischereien und im Bau- sowie Reinigungsbereich in Österreich) nicht ersichtlich, warum dem Beschwerdeführer eine Existenzsicherung in der Türkei, auch an anderen Orten bzw. in anderen Landesteilen der Türkei, zumindest durch Gelegenheitsarbeiten, nicht möglich und zumutbar sein sollte. Es ist ihm als erwerbsfähigen Mann zumutbar, in einer türkischen Großstadt oder einer Tourismusregion auch ohne familiären Rückhalt Fuß zu fassen und dort eine Erwerbstätigkeit in der Industrie, im Handel, der Bauwirtschaft oder in einem Tourismusbetrieb aufzunehmen und dermaßen den Lebensunterhalt zu finanzieren. Das persönliche Profil des Beschwerdeführers bietet keinen Anlass zur Befürchtung, dass er in der Türkei keine Lebensgrundlage vorfinden würde. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in der Türkei erhöht und die wirtschaftliche Lage angespannt ist, ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer als Arbeiter mit mehrjähriger Berufserfahrung und mit Kenntnissen der deutschen Sprache in den geschilderten Branchen – nach einer anfänglichen Zeit der Arbeitssuche – eine Beschäftigung auffinden wird, zumal Gegenteiliges im Verfahren auch nicht substantiiert vorgebracht wurde. Es wäre dem Beschwerdeführer somit zumutbar, durch eigene und notfalls wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. ihn schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen - erforderlichenfalls unter Anbietung seiner gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung - jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können. Gründe, weshalb eine wirtschaftliche Absicherung des BF nicht gegeben wäre, sind weder den Angaben des BF vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung noch dem vorliegenden Verwaltungsakt zu entnehmen.

Es gibt auch keine entsprechenden Hinweise darauf, dass eine existenzielle Bedrohung des Beschwerdeführers im Hinblick auf seine Versorgung und Sicherheit in der Türkei gegeben ist.

Im Fall des erwachsenen Beschwerdeführers kann bei einer Gesamtschau nicht davon ausgegangen werden, dass er im Fall einer Rückkehr in die Türkei gegenwärtig einer spürbar stärkeren, besonderen Gefährdung ausgesetzt wäre. Familienangehörige des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Türkei und ist somit ein soziales Netz gegeben, in welches er bei seiner Rückkehr wieder Aufnahme finden wird. Es ist somit nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in der Türkei völlig allein und ohne jede soziale Unterstützung wäre. Es sind zudem keine Gründe ersichtlich, warum er als Erwachsener in der Türkei - wie bereits in Österreich - nicht einer Erwerbstätigkeit nachgehen können sollte. Er ist in der Türkei aufgewachsen, hat dort etwa die erste Hälfte seines Lebens verbracht, wurde dort sozialisiert und es kam nicht hervor, dass er in der Türkei keine familiären und privaten Anknüpfungspunkte mehr hat. Zu beachten ist weiters, dass von Seiten der in Österreich lebenden Familienangehörigen (Eltern, Bruder und zwei Halbschwestern, Onkel, Cousin und Cousine) auch Geldsendungen, die teilweise sogar mit einer höheren Kaufkraft vor Ort verbunden sind, oder die Übermittlung von Warensendungen (zB. Lebensmittel) in die Türkei möglich sind.

Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung.

Das vor kurzem stattgefundene Erdbeben und die dabei entstandenen Schäden an Wohngebäuden und Infrastruktur stehen einer Rückkehr des BF in die Türkei ebenso wenig entgegen. Es handelt sich um keinen landesweiten Katastrophenzustand, der im gesamten Staatsgebiet der Türkei zu einer Gefährdungslage im Hinblick auf die Art. 2 und 3 EMRK führen

würde, sondern lediglich um ein lokal begrenztes Phänomen, wobei auf die große internationale Solidarität sowie das junge Alter und die Anpassungs- sowie Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers hingewiesen wird. Es wurde jedenfalls vom BF im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nicht konkret vorgebracht, dass es für diesen allein aus diesem Grund ausgeschlossen wäre, sich im Herkunftsstaat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Hingewiesen wird zudem darauf, dass sich der der BF zuletzt ohnehin im Distrikt Ortaköy in der Provinz Aksaray in der Region Zentralanatolien aufgehalten hat und dort wohnhaft war. Diese Möglichkeit stünde dem BF jedenfalls erneut offen, wie etwa auch seinen Wohnsitz überhaupt in einen anderen Landesteil der Türkei zu verlegen, zumal eine Unterkunftnahme in einem anderen Landesteil jedenfalls problemlos möglich ist, wenn auch gewisse Startschwierigkeiten (mit welchen sich jedoch jedermann in vergleichbarer Situation konfrontiert sähe) nicht ausgeschlossen werden können.

Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen ansonsten nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhalts gem. Art. 2 und/ oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.

Aufgrund der Ausgestaltung des Strafrechts des Herkunftsstaats des Beschwerdeführers (die Todesstrafe wurde im Jahr 2004 abgeschafft) scheidet das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Art. 2 EMRK, oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe aus.

Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in wesentlichen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechts-verletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch, jeder der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthalts aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein. Ebenso betreffen die festgestellten Problemfelder zu einem erheblichen Teil Bereiche, von denen der Beschwerdeführer nicht betroffen ist.

Aus der sonstigen allgemeinen Lage im Herkunftsstaat kann ebenfalls bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Bestehen eines unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalts abgeleitet werden.

Weitere, in der Person des Beschwerdeführers begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.

Somit war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zur Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und der Erlassung einer Rückkehrentscheidung (§ 57 AsylG und § 52 FPG):

3.3.1. Gemäß § 10. Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.

3.3.2. Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen: 1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht, 2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder 3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

3.3.2.1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit März 2003 im Bundesgebiet und sein Aufenthalt ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde behauptet wurde.

3.3.3. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

3.3.3.1. Der Beschwerdeführer ist als türkischer Staatsangehöriger kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da mit der erfolgten Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

3.3.4. § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen – etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder – äußern können (vgl. mwN (u. a. EGMR 02.11.2010, Serife Yigit gegen die Türkei) VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0425). In der soeben zitierten Entscheidung ging der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von folgendem Sachverhalt aus, den er als Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK qualifizierte: Beziehungsdauer und Zusammenleben von über 25 Jahren, sechs gemeinsame Kinder, religiöse Trauung über 25 Jahre vor dem Ende der Beziehung infolge des Todes eines der Partner.

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

3.3.4.1. Der BF ist zuletzt zum Aufenthalt in Österreich nur aufgrund seines Antrags auf internationalen Schutz, welcher sich als nicht begründet erwiesen hat, berechtigt gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass ihm ein nicht auf asylrechtliche Bestimmungen gestütztes Aufenthaltsrecht zukäme, sind nicht ersichtlich.

Im Bundesgebiet halten sich die Eltern, ein Bruder und zwei Halbschwestern, ein Onkel, ein Cousin und eine Cousine des BF auf. Über weitere Verwandte oder sonstige nahe Angehörige im Bundesgebiet verfügt der BF nicht.

Was den Onkel, den Cousin und die Cousine sowie die zwei Halbschwestern des BF betrifft, so liegt ein aktueller gemeinsamer Haushalt mit diesen Personen nicht vor. Ebenso wenig kommt es zu einer finanziellen Unterstützung des BF durch diese Personen. Der BF brachte nicht vor, dass es mit diesen Personen beispielsweise zu Telefonaten oder etwa persönlichen Kontakten, etwa in Form von Besuchen, kommt. Tatsächlich führte der BF explizit aus, dass er zu seinen Halbschwestern seit seinem Gefängnisaufenthalt 2019 keinen guten Kontakt mehr hätte. Ansonsten wurden zum Verhältnis zu diesen Personen keine näheren Ausführungen getätigt und finden sich auch keine weiteren Anhaltspunkte, die für eine besondere Beziehungsintensität und emotionale Nähe sprechen.

Mit den Eltern wohnt der BF wiederum im gemeinsamen Haushalt und wird er von diesen auch finanziell unterstützt. Außerdem unterstützt der BF seine Eltern und seinen an Schizophrenie leidenden Bruder bei alltäglichen Haushaltsaufgaben. Was diese in Österreich lebenden Familienangehörigen betrifft, so reicht die geschilderte Wohnsitznahme bei den Eltern (bzw. in unmittelbarere Nähe zum Bruder) seit einigen Jahren und die Unterstützung bei Bestreitung des Lebensunterhalts durch die Eltern nicht aus, um von einem schützenswerten Familienleben auszugehen, welches den öffentlichen Interessen für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung entgegensteht. Diese öffentlichen Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit das private Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib in Österreich. Eine allfällige - auch finanzielle - Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine hier lebenden Eltern stellt in Anbetracht der besonderen Situation des einkommenslosen Beschwerdeführers indes keinen Ausdruck einer besonderen Verbundenheit dar, sondern ist vielmehr auf den Umstand zurückzuführen, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden kann, dass in einer derartigen Situation Verwandte und vorrangig die Eltern oder erwachsene Geschwister einander hilfreich zur Seite stehen. Im Übrigen begründet diese Hilfestellung auch kein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis, zumal die Hilfe durch die Eltern für den Beschwerdeführer keineswegs unerlässlich ist. Tatsächlich könnte er seinen Lebensunterhalt auch durch Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber (oder als gesunder Mann durch eine eigene Erwerbstätigkeit) bestreiten. Dass die Eltern oder der Bruder des Beschwerdeführers auf dessen Unterstützung bzw. Betreuung angewiesen wären, kam im Verfahren ebenso wenig hervor, zumal diese Personen während des Gefängnisaufenthalts des BF in den vorangehenden Jahren ihren Alltag ebenso problemlos ohne die Unterstützung durch den Beschwerdeführer bewältigen konnten. Ein Abhängigkeitsverhältnis besteht sohin nicht, auch wenn nicht übersehen wird, dass der BF von seinen in Österreich aufhältigen Eltern finanziell und durch die Zurverfügungstellung einer unentgeltlichen Unterkunft unterstützt wird, wobei es sich aber eben um kein grundsätzliches Abhängigkeitsverhältnis handelt. Eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern und seinem Bruder trat im Verfahren ebenso wenig zutage, zumal es diese etwa unterließen, ihn als Vertrauensperson bei der Einvernahme vor dem BFA zu begleiten oder sich in Form eines Unterstützungsschreibens für den Beschwerdeführer vor dem BFA und/oder dem Bundesverwaltungsgericht persönlich zu verwenden. Vielmehr zeugen die beigeschafften Unterlagen von maßgeblichen Differenzen zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern, welche auch zu einer strafgerichtlichen Verurteilung des BF wegen Gewalttätigkeiten gegenüber seinem Vater führten. Eine intensive Bindung des Beschwerdeführers zur Familie besteht (auch) nicht, zumal das durchgeführte Strafverfahren zeigt, dass der Beschwerdeführer vor verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen selbst mit seinem Vater nicht zurückschreckt.

Die Beziehung des Beschwerdeführers zu einer türkischen Staatsangehörigen entwickelt sich seit Februar 2024. Zuvor führte er mit ihr vor seiner letzten Haft eine On-Off-Beziehung. Sie leben bislang nicht in einer gemeinsamen Wohnung. Es besteht kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis. Er kennt weder ihren Familienstand, noch ihr Geburtsdatum oder ihre Wohnadresse. Dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit oder gegenwärtig ein ernsthaftes, ausgeprägtes Interesse an der Beziehung zu seiner Freundin hat(te), konnte im Verfahren nicht erkannt werden. Eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen dem Beschwerdeführer und dieser Person weiblichen Geschlechts trat im Verfahren ebenso wenig zutage. Die beiden sind nicht verlobt oder verheiratet und sie haben keine Kinder. Die Beziehung ist aufgrund der kurzen Dauer von wenigen Monaten und der vorangehend nur lose bestehenden On-Off-Beziehung jedenfalls als nicht hinreichend intensiv anzusehen, zumal der BF auch keine besonderen Kenntnisse über seine Freundin (etwa zu deren Geburtsdatum oder Wohnadresse) vorweisen konnte. Im Lichte dieser Feststellungen ist folglich davon auszugehen, dass diese Beziehung nicht als Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK zu qualifizieren ist (VwGH, 17.12.2019, Ro 2019/18/0006) und somit hinsichtlich seiner Freundin kein besonders schwerwiegender Eingriff in ein von Art 8 EMRK geschütztes Familienleben anzunehmen ist. Der Kontakt zu seiner Freundin kann zudem über moderne Kommunikationsmittel oder durch Besuche aufrechterhalten werden: Zudem bestünde die Beziehung erst seit wenigen Monaten und wurde im Wissen um den ungewissen Aufenthalt des BF in Österreich eingegangen.

Nach Maßgabe dieser Sachverhaltselemente ist die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und einer Person weiblichen Geschlechts daher im Lichte der zitierten Judikatur ebenfalls lediglich als (Teil des) Privatleben(s) des Beschwerdeführers im Sinne des Art. 8 EMRK zu qualifizieren.

Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Österreich ein schützenswertes Familienleben führt, welches den öffentlichen Interessen an einer Rückkehrentscheidung entgegensteht, wobei die Klärung dieser Frage aber ohnehin dahingestellt bleiben kann, da bereits aufgrund der im Bundesgebiet lebenden Eltern und Geschwister sowie der Beziehung zu einer Person weiblichen Geschlechts vom Vorliegen eines Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich auszugehen ist und die sodann vorzunehmende Interessenabwägung zwischen den Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich und den öffentlichen Interessen an einer Außerlandesschaffung beim Recht auf Privat- und beim Recht auf Familienleben gleich verläuft.

Sohin blieb zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf ein Privatleben in Österreich darstellt.

3.3.4.2. Im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts wurde in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert.

In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylweber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Beschwerdeführer in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da - abseits familiärer Umstände - eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541).

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191; VwGH 25.04.2018, Ra 2018/18/0187; vgl. auch VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN). Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN).

Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 02.09.2019, Ra 2019/20/0407 bis 0408, mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren.

Der Verwaltungsgerichtshof hat unter anderem folgende Umstände - zumeist in Verbindung mit anderen Aspekten - als Anhaltspunkte dafür anerkannt, dass der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit zumindest in gewissem Ausmaß genützt hat, um sich zu integrieren: Dazu zählen die Erwerbstätigkeit des Fremden (vgl. etwa die Erkenntnisse vom 26. Februar 2015, Ra 2014/22/0025, vom 18. Oktober 2012, 2010/22/0136, sowie vom 20. Jänner 2011, 2010/22/0158), das Vorhandensein einer Beschäftigungsbewilligung (vgl. das Erkenntnis vom 04. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253), eine Einstellungszusage (vgl. das Erkenntnis vom 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165, sowie das Erkenntnis vom 26. März 2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082), das Vorhandensein ausreichender Deutschkenntnisse (vgl. das Erkenntnis vom 04. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253 sowie das Erkenntnis vom 14. April 2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032), familiäre Bindungen zu in Österreich lebenden, aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen (vgl. die Erkenntnisse vom 23. Mai 2012, 2010/22/0128, sowie (betreffend nicht zur Kernfamilie zählende Angehörige) vom 9. September 2014, 2013/22/0247), ein Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich bzw. die Vorlage von Empfehlungsschreiben (vgl. die Erkenntnisse vom 18. März 2014, 2013/22/0129, sowie vom 31. Jänner 2013, 2011/23/0365), eine aktive Teilnahme an einem Vereinsleben (vgl. das Erkenntnis vom 10. Dezember 2013, 2012/22/0151), freiwillige Hilfstätigkeiten (vgl. das zitierte Erkenntnis Ra 2015/21/0249 bis 0253), ein Schulabschluss (vgl. das Erkenntnis vom 16. Oktober 2012, 2012/18/0062) bzw. eine gute schulische Integration in Österreich (vgl. die zitierten Erkenntnisse Ra 2015/21/0249 bis 0253 sowie Ra 2014/22/0078 bis 0082) oder der Erwerb des Führerscheins (vgl. das zitierte Erkenntnis 2011/23/0365). Umgekehrt hat der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthalts und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können. Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung (vgl. etwa die Erkenntnisse vom 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165, und vom 10. November 2015, Ro 2015/19/0001, sowie die Beschlüsse vom 3. September 2015, Ra 2015/21/0121, und vom 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften (wie etwa das Ausländerbeschäftigungsgesetz; siehe das Erkenntnis vom 16. Oktober 2012, 2012/18/0062, sowie den Beschluss vom 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), eine zweifache Asylantragstellung (vgl. den Beschluss vom 20. Juli 2016, Ra 2016/22/0039, sowie das zitierte Erkenntnis Ra 2014/22/0078 bis 0082), unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (vgl. die zitierten Erkenntnisse Ra 2015/21/0249 bis 0253 sowie Ra 2016/21/0165), sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. das Erkenntnis vom 31. Jänner 2013, 2012/23/0006).

Liegt eine noch eher kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 10.04.2019 Ra 2019/18/0049, mwN). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289; VwGH 10.4.2020, Ra 2019/19/0108, VwGH 16.02.2021, Ra 2019/19/0212 sowie VwGH vom 19.3.2021, Ra 2019/19/0123, mwN). Allerdings nimmt das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN; dort auch zur Bedeutung einer Lehre iZm Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK).

Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013; vgl. zum unsicheren Aufenthaltsstatus auch die Entscheidungen des VwGH vom 27.6.2019, Ra 2019/14/0142, vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0015, vom 06.05.2020, Ra 2020/20/0093 vom 27.02.2020, Ra 2019/01/0471 und zuletzt vgl. VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0428).

Es trifft zwar zu, dass im Rahmen einer Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden in der Regel von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (vgl. VwGH 01.02.2019, Ra 2019/01/0027, mwN). Diese Rechtsprechung betraf allerdings nur Konstellationen, in denen sich aus dem Verhalten des Fremden – abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich – sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab. Die "Zehn-Jahres-Grenze" spielte in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein – massives – strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (vgl. VwGH 28.02.2019, Ra 2018/01/0409 unter Hinweis auf VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001, mwN). Auch das Gewicht des langjährigen Aufenthalts erfährt durch die begangenen Straftaten eine maßgebliche Minderung. Der Verwaltungsgerichtshof geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält. Zu Lasten eines Fremden ins Gewicht fallen demnach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht (VwGH 27.02.2007, 2006/21/0164 mwN, wonach das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).

Nach der Judikatur des VwGH ist aber auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn diesen Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalts eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogenen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (VwGH 17.10.2016 Ra 2016/22/0005; 23.02.2017 Ra 2016/21/0340).

Für den gegenständlichen Fall ergibt sich Folgendes:

Rund 21 Jahre und sechs Monate Aufenthaltsdauer in Österreich stellen nun zwar eine erhebliche Dauer dar, die zu Gunsten des BF ausschlägt, aber noch nicht per se dazu führt, dass seine Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären wäre. Ferner wird die Relevanz der Aufenthaltsdauer bereits dadurch gemindert, dass der BF infolge der rechtskräftigen Rückkehrentscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2022 und der anschließenden Einstellung des Verlängerungsverfahrens seitens der zuständigen Niederlassungsbehörde bezüglich des Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ ab Frühling 2022 überhaupt nicht mehr zum weiteren Aufenthalt berechtigt war sowie ab dem 07.02.2024 lediglich aufgrund einer letztlich unbegründeten Asylantragstellung wieder zulässig im Bundesgebiet bzw. zum bloß vorläufigen Aufenthalt berechtigt war. In Anbetracht des Umstandes, dass der Antrag auf internationalen Schutz unbegründet ist und er versuchte diesen mit einem nicht glaubhaften/nicht asylrelevanten Sachverhalt zu begründen, sind weitere gravierende öffentliche Interessen festzustellen, die für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung sprechen. Diese Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit - unter Berücksichtigung der zahlreichen strafgerichtlichen Verurteilungen - das private Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib, selbst wenn er im Bundesgebiet über eine Freundin, seine Eltern, zwei Halbschwestern, einen Bruder, einen Onkel, einen Cousin und eine Cousine verfügt, hier soziale Kontakte knüpfte, er - etwa als Fleischer oder im Bereich des Bauwesens und der Gebäudereinigung - immer wieder für mehrere Monate beruflich tätig war, alltagstaugliche Deutschkenntnisse erlangt hat und sein zukünftiges Leben hier gestalten will. Hinsichtlich des langjährigen Aufenthalts des Beschwerdeführers ist vor allem auch wesentlich, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers bereits ab Frühling 2022 bis zu seiner Antragstellung unrechtmäßig war. Die jahrelange Missachtung einer wider den Beschwerdeführer bestehenden Ausreiseverpflichtung ist im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung nach Art. 8 MRK in besonderer Weise negativ in Ansatz zu bringen (vgl. auch VwGH 18.02.2019, Ra 2016/22/0115 mwN). Gerade dieser Umstand steht einer Berufung auf jene Judikaturlinie des Verwaltungsgerichtshofes entgegen, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen seiner persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (VwGH 29.06.2017, Ro 2016/21/0007). Im Ergebnis stellt die Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet - unter Berücksichtigung der zahlreichen strafgerichtlichen Verurteilungen - kein besonders zugunsten des Beschwerdeführers zu berücksichtigendes Faktum dar, zumal sie nicht zuletzt auf die Missachtung der bereits im Frühling 2022 rechtskräftig ausgesprochenen Ausreiseverpflichtung in die Türkei und den Verbleib in Europa zurückzuführen ist.

Hinsichtlich Verfahrensverschleppung ist auf nachfolgende Judikatur zu verweisen:

So führt der Verwaltungsgerichtshof etwa in seinem Beschluss vom 26.03.2009, Zl. AW 2009/18/0081, betreffend die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, welcher sich seit der illegalen Einreise im Jahr 1991 im österreichischen Bundesgebiet aufhielt und nach Erlassung eines Aufenthaltsverbotes im Jahr 1997 seinen Aufenthalt in Österreich fortsetzte, im Rahmen der Interessenabwägung aus, dass der für den Beschwerdeführer mit dem Vollzug der Ausweisung verbundene Nachteil im Wesentlichen darin bestehe, dass der ihm aus dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zuzumutende Zustand wiederhergestellt werde, der vor seiner Einreise nach Österreich und seinem daran anschließenden rechtswidrigen Verbleib bestanden habe, und dass er die Folgen des Abbruchs der nur durch sein beharrliches, illegales Verhalten aufgebauten beruflichen Integration zu tragen habe (vgl. in diesem Sinne auch VwGH E vom 21.01.2010, Zl. 2009/18/0429 und 15.11.2005, Zl. 2003/18/0263).

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 07.10.2009, U 2511, 2512/09-3, welcher in einem vergleichbaren Fall einer Beschwerdeführerin, die im Jahr 2001 illegal in das österreichischen Bundesgebiet eingereist war, während dieses Zeitraumes bis zum rechtskräftigen Abschluss ihres dritten Asylverfahrens mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes am 15.09.2009 sohin insgesamt drei negativ abgeschlossene Asylverfahren betrieben und zwischen diesen Verfahren unrechtmäßige Aufenthalte im Bundesgebiet zu verzeichnen hatte, die Behandlung der Beschwerde gegen das Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 15.09.2009 ablehnte mit der Begründung, dem Asylgerichtshof könne aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht entgegen getreten werden, wenn er auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgehe, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art. 8 EMRK überwiege.

In einer Gesamtschau kann daher die gegenüber dem Beschwerdeführer bereits ergangene, aber nicht befolgte rechtskräftige asylbehördliche Entscheidung, im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung im Lichte der dargestellten Rechtsprechung des EGMR und des Verwaltungsgerichtshofes selbst unter Annahme einer erfolgten Integration nicht für das private Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich ins Treffen geführt werden, vielmehr erscheint unter diesem entscheidungserheblichen Gesichtspunkt der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers im öffentlichen Interesse zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, insbesondere der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens, dringend geboten.

Hinsichtlich des Erfordernisses der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften ist auf nachfolgende aktuelle höchstgerichtliche Judikatur hinzuweisen:

Ein großes öffentliches Interesse besteht in Ansehung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit an der Befolgung fremdenrechtlicher Vorschriften. Dieses Interesse verlangt grundsätzlich, dass Fremde nach Ablehnung ihrer Asylanträge den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet wiederherstellen (VwGH 19.12.2012, 2012/22/0221).

Es ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin, deren Aufenthaltsstatus sich während ihres gesamten Aufenthalts immer als unsicher dargestellt hat und die von Beginn ihrer Einreise an nicht mit einem dauernden Aufenthalt in Österreich rechnen durfte, gegen maßgebliche öffentliche Interessen verstoßen hat. Es trifft nämlich die behördliche Ansicht zu, dass den die Einreise und den Aufenthalt Fremder regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert beizumessen ist. Gegen diese Normen hat die Beschwerdeführerin mit ihrem Verhalten, indem sie versucht, durch den unrechtmäßigen Verbleib in Österreich für die Behörden vollendete Tatsachen zu schaffen, in gravierender Weise verstoßen (VwGH 19.2.2013, 2012/18/0188).

Hinsichtlich der Aufenthaltsdauer ist auf nachfolgende aktuelle höchstgerichtliche Judikatur hinzuweisen:

Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann ein über zehnjähriger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet - unter Bedachtnahme auf die jeweils im Einzelfall zu beurteilenden Umstände - ein großes Gewicht verleihen bzw. eine auf einen unrechtmäßigen Aufenthalt gegründete aufenthaltsbeendende Maßnahme als unverhältnismäßig erscheinen lassen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, können solche aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ausnahmsweise auch nach einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden. Diese Rechtsprechung betraf allerdings nur Konstellationen, in denen sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab. Die "Zehn-Jahres-Grenze" spielte in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001).

In Fällen gravierender Kriminalität und daraus ableitbarer hoher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit stand die Zulässigkeit der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auch gegen langjährig in Österreich befindliche Ehegatten von österreichischen Staatsbürgern nie in Frage (VwGH 03.09.2015, Ra 2015/21/0121).

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2003 im Alter von 18 Jahren rechtmäßig in das Bundesgebiet eine und begründete in der Folge einen Wohnsitz im Bundesgebiet. Er war seither im Bundesgebiet bis Frühling 2022 rechtmäßig aufhältig. Seit 10.03.2022 bestand eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung wider ihn. Der Ausreiseverpflichtung in die Türkei kam er nicht nach. Am 07.02.2024 stellte der BF den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bevor er diesen Antrag stellte, hielt er sich somit längere Zeit unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Erst mit der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz ist der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet wieder zulässig und verfügt er erst seit der Beschwerde gegen die Entscheidung des BFA aufschiebende Wirkung zukommt - infolge der daraus resultierenden Zulassung des Antrags - wieder über ein Aufenthaltsrecht. Er ging – wenn sich auch große Lücken im Beschäftigungsverlauf zeigen und die Arbeitsverhältnisse für sich jeweils eher nur kurze Zeit währten – immer wieder einer Erwerbstätigkeit bei verschiedenen Arbeitgebern nach. Bereits ab dem Jahr 2004 setzte der Beschwerdeführer jene Handlungen, derentwegen er in der Folge strafgerichtlich verurteilt wurde.

Der Beschwerdeführer verfügt außerdem über mehrere Verwandte im Bundesgebiet, insbesondere zwei Halbschwestern, einen Onkel, einen Cousin und eine Cousine, wobei er mit diesen Personen nicht zusammenlebt und im Hinblick auf diese Personen auch sonst keine starke Nahebeziehung dargetan wurde oder im Verfahren hervorgekommen ist.

Was die Eltern und den Bruder betrifft, so wird nicht übersehen, dass der BF von seinen in Österreich aufhältigen Eltern finanziell und durch die Zurverfügungstellung einer unentgeltlichen Unterkunft unterstützt wird. Diese Personen unterließen es indes, ihn als Vertrauensperson bei der Einvernahme vor dem BFA zu begleiten oder sich in Form eines Unterstützungsschreibens für den Beschwerdeführer vor dem BFA und/oder dem Bundesverwaltungsgericht persönlich zu verwenden. Tatsächlich zeugen die beigeschafften Unterlagen von maßgeblichen Differenzen zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern, welche auch zu einer strafgerichtlichen Verurteilung des BF wegen Gewalttätigkeiten gegenüber seinem Vater führten. Eine besonders intensive Bindung des Beschwerdeführers zur Familie besteht nicht, zumal das durchgeführte Strafverfahren zeigt, dass der Beschwerdeführer vor verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen selbst mit seinem Vater nicht zurückschreckt. Dass die Eltern des Beschwerdeführers auf dessen Unterstützung bzw. Betreuung angewiesen wären, kam im Verfahren nicht hervor, weshalb die insoweit gepflegten Beziehungen auch – wie zuvor ausgeführt – dem Bereich des Privatlebens zuzuordnen sind. Ferner ist festzuhalten, dass der Bruder des Beschwerdeführers entgegen dem Vorbringen ebenso wenig einer Betreuung durch den BF bedarf, zumal er etwa auch die Hilfe seiner Eltern in Anspruch nehmen kann. Ausweislich der Ausführungen des BF in der mündlichen Verhandlung war dieser auch in der Vergangenheit - während des letzten Haftaufenthalts des BF - in der Lage, seinen Alltag mithilfe seiner Eltern im Wesentlichen selbständig und selbstbestimmt zu gestalten.

Zu Gunsten des BF ist jedenfalls der Aufenthalt seiner Eltern und seines Bruders im Bundesgebiet zu werten, wobei der BF mit den Eltern im Bundesgebiet im gemeinsamen Haushalt lebt. Es wird auch nicht verkannt, dass der BF den Wunsch hegt, so wie seine Eltern und sein Bruder, in Österreich zu leben. Die missbräuchliche Stellung eines Asylantrags und der damit einhergehende Versuch dadurch ein Aufenthaltsrecht in Österreich zu erwirken, kann jedoch nicht dazu führen, aufenthaltsrechtliche Bestimmungen - wie die Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG - zu umgehen.

Würde sich darüber hinaus ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen.

Im gegenständlichen Fall überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf (vgl. dazu im Allgemeinen und zur Gewichtung der maßgeblichen Kriterien VfGH 29.09.2007, B 1150/07).

Als Teil des Privatlebens ist auch die Beziehung, die der Beschwerdeführer zu einer türkischen Staatsangehörigen führt, zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung dieses grundsätzlich berücksichtigungswürdigen Elements des Privatlebens ist zu bedenken, dass sich der BF und diese Person weiblichen Geschlechts zwar bereits vor mehreren Jahren kennenlernten, in der Folge jedoch lediglich eine lose On-Off-Beziehung führten und erst im Februar 2024 die aktuelle Beziehung eingingen, die somit erst seit relativ kurzer Zeit besteht. Sie leben bislang nicht in einer gemeinsamen Wohnung. Es besteht kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis. Die beiden sind nicht verlobt oder verheiratet und sie haben keine Kinder. Ferner trat eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen dem Beschwerdeführer und dieser Person weiblichen Geschlechts nicht zutage. Auf eine geringe Intensität der Beziehung weist auch hin, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung weder den Familienstand, noch das Geburtsdatum oder die Wohnadresse dieser Person nennen konnte. Im Hinblick darauf und weil der Beschwerdeführer die Beziehung allenfalls zu einem Zeitpunkt begründet hat, zu dem sich die Zulässigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers allein auf seinen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stützen konnte, ist die Schutzwürdigkeit des Privatlebens eher gering.

Der BF besitzt einen normalen Freundes- und Bekanntenkreis und geht üblichen Freizeitaktivitäten nach. Von einer gesellschaftlichen Integration im beachtlichen Ausmaß ist jedoch nicht auszugehen, zumal der Beschwerdeführer keine Unterstützungsschreiben vorlegen konnte. Es bestehen keine über übliche Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse hinausgehende innige Verhältnisse, geschweige denn Abhängigkeitsverhältnisse. Es zeigt sich lediglich, dass der Beschwerdeführer in seinem unmittelbaren Lebensumfeld nicht in sozialer Isolation lebt, sondern mit einem überschaubaren Personenkreis in Kontakt steht beziehungsweise zum Teil Freundschaften aufbaute, was zumindest eine ansatzweise Integration in sozialer Hinsicht begründet.

Bezüglich der familiären Bindungen (Eltern, Geschwister, Onkel, Cousine und Cousin) und der Beziehung zur Freundin sowie des Bekannten- und Freundeskreises in Österreich ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wäre, den Kontakt zu den betreffenden in Österreich lebenden Personen gänzlich abzubrechen. Es steht ihm insbesondere frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0235).

Der Vollständigkeit halber weist das Bundesverwaltungsgericht auch darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer generell freisteht, einen weiteren temporären Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung einer Wiedereinreise nach § 26a FPG bzw. Art. 25 des EU-Visakodex und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen.

Dem BF ist es sohin insgesamt in Zukunft zumutbar die Beziehung etwa zu seinen Eltern, seinem Bruder und seiner Freundin durch Treffen in der Türkei oder in Drittstaaten fortzuführen. Zu beachten ist, dass sein Vater und sein Bruder frühere türkische Staatsbürger sind, seine Mutter türkische Staatsbürgerin ist und über einen bis 20.05.2025 gültigen Aufenthaltstitel (Daueraufenthalt - EU) verfügt und seine Freundin ebenso türkische Staatsbürgerin ist und über einen bis 07.05.2029 gültigen Aufenthaltstitel (Daueraufenthalt - EU) verfügt. Allein schon aufgrund deren (früherer) türkischer Staatsbürgerschaft wäre es diesen möglich, den BF einstweilen in der Türkei auch zu besuchen. Soweit in diesem Zeitraum ein persönlicher Kontakt zwischen dem BF und etwa seinen Eltern, seinem Bruder und seiner Freundin, nur eingeschränkt möglich sein wird, ist festzuhalten, dass dieser zwischenzeitig im Wege moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden kann. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang abermals, dass es dem BF bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG nicht verwehrt ist, wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (so auch VfSlg. 19.086/2010 unter Hinweis auf Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 861). Inzwischen ist es dem BF zumutbar, im Wege moderner Kommunikationsmittel (zB Skype, E-Mail, etc.), Kontakt zu seiner Familie und seiner Freundin im Bundesgebiet zu halten.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich die ÖSD Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz (Niveau: B1) und zu Werte- und Orientierungswissen bestanden und aufgrund seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet für den Alltagsgebrauch ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache erworben. Er verfügt über entsprechende Kenntnisse der deutschen Sprache, die für eine Konversation in alltäglichen Situationen ausreichen. Im Zuge der mündlichen Verhandlung bedurfte es allerdings abschnittsweise eines Dolmetschers für die türkische Sprache zur Erörterung komplexerer Fragen bzw. Sachverhalten, wiewohl die Verhandlung weitgehend in deutscher Sprache verrichtet werden konnte. In diesem Zusammenhang sei auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die - hier nicht vorhandenen - Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Der Beschwerdeführer hat hierorts aktuell keine belegten Anknüpfungspunkte in Form einer legalen Erwerbstätigkeit oder anderweitiger maßgeblicher wirtschaftlicher Interessen und ist zum Entscheidungszeitpunkt zur Sicherstellung seines Auskommens auf seine Familie angewiesen. Ihm wurde eine an den Erhalt eines gültigen Aufenthaltstitels mit Zugang zum Arbeitsmarkt geknüpfte Einstellungszusage für eine Beschäftigung als Fleischer in Teilzeitstellung (21 Wochenstunden) zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von ca. € 1.150,-- in Aussicht gestellt, der Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit ist damit jedoch keineswegs gewiss, zumal es sich hier lediglich um eine Teilzeitanstellung mit einem geringen Bruttomonatsgehalt handelt und der Beschwerdeführer bereits in der Vergangenheit immer wieder für einige Tage/Monate tätig war, diese Beschäftigungen aber jeweils bald wieder beendete.

Der Umstand, dass der BF ab dem Jahr 2004 immer wieder versuchte, seinen Lebensunterhalt in Österreich durch berufliche Tätigkeiten, etwa als Fleischer oder im Bau- und Reinigungsgewerbe, zu bestreiten, kann seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht maßgeblich verstärken (vgl. VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.6.2010, 2010/18/0226). Der BF bezog zwischenzeitlich immer wieder Arbeitslosengeld und Notstandshilfe. Es konnte jedenfalls - wie bereits ausgeführt - nicht festgestellt werden, dass der BF durch diese Tätigkeiten als selbsterhaltungsfähig anzusehen ist, zumal er im Zuge der mündlichen Verhandlung selbst eingestand, seinen Lebensunterhalt in Österreich durch Ersparnisse und seine Eltern finanzieren zu müssen.

Insofern fällt seine frühere Erwerbstätigkeit bei der gegenständlichen Abwägungsentscheidung nicht besonders stark ins Gewicht, mag er auch in Österreich eine Maler- und Anstreicherlehre begonnen haben, zumal er Ausbildung bzw. Berufsschule nicht abgeschlossen hat. Des Weiteren machte er zwar eine Ausbildung zum Fleischhauer, wobei er diesbezüglich die Lehrabschlussprüfung indes ebenso wenig ablegte. Er absolvierte während seines über zwei Jahrzehnte dauernden Aufenthalts lediglich einen Lehrgang als Metallschweißer beim Berufsförderungsinstitut, eine Ausbildung zum Baggerfahrer und erhielt er eine Ausbildung zum Lagerlogistiker in deren Rahmen er den „Staplerschein“ erwarb. Er kann jedoch keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen.

Diesbezüglich ist der Vollständigkeit halber auch darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, dass der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612 und VwGH 29.06.2010, 2010/18/0195 jeweils mit weiteren Nachweisen).

Darüber hinaus sind keine weiteren maßgeblichen Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass dem Recht auf Privat- und Familienleben des BF in Österreich im Verhältnis zu den legitimen öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung eine überwiegende und damit vorrangige Bedeutung zukommen lassen würde. Dementsprechend brachte er beispielsweise keine Unterstützungserklärungen in Vorlage und ist eine sonstige Beteiligung am gesellschaftlichen Leben nicht ersichtlich. Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar. Er erwähnte einzig, dass er während der Verbüßung einer Haftstrafe im Zuge eines Freigangs ehrenamtlich als Fahrer für die Caritas tätig war.

Insbesondere sind dem BF seine strafgerichtlichen Verurteilungen anzulasten.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 30.03.2005, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Betruges - als junger Erwachsener - nach §§ 15, 146 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je € 2,00, insgesamt € 80,00 (im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen), verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 08.08.2007, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Absatz 1, erster Fall StGB und des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 08.02.2011, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Absatz 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Ein Strafteil von fünf Monaten wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21.08.2014, XXXX , wurde die Probezeit auf insgesamt fünf Jahre verlängert.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21.08.2014, XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 4 iVm Abs. 1 StGB und des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 03.09.2015, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Beleidigung nach § 115 Absatz 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 31.01.2017, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung nach §§ 15, 83 Absatz 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27.05.2019, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB und wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt.

Nach Erhebung einer Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 09.11.2021, XXXX , wurde der BF mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 28.06.2022, XXXX , wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten sowie einer Woche verurteilt.

Aufgrund seiner Straffälligkeit und seines bisherigen rechtswidrigen Verhaltens stellt der Beschwerdeführer nach Ansicht der erkennenden Richterin eine nicht unbeachtliche Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit in Österreich dar. Der BF hat ein Fehlverhalten an den Tag gelegt, welches seine privaten Interessen in Österreich zu bleiben, maßgeblich schwächt. Die Aufenthaltsbeendigung von straffällig gewordenen Ausländern gilt grundsätzlich als legitimes Interesse eines Aufenthaltsstaats.

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der BF in den vergangenen Jahren wegen mehrerer Verwaltungsübertretungen rechtskräftig bestraft wurde. So verhängte die zuständige Verwaltungsstrafbehörde gegen den Beschwerdeführer unter anderem rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 20.06.2020 wegen Verletzung des § 99 Abs. 1 lit a iVm § 5 Abs. 1 StVO eine Geldstrafe in Höhe von € 4.500,00, im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe in Höhe von 32 Tagen und 21 Stunden. Der BF hat im Februar 2020 in Wien ein Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigen Zustand gelenkt, wobei die Atemalkoholuntersuchung mittels geeichtem Alkomaten einen Alkoholgehalt der Atemluft von 0,86 mg/l ergab. Ferner verhängte die zuständige Verwaltungsstrafbehörde gegen den Beschwerdeführer rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 18.05.2024 wegen Übertretung des § 82 Abs. 1 SPG und des § 1 Abs. 1 Z 2 und 2 WLSG Geldstrafen in Höhe von € 500,00, € 600,00 und € 600,00, im Nichteinbringungsfall Ersatzfreiheitsstrafen in Höhe von 14 Tagen, 5 Tagen und 23 Stunden sowie 5 Tagen und 23 Stunden.

Der BF hat sich im Mai 2024 in Wien durch das nachfolgend beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten. Er nahm eine aggressive Kampfhaltung ein, brüllte wild auf die Beamten ein und ging mit drohenden Handbewegungen auf die Polizisten zu, wobei er mehrmals die gebotene Nahdistanz unterschritt. Ferner hat er durch das lautstarke Herumgeschreie von Wortfolgen wie „Fickt euch!“, „Scheiß Polizei!“, welche für die übrigen Hausparteien und Passanten deutlich hörbar waren, ungebührlicherweise störenden Lärm erregt und durch die lautstarke Verwendung dieser Fäkalsprache und Verbalinjurien den öffentlichen Anstand verletzt. Insbesondere die durch die genannten Verwaltungsübertretungen verletzten Bestimmungen der StVO, dienen beispielsweise der Verkehrssicherheit und damit nicht zuletzt den bedeutsamen Rechtsgütern Leben, Gesundheit und körperliche Integrität. Somit sind die durch die Verwaltungsübertretungen bewirkten Verstöße gegen die öffentliche Ordnung keinesfalls unerheblich.

Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält. Zu Lasten eines Beschwerdeführers ins Gewicht fällt jedoch die rechtskräftige Verurteilung durch ein - inländisches - Gericht (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 27.02.2007, 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 11.04.2024, Ra 2023/21/0073-8, mit dem eine Revision wider eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. November 2022, W159 2253197-1/14E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots zurückgewiesen wurde. Der Fremde - ein Staatsbürger von Bosnien und Herzegowina - wurde am 1997 in Wien geboren. Er lebte immer in Österreich und war nur alle drei bis vier Jahre für ein bis zwei Wochen in Bosnien und Herzegowina auf Besuch, zuletzt 2017 oder 2018. Er verfügte über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ und besuchte in Österreich die Volksschule und die Hauptschule und sechs Jahre lang die Vienna Business School (Handelsakademie), schloss diese aber nicht ab. In der Folge arbeitete er teilweise als Security und teilweise als Kellner, nicht immer angemeldet. Angemeldet unselbstständig erwerbstätig war er ca. eineinhalb Jahre, selbstständig erwerbstätig nicht. Im Übrigen wurde er von seinen Eltern unterstützt, bei denen er auch Zeit seines Lebens lebte. Er führte zudem vor einiger Zeit eine Beziehung, die jedoch auseinandergegangen ist. Der Fremde spielte früher in Österreich vereinsmäßig Fußball und hobbymäßig Basketball. Außer seinen Eltern lebt(e) auch noch ein älterer Bruder in Österreich sowie ein Onkel und zwei Cousins, weiters hat(te) er Verwandte in Deutschland und in Luxemburg. Die Verhängung einer Rückkehrentscheidung war indes - trotz der Geburt des Fremden in Österreich, seines langjährigen Aufenthalts sowie seiner sozialen und familiären Verankerung im Bundesgebiet - aufgrund einer gravierenden Straffälligkeit (Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 18.08.2021 gemäß § 28 Abs. 1 StGB iVm § 28a Abs. 4 SMG zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren (unbedingt)) - zulässig.

Gleichfalls bestätigte der Verwaltungsgerichthof - unter Berücksichtigung der das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung entscheidend vergrößernden gehäuften Straffälligkeit des Fremden und der deswegen von ihm ausgehenden massiven Gefährdung - eine Rückkehrentscheidung hinsichtlich eines im Jahr 2003 in das Bundesgebiet eingereisten Fremden trotz der von ihm für das Gewicht seiner Integrationsleistungen ins Treffen geführten Umstände (Enge der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ihm und seinen in Österreich aufhältigen Verwandten, langjähriger Aufenthalt, Deutschkenntnisse und Selbsterhaltungsfähigkeit) (14.12.2023, Ra 2021/20/0474).

Ferner erklärte der Verwaltungsgerichtshof auch eine Rückkehrentscheidung im Falle eines seit Ende des Jahres 2007 - zum Teil aufgrund von Aufenthaltstiteln - im Bundesgebiet aufhältigen und wiederholt, insbesondere wegen qualifizierter Suchtmitteldelikte, und zuletzt mit Urteil eines Landesgerichts vom 27. November 2020 wegen des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel (§ 28 Abs. 1 erster und zweiter Fall SMG) sowie des Verbrechens des Suchtgifthandels (§§ 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 4 Z 3 SMG) zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren und sechs Monaten, verurteilten Fremden für zulässig, zumal die - mag er auch über eine lange Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und ausgezeichnete Deutschkenntnisse verfügen - wiederholt und gravierend vorliegende Suchtgiftdelinquenz nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht. Ferner war der Fremde auch lediglich sporadisch erwerbstätig und bezog zeitweise Sozialleistungen (03.08.2023, Ra 2023/17/0093-8).

Ebenso bestätigte der Verwaltungsgerichtshof eine Rückkehrentscheidung im Falle eines zumindest über 16 Jahre dauernden rechtmäßigen Aufenthalts eines Fremden. Hierbei wurden auch der Aufenthalt der im Bundesgebiet aufhältigen Familienangehörigen, zu denen kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis und - aufgrund der damals aktuellen Inhaftierung des Fremden - kein gemeinsamer Haushalt bestand, die sehr guten Deutschkenntnisse, der Abschluss der Pflichtschule und sein Freundeskreis berücksichtigt. Abgesehen von der mangelnden beruflichen Integration, der Abhängigkeit von Sozialleistungen sowie der mangelnden Selbsterhaltungsfähigkeit kam der Verwaltungsgerichtshof insbesondere aufgrund der mehrfachen gravierenden Straffälligkeit des Fremden zum Ergebnis, dass vom BF eine schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich ausgehe und damit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden (09.03.2023, Ra 2022/19/0238).

Der Verwaltungsgerichtshof erklärte auch eine Rückkehrentscheidung im Falle eines seit mehr als achtzehn Jahren aufhältigen und mehrfach strafgerichtlich verurteilten Fremden für zulässig, zumal dieser Aufenthalt zunächst nur auf einem unter falschen Identitätsangaben gestellten und unberechtigten Asylantrag beruhte, der Fremde nach Beendigung des Asylverfahrens im Juni 2011 trotz der ihm rechtskräftig auferlegten Ausreiseverpflichtung im Bundesgebiet verblieb und über einen verhältnismäßig langen Zeitraum von vier Jahren untergetaucht war, um seine Außerlandesbringung zu verhindern (02.03.2023, Ra 2021/21/0158).

Ebenso bestätigte der Verwaltungsgerichtshof eine Rückkehrentscheidung im Falle eines seit 16 Jahren aufhältigen Fremden aufgrund dessen massiver und wiederholter Straffälligkeit. Selbst nach dem langen Aufenthalt in Österreich verfügte dieser nur über geringe Deutschkenntnisse, war bis auf einige wenige Monate keiner Beschäftigung in Österreich nachgegangen und hatte mehr als zweieinhalb Jahre seines Aufenthalts in Haft verbracht. Der Fremde war bereits achtmal rechtskräftig verurteilt worden, unter anderem wegen schwerer Körperverletzung und gewerbsmäßigen Diebstahls. Die Verhängung von bedingten und teilbedingten Freiheitsstrafen hatten ihn nicht davon abgehalten, erneut straffällig zu werden. In Österreich befanden sich zwar die ehemalige Ehefrau und ein volljähriger sowie ein 14-jähriger Sohn. Die Ehe war jedoch bereits seit über zehn Jahren geschieden und bestand kein gemeinsamer Haushalt mehr. Der Fremde hatte zudem nur gelegentliche Kontakte zu seiner geschiedenen Ehefrau sowie zu seinem volljährigen Sohn, welcher ebenfalls mehrfach straffällig geworden war. Die Rückkehrentscheidung hatte keine Auswirkung auf das Familienleben zu Letzterem, weil keine enge Beziehung vorlag und gegen den Sohn am selben Tag eine gleichlautende Entscheidung über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten erging. Hinsichtlich des jüngeren Sohnes und seiner Mutter war ebenfalls ein Aberkennungsverfahren anhängig. Die Obsorge des minderjährigen Sohnes kam allein der Mutter zu und der Fremde leistete für ihn keinen Unterhalt. Hinsichtlich der Auswirkungen auf das Kindeswohl wurde festgehalten, dass der Fremde seinen minderjährigen Sohn zwar zuletzt regelmäßig besuchte, sich der Vierzehnjährige jedoch in einem Alter befand, in dem der Kontakt über moderne Medien aufrechterhalten werden kann. Der Fremde war zudem aufgrund seiner Straffälligkeit bereits von seinen Kindern getrennt gewesen und sei dadurch die Eltern-Kind-Beziehung beeinträchtigt worden. Auch unter Einbeziehung der Auswirkungen auf das Familienleben ist aber entscheidend, dass aufgrund der strafrechtlichen Verurteilungen das öffentliche Interesse an der Außerlandesbringung besonders schwer wiege und die Interessenabwägung nicht zugunsten des eingeschränkten Familienlebens ausschlagen könne (03.10.2022, Ra 2022/18/0037).

Des Weiteren erklärte der Verwaltungsgerichtshof eine Rückkehrentscheidung bei einem 18-jährigen Aufenthalt und einer Verurteilung wegen schweren gewerbsmäßigen Betruges nach §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1, 148 erster Fall StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten trotz in Österreich lebender Kernfamilie (vier erwachsene Kinder samt Enkelkindern), wobei die jüngste Tochter mittlerweile 22 Jahre war, und der Ablegung zweier Deutschprüfungen (Sprachniveau A1 und A2) für zulässig, zumal der Fremde - abgesehen von seiner rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung - in Österreich nur wenige Monate erwerbstätig war, immer wieder Leistungen des AMS bezog und hier in keinem Verein oder einer sonstigen Organisation Mitglied war (26.09.2022, Ra 2022/20/0150).

Gleichfalls bestätigte der Verwaltungsgerichthof - unter Berücksichtigung der das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung entscheidend vergrößernden massiven Straffälligkeit - eine Rückkehrentscheidung hinsichtlich eines Fremden, zumal er die aus der Beziehung des Fremden zu einer österreichischen Staatsbürgerin und ihrem Ehemann als auch die aus seinem etwa siebenjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet resultierenden Interessen am Verbleib in Österreich im Sinne der Z 8 des § 9 Abs. 2 BFA-VG insofern für relativiert erachtete, als sämtliche maßgebliche integrationsbegründende Umstände in einem Zeitraum entstanden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (12.05.2022, Ra 2020/21/0254).

Des Weiteren erklärte der Verwaltungsgerichtshof eine Rückkehrentscheidung bei einem 18-jährigen Aufenthalt und Verurteilungen wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung, schwerer Nötigung, gefährlicher Drohung und Widerstand gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 15, 87 Abs. 1 StGB, § 107 Abs. 1 und 2 StGB, §§ 15, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 StGB und §§ 15, 269 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 24 Monaten, wobei ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 16 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, und wegen schwerer Nötigung gemäß §§ 15, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Jahren und sechs Monaten trotz der Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet, seiner Sprachkenntnisse, der Beziehung zu seinen minderjährigen Söhnen, deren Obsorge zur Gänze der geschiedenen Ehefrau obliegt, seiner zeitweiligen Erwerbstätigkeit in den Jahren vor 2015 sowie seiner Beziehung zu einer neuen Frau, die er vor seiner zweiten Inhaftnahme kennengelernt hatte, für zulässig, zumal das Bundesverwaltungsgericht aber auch die fast vierjährige Abwesenheit des Fremden vom Bundesgebiet im Anschluss an seine erste Verurteilung, die aufgrund seines Auslandsaufenthalts und des Strafvollzugs jahrelang reduzierten Kontakte zu seinen Söhnen, seine fehlende nachhaltige Verankerung am Arbeitsmarkt sowie seine Bindungen zum Herkunftsstaat - als das persönliche Interesse des Fremden am Verbleib in Österreich relativierend – miteinbeziehen konnte (22.04.2022, Ra 2021/19/0470).

Der Verwaltungsgerichtshof erklärte auch die Ausweisung im Falle eines seit 15 Jahren (seit seinem 10. Lebensjahr) aufhältigen Fremden für zulässig, welcher wegen eines Verstoßes gegen Bestimmungen des Suchtmittelgesetzes zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten und wegen gefährlicher Drohung und Nötigung zu bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war (14.06.2007, 2004/18/0062).

Weiters erklärte der VwGH Aufenthaltsverbote bei einem 17-jährigen Aufenthalt (seit dem 3. Lebensjahr) und einer Verurteilung wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren (16.10.2007, 2007/18/0294), bei einem Aufenthalt seit dem 7. Lebensjahr und einer Verurteilung wegen schweren Raubes zu Freiheitsstrafe von sechs Jahren (24.10.2007, 2007/21/0369) für zulässig.

Ebenso erklärte der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 17.851 ein Aufenthaltsverbot bei einem 15-jähriger Aufenthalt (seit dem 6. Lebensjahr) und Verurteilungen wegen Raubes zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten und wegen Verstoßes gegen Bestimmungen des Suchtmittelgesetzes zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten für zulässig.

Zum Überwiegen der öffentlichen Interessen des Staates an der Ausweisung und der Zulässigkeit des Eingriffes in das Privatleben und Familienleben ist des Weiteren auch auf die Entscheidung des EGMR vom 18.02.1991, Moustaquim, 12.313/86 (Ausweisung straffälliger Fremder), zu verweisen.

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das aktuelle Erkenntnis des VwGH vom 22.03.2017, Ra 2017/19/0028, in welchem dieser die Revision gegen eine Rückkehrentscheidung trotz 17jährigem Aufenthalt im Bundesgebiet unter dem Sachverhalt von vier unbegründeten Anträgen auf internationalen Schutz, dem Versuch die Behörden durch Angabe unterschiedlicher Daten zu seiner Person mehrfach über Identität und Herkunft zu täuschen um eine Außerlandesbringung zu verhindern, der Missachtung des Aufenthaltsverbotes sowie zweimaliger rechtskräftiger strafgerichtlicher Verurteilung wegen versuchten Diebstahls, zurückwies, obzwar der BF an Deutschkursen teilnahm und gelegentlich soziale und berufliche Tätigkeiten verrichtete.

Es wird auch nicht verkannt, dass sich der BF seit mittlerweile rund 21 Jahren und 6 Monaten im Bundesgebiet aufhält, doch darf eben nicht außer Acht gelassen werden, dass der BF infolge der rechtskräftigen Rückkehrentscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2022 und der anschließenden Einstellung des Verlängerungsverfahrens seitens der zuständigen Niederlassungsbehörde bezüglich des Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ ab Frühling 2022 zunächst überhaupt nicht mehr zum weiteren Aufenthalt berechtigt war sowie ab dem 07.02.2024 lediglich aufgrund einer letztlich unbegründeten Asylantragstellung wieder zulässig im Bundesgebiet bzw. zum bloß vorläufigen Aufenthalt berechtigt war. Auch wird nicht verkannt, dass der BF über mehrere Familienangehörige (Eltern, drei Geschwister, Onkel, Cousine und Cousin) sowie seit Kurzem wieder über eine Freundin verfügt, jedoch sind die strafrechtlichen Verurteilungen als derart schwer zu werten, dass das Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere aufgrund der teilweisen Schwere der vom BF begangenen Straftaten, zweifelsfrei höher wiegt als das persönliche Interesse des BF an seinem Privatleben, weswegen ein Eingriff in eben dieses gerechtfertigt und zumutbar erscheint; dies auch unter Berücksichtigung der sonstigen fehlenden Integrationsbemühungen des BF in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht (fehlende nachhaltige Integration am Arbeitsmarkt, fehlende nachhaltige Bemühungen um Selbsterhaltungsfähigkeit, keine Mitgliedschaft in Vereinen, fehlendes aktuelles ehrenamtliches oder soziales Engagement usw.)

Des Weiteren ist die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthalts der beschwerdeführenden Partei in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu verneinen. Im gegenständlichen Verfahren liegen zwischen der Antragstellung durch den Beschwerdeführer und der Erlassung des angefochtenen Bescheides durch die belangte Behörde ca. eineinhalb Monate. Von der Vorlage der Beschwerde bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vergingen ca. sechs Monate. In dieser Zeit führte das Bundesverwaltungsgericht am 02.08.2024 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer und zwei Zeugen einvernommen wurden. Des Weiteren ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer den Antrag auf internationalen Schutz ohne das Vorliegen von Fluchtgründen lediglich aufgrund von Opportunitätserwägungen im Hinblick auf die Verlängerung seines Aufenthalts stellte.

Auch der Verfassungsgerichtshof erblickte in einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen kosovarischen (ehemaligen) Asylwerber keine Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl dieser im Laufe seines rund achtjährigen Aufenthaltes seine Integration u.a. durch gute Kenntnisse der deutschen Sprache, Besuch von Volkshochschulkursen in den Fachbereichen Rechnen, Computer, Deutsch, Englisch, Engagement in einem kirchlichen Verein, erfolgreiche Kursbesuche des Ausbildungszentrums des Wiener Roten Kreuzes und ehrenamtliche Mitarbeit beim Österreichischen Roten Kreuz sowie durch die Vorlage einer bedingten Einstellungszusage eines Bauunternehmers unter Beweis stellen konnte (VfGH 22.09.2011, U 1782/11-3, vgl. ähnlich auch VfGH 26.09.2011, U 1796/11-3).

Das Bundesverwaltungsgericht kann aber auch sonst keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr des Beschwerdeführers erkennen: Der Beschwerdeführer beherrscht nach wie vor die Sprache Türkisch, sodass auch seine Resozialisierung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an keiner Sprachbarriere scheitert und von diesem Gesichtspunkt her möglich ist. Im Hinblick auf den Umstand, dass der erwachsene Beschwerdeführer etwa die Hälfte seines Lebens im Herkunftsstaat verbracht hat, ist davon auszugehen, dass anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat bestehen, zumal dort der minderjährige Sohn, die ehemalige Ehegattin, fünf Schwestern und mehrere Tanten, Onkel und Cousins leben, mag der Kontakt zu diesen auch derzeit abgebrochen sein. Es kann aber nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer seinem Kulturkreis - trotz der etwa 21 ½-jährigen Abwesenheit - völlig entrückt wäre und sich in seiner Heimat überhaupt nicht mehr zurecht finden würde, weshalb davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer aufgrund der vorangehenden Ausführungen mit den in der Türkei bzw. der Herkunftsregion vorherrschenden gesellschaftlichen Werten, Sitten, Normen und sozialen Rollen vertraut und fraglos dazu im Stande ist, sich darauf (wieder) einzustellen und sich entsprechend zu verhalten. Im gegebenen Zusammenhang ist außerdem festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer in der Vergangenheit zumindest regelmäßig für Kurzaufenthalte in die Türkei begab. Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz in der Türkei - letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0076; jüngst VwGH 07.07.2021, Ra 2021/18/0167). Zur Resozialisierung im Heimatland hat der Verwaltungsgerichtshof wie folgt festgestellt: Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in mehreren (mit dem vorliegenden vergleichbaren) Fällen zum Ausdruck gebracht, die von Fremden geltend gemachten Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern seien vielmehr - letztlich auch als Folge des seinerzeitigen, ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0076).

Würde sich darüber hinaus ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Überdies würde dies dazu führen, dass Fremde, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten oder sogar rechtsmissbräuchlichen Asylantrags erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. dazu auch das Erkenntnis VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass "eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde.").

Im Übrigen ist als entscheidungswesentlich festzuhalten, dass allenfalls seit rechtskräftigem Abschluss des vorangegangenen - fremdenrechtlichen - Verfahrens erfolgte Integrationsschritte überhaupt nur erfolgen konnten, da sich der Beschwerdeführer der gegen ihn ausgesprochenen Ausreiseverpflichtung widersetzte, in nicht rechtskonformer Weise im Bundesgebiet verblieb und einen Asylantrag stellte. Zudem musste er sich nach Erhalt der sein vorangegangenes Verfahren abschließenden abweisenden rechtskräftigen Entscheidung der hochgradigen Unsicherheit eines weiteren Aufenthalts jedenfalls verstärkt bewusst sein.

Im Ergebnis kann daher aufgrund der während der Dauer eines durch den Beschwerdeführer rechtsmissbräuchlich eingeleiteten Verfahrens auf internationalen Schutz gesetzten weitergehenden Integrationsbemühungen von keinem zwischenzeitlichen Überwiegen der privaten und familiären Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet ausgegangen werden.

Abermals ist auf die aktuelle Rechtsprechung des VwGH hinzuweisen, gemäß derer das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern ist vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. etwa VwGH 03.06.2022, Ra 2022/18/0053, mwN).

Die erkennende Richterin übersieht auch nicht, dass der langen Zeitspanne des Aufenthalts des BF in Österreich und seiner in dieser Zeit erlangten Integration, ein gewisses Gewicht beizumessen ist (unvertretbar wäre es, wenn das BVwG einer in dieser Zeit erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beigemessen hätte (vgl. dazu etwa VwGH 30.05.2022, Ra 2022/20/0132, mwN)), jedoch ist festzuhalten, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn - wie hier - die integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 10.09.2021, Ra 2021/18/0290, mwN) und/oder sich der Fremde einer Rückkehrentscheidung widersetzt bzw. dieser seiner Verpflichtung zur Rückkehr nicht nachkommt und/oder missbräuchlich ein Folgeverfahren einleitet.

Für die Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet sprechen im Ergebnis die gewichtigen Interessen der Republik Österreich, allen voran das öffentliche Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie das öffentliche Interesse des wirtschaftlichen Wohles des Landes. Gerade der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch geordnete Abwicklung des Fremdenwesens nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs ein hoher Stellenwert zu (vgl. z. B. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247). Diesen öffentlichen Interessen läuft das Verhalten des Beschwerdeführers massiv zuwider. Das Bundesverwaltungsgericht hebt insbesondere noch einmal hervor: Der Beschwerdeführer stellte nach einer rechtskräftigen Rückkehrentscheidung wider seine Person einen – unbegründeten – Antrag auf internationalen Schutz und wurde der Beschwerdeführer in Österreich vor allem achtmal (!) strafgerichtlich verurteilt, wobei festzuhalten ist, dass das Bundesverwaltungsgericht auch zur Anschauung gelangte, dass vom Beschwerdeführer aufgrund der rezenten Vorfälle auch gegenwärtig eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgeht. Dazu tritt, dass die zunächst ansatzweise erfolgte Verankerung im Berufsleben maßgeblich durch die zuletzt lange Phase der Arbeitslosigkeit erheblich relativiert ist. Das Bundesverwaltungsgericht hegt auch Zweifel daran, dass eine umgehende Reintegration des Beschwerdeführers in den Arbeitsmarkt nach einer langen Phase des Alkoholmissbrauchs samt Rückfall vor wenigen Monaten und der Anhaltung in Haft ohne gravierende Herausforderungen möglich ist.

Die Integrationsbemühungen des Beschwerdeführers, seine bekannt- und freundschaftlichen Beziehungen zu österreichischen Staatsangehörigen bzw. in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigten Personen, seine hier lebenden Familienangehörigen und seine seit etwa Februar 2024 bestehende Beziehung sowie seine alltagstauglichen Deutschkenntnisse sprechen demgegenüber für den Verbleib des Beschwerdeführers im Bundesgebiet. Diese nach Art. 8 EMRK zu berücksichtigenden Interessen können allerdings weder für sich genommen noch in Summe die gewichtigen öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Zu bedenken sind dabei insbesondere die Tatsache, dass keine außergewöhnliche Integration vorliegt, die festgestellte – überwiegend eher geringe – Intensität der Beziehungen, darunter die Freundschaft bzw. Beziehung zur in Österreich lebenden Freundin, sowie die Tatsache, dass jedenfalls diese letztgenannte Beziehung im Bewusstsein des unsicheren, weil auf einen unbegründeten Asylantrag gestützten, Aufenthaltsstatus begründet wurde und eine hinreichende und zumutbare Möglichkeit der Aufrechterhaltung des Kontakts auch im Falle der Aufenthaltsbeendigung gegeben ist. Hinsichtlich des mittlerweile rund 21 ½-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer diese Zeit nicht dazu nutzte, sich vielfältig und nachhaltig zu integrieren, und dass sich der Aufenthalt des Beschwerdeführers zuletzt nur auf ein aus einem letztlich als unberechtigt erkannten Asylantrag abgeleitetes Aufenthaltsrecht stützen konnte. Außerdem ist der Beschwerdeführer nicht wirtschaftlich unabhängig oder selbsterhaltungsfähig, er ist aktuell auf eine Unterstützung durch seine Eltern angewiesen. Schließlich wurde der Beschwerdeführer in Österreich – wie mehrfach ausgeführt - achtmal (!) strafgerichtlich verurteilt.

Angesichts der - somit in ihrem Gewicht erheblich geminderten - Gesamtinteressen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich neben den gefährdeten Sicherheitsinteressen insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf (vgl. dazu im Allgemeinen und zur Gewichtung der maßgeblichen Kriterien VfGH 29.9.2007, B 1150/07).

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Die Verfügung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und erscheint auch nicht unverhältnismäßig.

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt somit, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.

Die belangte Behörde hat in ihrer Entscheidung im Übrigen zutreffend eine Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 unterlassen. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 12.11.2015, Zl. Ra 2015/21/0101, dargelegt hat, bietet das Gesetz keine Grundlage dafür, in Fällen, in denen - wie hier - eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG erlassen wird, darüber hinaus noch von Amts wegen negativ über eine Titelerteilung nach § 55 AsylG 2005 abzusprechen.

3.3.5. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaats, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

3.3.5.1. Die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat ist gegeben, da nach den die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.

3.3.6. Da im gegenständlichen Verfahren der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, ist nunmehr eine Frist für die freiwillige Ausreise vorzusehen (vgl. VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146, wonach § 55 Abs. 1a FPG nur dann anzuwenden ist, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde von der Verwaltungsbehörde aberkannt und vom Verwaltungsgericht nicht innerhalb der Frist des § 18 Abs. 5 BFA-VG 2014 wieder zuerkannt wird). Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen.

3.4. Erlassung eines Einreiseverbots:

3.4.1. § 53 FPG lautet auszugsweise:

„Einreiseverbot

§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

(Anm.: Abs. 1a aufgehoben durch BGBl. I Nr. 68/2013)

(2) …

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn 1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist; 2. - 9. …

(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.

(5) Eine gemäß Abs. 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.

(6) Einer Verurteilung nach Abs. 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.“

3.4.2. Bei der im Verfahren betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109 unter Hinweis auf VwGH 24.03.2015, Ra 2014/21/0049, und 20.10.2016, Ra 2016/21/0289).

Bei der Prüfung, ob die Annahme einer hinreichend schweren Gefährdung iSd § 53 Abs. 3 FPG gerechtfertigt ist, ist eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorzunehmen (vgl. VwGH 23.05.2018, Ra 2018/22/0003 unter Hinweis auf VwGH 27.04.2017, Ra 2016/22/0094).

Der Beschwerdeführer wurde zuletzt nach Erhebung einer Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 09.11.2021 mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 28.06.2022 wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten sowie einer Woche verurteilt.

Schon diese Verurteilung erfüllt allein die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG.

Ist der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt, so ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert (vgl. VwGH 27.01.2015, 2013/22/0298 unter Hinweis auf VwGH 30.07.2014, 2013/22/0281).

Dieser Verurteilung lag folgendes Geschehen zugrunde: Der Beschwerdeführer hat vier im Urteil namentlich genannte Personen jeweils gefährlich mit dem Tod bedroht, um diese in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er mit einem ausgeklappten Taschenmesser mit einer Klingenlänge von 6 cm in aggressiver Weise auf die Männer zuging, mit dem Messer fuchtelte, Stichbewegungen in Richtung dieser Personen ausführte und dabei äußerte „Ich habe das Messer nun draußen und werde einen von euch kaputt machen“. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd der Umstand, wonach das gegen den Täter geführte Verfahren aus einem nicht von ihm oder seinem Verteidiger zu vertretenden Grund unverhältnismäßig lange gedauert hat, als erschwerend vier einschlägige Vorstrafen, das Zusammentreffen von vier Vergehen und der rasche Rückfall berücksichtigt.

Zwar umfasste diese letzte Verurteilung keine Verurteilung wegen eines Verbrechens, sondern vierer Vergehen, allerdings erreichten die Umstände der Tatbegehung erneut eine besonders gravierende Dimension, zumal der Beschwerdeführer zweifellos die Bereitschaft an den Tag legte, ein Verbrechen bzw. erhebliche Gewalttaten gegen Leib und Leben zu begehen.

Bereits vor dieser Verurteilung wurde der Beschwerdeführer siebenmal strafgerichtlich verurteilt.

Im März 2005 wurde er erstmals wegen des Vergehens des versuchten Betruges - als junger Erwachsener - nach §§ 15, 146 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je € 2,00, insgesamt € 80,00 (im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen), rechtskräftig verurteilt. In der Folge wurde er dann im Juli 2007 wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Absatz 1, erster Fall StGB und des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB (bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten rechtskräftig verurteilt. Dennoch sah sich der Beschwerdeführer nicht veranlasst, sein Verhalten zu überdenken und von weiteren Straftaten Abstand zu nehmen. Stattdessen folgte, etwa vier Jahre später, im Februar 2011 eine weitere Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten wegen des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Absatz 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB, wobei ein Teil der Freiheitsstrafe in Höhe von fünf Monaten bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurde. Schon zum damaligen Zeitpunkt zeigte sich die erhebliche kriminelle Energie des Beschwerdeführers deutlich. Etwa drei Jahre später – im August 2014 – wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 4 iVm Abs. 1 StGB und des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Trotz des bereits mehrfach verspürten Haftübels sah sich der Beschwerdeführer nicht veranlasst, sein Verhalten zu überdenken und von weiteren Straftaten Abstand zu nehmen, sondern beging in der Folge eine weitere Straftat, weshalb der BF im Jahr 2015 wegen des Vergehens der Beleidigung nach § 115 Absatz 1 StGB (bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren) zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt wurde. Im Jänner 2017 wurde der BF wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung nach §§ 15, 83 Absatz 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Im Mai 2019 wurde der BF schließlich erneut wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB und wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt (um Wiederholungen zu vermeiden, wird bezüglich der den Verurteilungen zugrundeliegenden Sachverhalten sowie den Milderungs- und Erschwernisgründen auf die Feststellungen zu den Verurteilungen des Beschwerdeführers verwiesen).

Dazu treten zahlreiche Verwaltungsübertretungen aus den vergangenen Jahren. So verhängte die zuständige Verwaltungsstrafbehörde gegen den Beschwerdeführer beispielsweise rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 20.06.2020 wegen Verletzung des § 99 Abs. 1 lit a iVm § 5 Abs. 1 StVO eine Geldstrafe in Höhe von € 4.500,00, im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe in Höhe von 32 Tagen und 21 Stunden. Der BF hat im Februar 2020 in Wien ein Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigen Zustand gelenkt, wobei die Atemalkoholuntersuchung mittels geeichtem Alkomaten einen Alkoholgehalt der Atemluft von 0,86 mg/l ergab. Ferner verhängte die zuständige Verwaltungsstrafbehörde gegen den Beschwerdeführer rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 18.05.2024 wegen Übertretung des § 82 Abs. 1 SPG und des § 1 Abs. 1 Z 2 und 2 WLSG Geldstrafen in Höhe von € 500,00, € 600,00 und € 600,00, im Nichteinbringungsfall Ersatzfreiheitsstrafen in Höhe von 14 Tagen, 5 Tagen und 23 Stunden sowie 5 Tagen und 23 Stunden. Der BF hat sich im Mai 2024 in Wien durch das nachfolgend beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten. Er nahm eine aggressive Kampfhaltung ein, brüllte wild auf die Beamten ein und ging mit drohenden Handbewegungen auf die Polizisten zu, wobei er mehrmals die gebotene Nahdistanz unterschritt. Ferner hat er durch das lautstarke Herumgeschreie von Wortfolgen wie „Fickt euch!“, „Scheiß Polizei!“, welche für die übrigen Hausparteien und Passanten deutlich hörbar waren, ungebührlicherweise störenden Lärm erregt und durch die lautstarke Verwendung dieser Fäkalsprache und Verbalinjurien den öffentlichen Anstand verletzt. Wiewohl diese Delikte im Zusammenhang mit der hier anzustellenden Prüfung per se nicht als gravierend zu werten sind, so fügen sie sich doch in das Bild, wonach die Persönlichkeit des Beschwerdeführers von einer Gleichgültigkeit im Hinblick auf seine künftige Resozialisierung und die österreichische Rechtsordnung geprägt ist. Sie verdeutlichen, dass der Beschwerdeführer der Rechtsordnung keine Achtung entgegenbringt und sich über diese nach Belieben hinwegsetzt, was aus den bislang acht strafgerichtlichen Verurteilungen während seines Aufenthalts im Bundesgebiet geschlossen werden kann.

Angesichts des wiederholt delinquenten Verhaltens des Beschwerdeführers, das etwa durch Angriffe auf fremdes Vermögen und die körperliche Integrität, rasche Rückfälle bzw. nicht genützte Resozialisierungschancen in Form von bedingten Strafnachsichten, eine hohe Gewaltbereitschaft und eine massive kriminelle Energie gekennzeichnet ist, der Tatsache, dass weder seine familiären Bindungen noch das erlittene Haftübel Rückfälle verhindern konnten sowie des Umstands, wonach seit den letzten Taten im Juni 2021 erst etwas mehr als drei Jahre vergangen sind und der Beschwerdeführer noch bis Februar 2024 die über ihn zuletzt verhängte Freiheitsstrafe verbüßte, ist auch pro futuro davon auszugehen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Wenn der Beschwerdeführer zudem auch in den vergangenen Jahren seit seiner Inhaftierung im Juni 2021 kaum Alkohol zu sich genommen haben will, so ist dies vor allem dem Umstand einer notwendigen Abstinenz in Haft geschuldet und ist angesichts der aus dem Strafregister und den Urteilen ersichtlichen, raschen strafrechtlichen Rückfällen ein neuerlicher Rückfall ohne eine ernsthafte Bemühung, sich dauerhaft von Alkohol fernzuhalten, auch aus diesem Grunde abzusehen. Insofern ist auch im Besonderen darauf hinzuweisen, dass der BF in der mündlichen Verhandlung zunächst erklärte, seit Juni 2021 überhaupt keinen Alkohol mehr getrunken zu haben. In der Folge wurde ihm indes das Straferkenntnis vom 18.05.2024 vorgehalten, wonach er sich durch das darin beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten hat. Erst daraufhin gestand der BF dann ein, im Mai 2024 sehr wohl Alkohol konsumiert zu haben. Es kann somit nicht prognostiziert werden, dass sich der Beschwerdeführer in Zukunft wohlverhalten bzw. nicht wieder straffällig werden wird. Dem Beschwerdeführer ist vielmehr entgegenzuhalten, dass weder die Vorverurteilungen oder die bereits zuvor vollzogenen Haftstrafen oder seine familiären Bindungen den Beschwerdeführer langfristig von der Begehung neuerlicher Straftaten abgehalten haben.

Insoweit hat den Beschwerdeführer auch der mögliche Verlust seines Einreise- und Aufenthaltsrechts im Schengen-Raum nicht von der Begehung strafgerichtlich relevanter Straftaten abzuhalten vermocht. Vielmehr hat der Beschwerdeführer durch sein Verhalten diese Möglichkeit wissentlich auf Spiel gesetzt und die Folgen in Kauf genommen.

In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer zwar zum Ausdruck, er habe sich in der Haft verändert und möchte sein Leben abseits der Kriminalität führen, jedoch wurde nach ausführlicher Befragung des Beschwerdeführers zu seiner Straffälligkeit im Rahmen der mündlichen Verhandlung klar, dass beim Beschwerdeführer ein ernsthafter Bewusstseinswandel noch nicht begonnen wurde. Ein erster Schritt auf dem Weg zu einem wieder rechtschaffenen Leben wird wohl die Schuldeinsicht und Übernahme der Verantwortung für das eigene Fehlverhalten sein. Dass dem Beschwerdeführer das Bewusstsein über sein Fehlverhalten fehlt, zeigt sich indes anhand seiner Äußerungen in der mündlichen Verhandlung zu den Straftaten, wonach er wegen der Scheidung total abgestürzt sei und Alkoholprobleme gehabt habe. Er verharmlost somit sein strafrechtswidriges Verhalten. Es mangelt ihm an einem entsprechenden Unrechtsbewusstsein und einem altersadäquaten Maß an Eigenverantwortung. Die Übernahme von Verantwortung für diese Taten kann in dieser Antwort nicht erblickt werden. Vor diesem Hintergrund mag dem pauschalen Vorbringen des Beschwerdeführers bezüglich des Bereuens der Straftaten, weshalb er sich auch entschuldigen wolle, kein hinreichender Glaube geschenkt werden, zumal er durch seine sonstigen, oben erwähnten Äußerungen deutlich zum Ausdruck brachte, dass er im Grunde doch vorwiegend seine Alkoholabhängigkeit verantwortlich für sein Fehlverhalten macht. Auch wenn es bedauerlich ist, dass der Beschwerdeführer alkoholabhängig wurde, so liegt es am Beschwerdeführer selbst, sein Leben „in die Hand zu nehmen“ und „selbst zum Positiven“ zu gestalten. Diese Erkenntnis hat er jedoch noch nicht verinnerlicht.

Insofern die Eltern des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung dem Beschwerdeführer Unterstützung in Aussicht stellen, ist zu entgegnen, dass das familiäre Netzwerk den Beschwerdeführer nicht vor einem weiteren Absinken – nämlich in die Kriminalität – bewahrt und auch nicht in der Weise ordnend fungierte, dass der Beschwerdeführer zu einer Therapie gegen die Alkoholabhängigkeit veranlasst wurde, weshalb auch die in Aussicht gestellte Hilfe nicht zu einer maßgeblichen Abänderung der Zukunftsprognose zu führen vermag.

Der Wohlverhaltenszeitraum des Fremden in Freiheit ist üblicherweise umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden manifestiert hat (vgl. VwGH 26.04.2018, Ra 2018/21/0027 unter Hinweis auf VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009). Der Beschwerdeführer wurde erst am 07.02.2024 aus der Haft entlassen. Der Wohlverhaltenszeitraum des Beschwerdeführers in Freiheit beträgt erst etwa acht Monate und ist damit noch zu kurz. Auch wenn der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung erklärte, er würde seine Taten bereuen und dass er diese stets in alkoholisierten Zustand begangen habe, vermag dies nicht zu überzeugen, zumal dies einerseits zeigt, dass der BF versucht, seine persönliche Verantwortung für diese Straftaten möglichst gering erscheinen zu lassen, weshalb auch von einer mangelnden Einsicht auszugehen ist. Insoweit der Beschwerdeführer im Übrigen schilderte, sich nach seiner Haftentlassung stets wohlverhalten zu haben und dies auch zukünftig tun zu wollen, so erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht andererseits auf die wider den BF von der zuständigen Verwaltungsstrafbehörde rechtskräftig mit Straferkenntnis vom 18.05.2024 wegen Übertretung des § 82 Abs. 1 SPG und des § 1 Abs. 1 Z 2 und 2 WLSG verhängten Geldstrafen in Höhe von € 500,00, € 600,00 und € 600,00, im Nichteinbringungsfall Ersatzfreiheitsstrafen in Höhe von 14 Tagen, 5 Tagen und 23 Stunden sowie 5 Tagen und 23 Stunden, zu verweisen. Der BF hat sich im Mai 2024 in Wien durch das nachfolgend beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten. Er nahm eine aggressive Kampfhaltung ein, brüllte wild auf die Beamten ein und ging mit drohenden Handbewegungen auf die Polizisten zu, wobei er mehrmals die gebotene Nahdistanz unterschritt. Ferner hat er durch das lautstarke Herumgeschreie von Wortfolgen wie „Fickt euch!“, „Scheiß Polizei!“, welche für die übrigen Hausparteien und Passanten deutlich hörbar waren, ungebührlicherweise störenden Lärm erregt und durch die lautstarke Verwendung dieser Fäkalsprache und Verbalinjurien den öffentlichen Anstand verletzt. Bereits aufgrund dieser Umstände muss von einer nachdrücklichen Manifestierung der Gefährlichkeit ausgegangen werden und es kann daher nach einem Wohlverhaltenszeitraum von erst etwa sieben Monaten noch von keinem Gesinnungswandel ausgegangen werden.

Im Zuge der Verbüßung seiner letzten Haftstrafe nahm der Beschwerdeführer zur Überwindung seiner Alkoholsucht an einer entsprechenden Therapie teil und sucht er seit seiner Entlassung aus der Haft wöchentlich den Verein Neustart zwecks Betreuung seiner Person auf. Der BF absolvierte von 29.02.2024 bis 21.03.2024 erfolgreich einen Nachschulungskurs für alkoholauffällige Lenker. Auch wenn es dem Beschwerdeführer zu wünschen ist, dass ihn die Absolvierung dieser Therapiemöglichkeit in der Justizanstalt und die weiteren vorangehend angeführten Einrichtungen/Kurse, auf dem Weg zu einem (wieder) ordentlichen Lebenswandel unterstützen (werden), so liegen derzeit hierfür keine ausreichenden Anhaltspunkte vor. Mag in der vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme gemäß Gesundheitsverordnung-Führerscheingesetz eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 05.04.2024 auch festgehalten worden sein, dass beim BF derzeit kein Hinweis auf einen gehäuften Alkoholmissbrauch und/oder Alkoholabhängigkeit besteht und deshalb eine Erteilung der Lenkerberechtigung der Gruppe 1 wegen ausreichend langer Abstinenz ( 3 Jahre) befürwortet werden konnte, so ist diesbezüglich zunächst darauf hinzuweisen, dass es fraglich erscheint, ob diese Stellungnahme mit der erforderlichen Genauigkeit verfasst wurde, zumal darin auch von einem Herrn XXXX als Betroffenen die Rede ist. Jedenfalls gestand der BF selbst ein, dass er zuletzt im Mai 2024 rückfällig geworden sei und Alkohol konsumiert habe, weshalb nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass der BF längere Zeit abstinent gewesen ist. Wiewohl der Beschwerdeführer anscheinend bei der Selbsteinschätzung im Hinblick auf eine Therapie im Zusammenhang mit der eigenen Stärke und der Wahrscheinlichkeit eines positiven Therapieabschlusses von einem positiven Abschluss ausgeht und er die Schwierigkeit einer Alkoholentzugstherapie demgegenüber äußerst gering einschätzt, gelang es ihm augenscheinlich nicht, seine Alkoholabhängigkeit vor der letzten Verurteilung infolge eines eigenen Entschlusses durch Inanspruchnahme einer Therapie oder anderweitiger Unterstützung zu bewältigen. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist für die Annahme eines Wegfalls der sich durch das bisherige Fehlverhalten manifestierten Gefährdung – auch nach Absolvierung einer Therapie – indes ohnehin in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich (vgl. etwa VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0484), was sich im gegenständlichen Fall als nicht ausreichend erweist. Auch aus den dem Beschwerdeführer in der Strafhaft gewährten Vergünstigungen und Therapien lässt sich keine maßgebliche Minderung der sich aus dem strafbaren Verhalten ergebenden Gefährdung ableiten (vgl. zum Status eines Strafhäftlings als Freigänger VwGH 24.05.2016, Ra 2016/21/0143).

Angesichts des vom Beschwerdeführer gesetzten Verhaltens stellt der weitere Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar, weshalb die Erlassung eines Einreiseverbots gerechtfertigt ist.

Die familiären bzw. privaten Bindungen des Beschwerdeführers in Österreich wurden schon im Rahmen der Interessenabwägung im Hinblick auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung berücksichtigt und ist auch hinsichtlich der Erlassung des Einreiseverbots auf diese Ausführungen zu verweisen. Angesichts der massiven Straffälligkeit des Beschwerdeführers in Zusammenschau mit einer negativen Zukunftsprognose haben seine gewichtigen Interessen an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet aufgrund des langjährigen Aufenthalts und der damit einhergehenden Bindungen zu Österreich zurückzutreten und sind Eingriffe in sein Recht auf Privatleben aufgrund des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von Straftaten hinzunehmen. Im Übrigen ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass kein völliger Abbruch des Kontakts mit seinen in Österreich aufhältigen Angehörigen und seiner in Österreich aufhältigen Freundin, zu denen aktuell ein Kontakt besteht, im Raum steht.

3.4.3. Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbots ist immer eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Dabei ist das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen, aber auch darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist. Außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, VwSlg. 18295 A/2011, zur Rechtslage nach dem FrÄG 2011). Diese Rechtsprechung ist auch für die Rechtslage nach dem FrÄG 2018 aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).

Bei der Entscheidung über die Länge des Einreiseverbots ist die Dauer der vom Fremden ausgehenden Gefährdung zu prognostizieren; außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109 unter Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237).

Im Falle des Beschwerdeführers ist die Verhängung eines zehnjährigen Einreiseverbots möglich.

Wie bereits oben in den Erwägungen zur Rückkehrentscheidung dargelegt wurde, leben die Eltern, ein Bruder, zwei Halbschwestern, ein Onkel, ein Cousin und eine Cousine sowie die Freundin des Beschwerdeführers in Österreich. In diesem Zusammenhang war – unter Berücksichtigung seines seit etwa 2003 bis Frühjahr 2022 rechtmäßigen bzw. seit Februar 2024 erneut zulässigen/rechtmäßigen Aufenthalts – das berechtigte Interesse an einem (persönlichen) Kontakt des Beschwerdeführers mit seinen Familienangehörigen und seiner Freundin zugunsten des Beschwerdeführers zu würdigen. Dies wurde von der belangten Behörde bei Verhängung des sechsjährigen Einreiseverbots nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Erlassung des gegenständlichen sechsjährigen Einreiseverbots durch die belangte Behörde steht somit nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts bei Abwägung aller dargelegten Umstände nicht in angemessener Relation. Allerdings erweist sich im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände und des Gesamtfehlverhaltens des Beschwerdeführers bzw. der von ihm fortdauernd ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, insbesondere der acht strafrechtlichen Verurteilungen über einen Zeitraum von etwa 17 Jahren, wobei das Fehlverhalten des Beschwerdeführers von Tatwiederholungen und einer teilweise gesteigerten Intensität gekennzeichnet ist, die auf hohe kriminelle Energie schließen lässt, der teilweise raschen Rückfälle des Beschwerdeführers, der verhängten – teilweise bedingten – Freiheitsstrafen in der Dauer von insgesamt 5 Jahren und sieben Monaten sowie einer Woche, der Wirkungslosigkeit der bisherigen Sanktionen und des Fehlens eines längeren Wohlverhaltenszeitraums, eine Herabsetzung des Einreiseverbots auf weniger als drei Jahre als nicht angemessen.

Eine weitere Reduktion war somit auch bei Berücksichtigung von familiären und privaten Interessen des Beschwerdeführers nicht möglich. Die mit dem Einreiseverbot einhergehende zeitweilige Unmöglichkeit für den Beschwerdeführer, seine Familie und seine Freundin in Österreich bzw. in den vom Einreiseverbot betroffenen Mitgliedstaaten zu besuchen, ist im öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Verbrechen und einem geordneten Fremdenwesen in Kauf zu nehmen.

Im Hinblick darauf und unter Berücksichtigung der aufgrund des Fehlverhaltens und der sonstigen persönlichen Umstände des Beschwerdeführers getroffenen Gefährlichkeitsprognose war die Dauer des Einreiseverbots daher in angemessener Weise auf drei Jahre herabzusetzen.

Zu B) Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab (vgl. die unter Punkt 2. bis 3. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht der erkennenden Richterin auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, dem Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben sowie zum Einreiseverbot, abgeht.

Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.

Zur Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist die zur asylrechtlichen Ausweisung ergangene zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs übertragbar. Die fehlenden Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung des Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 ergeben sich aus durch den klaren Wortlaut der Bestimmung eindeutig umschriebene Sachverhaltselemente, deren Vorliegen im Fall des Beschwerdeführers nicht einmal behauptet wurde. Die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat knüpft an die zitierte Rechtsprechung zu den Spruchpunkten I. und II. des angefochtenen Bescheides an.

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