Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, in der Revisionssache 1. der H A, 2. des M A, 3. der S A und 4. des U A, alle vertreten durch Dr. Silvia Vinkovits, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Friedrich-Schmidt-Platz 4/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 2023, 1. W220 2269113 1/8E, 2. W220 2269107 1/5E, 3. W220 2269108 1/5E und 4. W220 2269111 1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 und C 609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweit- bis Viertrevisionswerber. Sie sind Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft.
2 Am 17. Oktober 2022 stellte die Erstrevisionswerberin für sich sowie für die Zweit- bis Viertrevisionswerber Anträge auf internationalen Schutz.
3 Mit den Bescheiden vom 27. Jänner 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte den Revisionswerbern im Familienverfahren den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.
4 Die gegen die Abweisung der Asylanträge gerichteten Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und wies die Anträge der Revisionswerber auf Aussetzung des Verfahrens zurück. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für zulässig.
5 Begründend führte das BVwG soweit für das Revisionsverfahren relevant aus, die Erstrevisionswerberin habe nicht glaubhaft machen können, dass ihr in Afghanistan eine Zwangsheirat drohe. Allen vier Revisionswerbern drohe im Herkunftsland nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit konkrete und individuelle Gewalt aufgrund der Tatsache, dass sie in Europa gelebt hätten oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Araber. Der Erst- sowie Drittrevisionswerberin drohe des Weiteren nicht allein aufgrund ihres Geschlechts konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt. Die Erstrevisionswerberin pflege keine Lebensweise, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemeinen gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle und die sie im Fall einer Rückkehr einer konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde.
6 Die Zulassung der Revision begründete das BVwG damit, dass eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliege, da sich der Verwaltungsgerichtshof im Wege der Vorabentscheidungsersuchen vom 14. September 2022, EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028) und EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425), hinsichtlich der Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten aufgrund der Kumulierung von einschränkenden Maßnahmen gegen Frauen und ob dafür die Betroffenheit aufgrund des Geschlechts ausreichend oder eine Prüfung der individuellen Situation erforderlich sei, an den Gerichtshof der Europäischen Union gewandt habe.
7 Die vorliegende Revision schließt sich hinsichtlich ihrer Zulässigkeit der Begründung des BVwG an.
8 Das Revisionsverfahren ist aus folgenden Gründen auszusetzen:
9 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union ein Ersuchen um Vorabentscheidung übermittelt, das dort zu den Zahlen C 608/22 und C 609/22 protokolliert worden ist, zur Beantwortung der folgenden Fragen übermittelt:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
- der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,
- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
- keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
10 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat auszusetzen war (vgl. etwa VwGH 24.2.2023, Ro 2022/18/0003, VwGH 3.4.2023, Ra 2022/01/0332, VwGH 26.6.2023, Ro 2023/01/0002, jeweils mwN).
Wien, am 14. Dezember 2023