Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision der S R, vertreten durch Mag.a Alexandra Lenz Cervinka, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Mahlerstraße 13/1B, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. März 2023, W220 22652041/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die minderjährige Revisionswerberin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte, vertreten durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin, am 8. August 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 31. August 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Revisionswerberin vom 22. September 2022 erließ das BFA eine Beschwerdevorentscheidung vom 19. Dezember 2022, mit der der Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich des Status der Asylberechtigten erneut abgewiesen, der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den Vorlageantrag der Revisionswerberin als unzulässig zurück, ihre Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 3 B VG für nicht zulässig.
5 Das BVwG legte die gegen die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gerichtete Revision dem Verwaltungsgerichtshof samt den Akten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor. Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein; eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, es sei auf Basis der Länderfeststellungen davon auszugehen, dass der Revisionswerberin in Afghanistan asylrelevante Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts drohe. Das BVwG wäre verpflichtet gewesen, das Ergebnis der im Spruch genannten anhängigen Vorabentscheidungsverfahren abzuwarten.
7Mit Beschluss vom 29. August 2023, Ra 2023/19/0135, wurde das zulässige Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
8 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, diese Fragen beantwortet.
9Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils in den Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024, zu Ra 2021/20/0425 und zu Ra 2022/20/0028, mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im Revisionsfall erstattet wurde. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend den Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024 im Fall einer Situation, wie sie im Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.
11 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.
12 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Gefolge des Urteils des EuGH vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, festgehalten, dass es für die Beurteilung des Asylanspruchs keinen relevanten Unterschied macht, ob die weibliche Antragstellerin bereits ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat, ist sie doch schon von Geburt an mit ihre Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen des TalibanRegimes konfrontiert. In diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof die Erwägungen des EuGH zur Beurteilung der Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an afghanische Frauen unterschiedslos auch auf Mädchen im Säuglingsalter angewandt (vgl. VwGH 4.12.2014, Ro 2022/18/0003; 31.10.2024, Ra 2023/20/0524).
14 Im Revisionsfall hat das BVwG entgegen dieser Rechtslage zur Beurteilung des Anspruches der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auf eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ der Revisionswerberin abgestellt und diese aufgrund des Alters und der Entwicklungsphase der Revisionswerberin verneint, weshalb die Revisionswerberin im Entscheidungszeitpunkt in ihrem Herkunftsstaat aus Gründen des Geschlechts keiner Verfolgung ausgesetzt sein könne.
15Aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen ist auch hier die angefochtene Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
16Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 3. Februar 2025