Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Dr. Horvath und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Stüger, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juli 2022, W109 21642401/40E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: A N, in S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Nach unrechtmäßiger Einreise in Österreich stellte er am 4. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Der Mitbeteiligte brachte auf das Wesentliche zusammengefasst vor, er werde in Afghanistan in asylrechtlich relevanter Weise verfolgt, weil ihm von Seiten der Cousins seines Vaters Blutrache drohe. Hintergrund der Blutfehde sei, dass der Vater und dessen Cousins um ein Grundstück gestritten hätten. Im Zuge dieses Streits seien bereits der Vater und ein Bruder des Mitbeteiligten getötet worden.
3Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 21. Juni 2017 diesen Antrag, soweit der Mitbeteiligte damit die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begehrt hatte, gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und, soweit damit die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten angestrebt worden war, gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Unter einem tätigte die Behörde weitere nach dem AsylG 2005 und dem Fremdenpolizeigesetz 2005 vorgesehene Aussprüche, die mit der Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz zu verbinden sind (im Besonderen wurde gegen den Mitbeteiligten auch eine Rückkehrentscheidung erlassen).
4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ging in der Begründung seiner Entscheidung, weshalb dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten nicht zu erteilen sei, davon aus, dass es sich bei seiner „Fluchtgeschichte“ um ein konstruiertes und erdachtes Vorbringen handle. Die Ausreise des Mitbeteiligten aus dem Herkunftsstaat und die Auswahl Österreichs als Ziel seiner Reise seien allein vom Wunsch einer wirtschaftlichen und sozialen Besserstellung getragen gewesen. Da seine Angaben zum Grund des Verlassens des Herkunftsstaates nicht der Wahrheit entsprächen, sei ihm der Status des Asylberechtigten schon deshalb nicht zuzuerkennen.
5 Der Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid vom 21. Juni 2017 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
6 Das Bundesverwaltungsgericht gab nach Durchführung einer Verhandlung der Beschwerde mit Erkenntnis vom 28. Mai 2019 statt und sprach aus, dass dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuerkannt sowie festgestellt werde, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
7 Dagegen erhob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 15. April 2020 hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Mai 2019 auf. Der Verwaltungsgerichtshof führte aus, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei rechtswidrig, weil es nicht geprüft habe, ob dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Es sei, worauf das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in der Revision zu Recht hingewiesen habe, aufgrund der Feststellungen zur persönlichen Situation des Mitbeteiligten und zur damaligen Lage im Herkunftsstaat nicht nachvollziehbar, wenn das Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit und die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative verneine. Weitergehende Überlegungen waren anlässlich der damals vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhobenen Revision vom Verwaltungsgerichtshof nicht anzustellen.
8 Aufgrund dieser Entscheidung setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren über die vom Mitbeteiligten erhobene Beschwerde fort und hielt am 16. Juli 2020 eine weitere Verhandlung ab. Mit mündlich verkündetem Erkenntnis wurde vom Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde neuerlich stattgegeben, dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuerkannt sowie festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
9 Ein Vertreter des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl war bei der Verhandlung und der Verkündung der Entscheidung nicht anwesend. In der Folge wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Abschrift der darüber angefertigten Niederschrift zugestellt. Mit Schreiben vom 22. Juli 2020 beantragte die Behörde die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidung.
10Diesem Antrag kam das Bundesverwaltungsgericht nicht nach, sondern es stellte gestützt auf § 29 Abs. 5 VwGVG den Verfahrensparteien bloß eine gekürzte Ausfertigung zu.
11 Die vom Bundesverwaltungsgericht am 16. Juli 2020 mündlich verkündete und mit 11. September 2020 in gekürzter Form ausgefertigte Entscheidung wurde über Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 7. Juni 2022 aufgehoben. Die vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Ansicht, es liege kein gültiger Antrag auf Herstellung einer (vollständigen) Ausfertigung vor, wurde als unzutreffend angesehen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte infolgedessen in rechtswidriger Weise von der (umfänglichen) Offenlegung der Begründung seiner Entscheidung abgesehen, was die nachprüfende Kontrolle der Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof unmöglich machte.
12 Das Bundesverwaltungsgericht erließ daraufhin das hier gegenständlicheErkenntnis vom 26. Juli 2022, mit dem es abermals aussprach, dass der Beschwerde des Mitbeteiligten stattgegeben, ihm gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt sowie gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt werde, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Durch den Ausspruch der uneingeschränkten Stattgebung der Beschwerde brachte das Bundesverwaltungsgericht zudem (gerade noch hinreichend erkennbar) durch seinen Spruch zum Ausdruck, dass die übrigen Spruchpunkte des vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erlassenen Bescheides, die aufgrund der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ergangen waren, ersatzlos aufgehoben wurden. Die Erhebung einer Revision wurde vom Verwaltungsgericht für nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig erklärt.
13 In der Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht anders als das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass die Angaben des Mitbeteiligten zu den Gründen, weshalb er Verfolgung im Herkunftsstaat befürchte, der Wahrheit entsprächen.
14 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Mitbeteiligte sei afghanischer Staatsangehöriger und den Paschtunen zugehörig, bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und stamme aus Laghman. Sein Vater habe von dessen Cousins ein landwirtschaftliches Grundstück gekauft. Später hätten die Cousins behauptet, sie hätten das Grundstück an den Vater nicht verkauft, sondern es ihm lediglich verpachtet. Sie hätten das Grundstück zurückverlangt. Der Vater habe die Rückgabe verweigert und sich zur Lösung des Streits an die Dorfältesten gewandt. Auch gegenüber den Dorfältesten hätten die Cousins des Vaters behauptet, sie hätten ihm das Grundstück nicht verkauft. Sie hätten auch bei dieser Gelegenheit den Vater bedroht, damit er das Grundstück zurückgebe. Am nächsten Tag sei der Vater mit dem ältesten Sohn auf die Felder gegangen, um dort zu arbeiten. Gegen Mittag habe der Mitbeteiligte Essen aufs Feld gebracht. Er habe Schüsse gehört und gesehen, dass auf den Vater und den Bruder geschossen worden sei. Der Mitbeteiligte, auf den ebenfalls geschossen worden sei, sei weggelaufen und zu seinem Onkel mütterlicherseits geflüchtet. Der Onkel sei hinausgegangen, um nachzusehen, was geschehen sei. Er habe dann die restliche Familie des Mitbeteiligten abgeholt und alle nach Kabul zu einem Freund gebracht. Der Onkel sei daraufhin nach Laghman zurückgekehrt, habe sich mit den Dorfältesten um die Beerdigung des Vaters und des Bruders des Mitbeteiligten gekümmert und sei anschließend wieder nach Kabul gefahren. Dort sei dem Onkel telefonisch mitgeteilt worden, dass das Haus der Familie des Mitbeteiligten umstellt, durchsucht und niedergebrannt worden sei. Der Onkel sei später noch mehrmals angerufen und informiert worden, dass der Mitbeteiligte gesucht werde. Daraufhin habe der Onkel die Flucht des Mitbeteiligten organisiert. Der Onkel sei zunächst in sein eigenes Haus zurückgekehrt, wo in der Folge die Familie des Mitbeteiligten Aufnahme gefunden habe und versorgt worden sei. Schließlich habe aber auch die Familie des Mitbeteiligten ausreisen müssen. Sie seien gemeinsam mit dem Onkel nach Pakistan geflüchtet.
15 Der Mitbeteiligte sei sohin so das Bundesverwaltungsgericht weiter im Herkunftsstaat in eine Blutfehde verwickelt. Im Fall der Rückkehr in sein Dorf drohten ihm aufgrund der Zugehörigkeit zur Familie seines Vaters Übergriffe bis hin zur Tötung durch die Cousins des Vaters. Die Cousins des Vaters verfügten über Verbindungen zu den Taliban. Eine Einmischung der Taliban in die Blutfehde könne nicht festgestellt werden. Es sei aber auch nicht zu erwarten, dass die afghanischen Behörden dem Mitbeteiligten Schutz vor Racheakten der Cousins des Vaters bieten könnten. Es sei zwar nicht davon auszugehen, dass dem Mitbeteiligten im Fall einer Niederlassung in den Städten Herat oder Mazar e Sharif Übergriffe durch die Cousins des Vaters drohten. Aufgrund der nunmehrigen Situation in Afghanistan wäre es dem Mitbeteiligten aber nicht (mehr) möglich, dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen könnten. Im Fall einer (Neu )Ansiedlung an anderen Orten in Afghanistan liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und deswegen in eine ausweglose Situation zu geraten.
16 In der rechtlichen Begründung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, einer von Privatpersonen oder privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung komme Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Die Asylrelevanz einer Verfolgung wegen Blutrache sei wegen der Anknüpfung an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „von Blutrache bedrohten Angehörigen der Großfamilie“ zu bejahen, sofern sich die Verfolgungshandlungen gegen Personen richteten, die Rachehandlungen bloß aufgrund ihrer familiären Bindungen zum unmittelbar Betroffenen zu befürchten hätten.
17 Der Mitbeteiligte sei (allein) aufgrund seiner Verwandtschaft zum Vater in die Streitigkeit seines Vaters mit dessen Cousins, die bereits zur Ermordung des Vaters und des Bruders geführt habe, einbezogen worden. Er könne nicht damit rechnen, dass ihn die afghanischen Behörden vor Übergriffen durch die Cousins des Vaters effektiv schützen könnten. Damit drohe ihm in der Herkunftsregion asylrelevante Verfolgung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei weil er andernorts in Afghanistan Gefahr laufe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können nicht gegeben.
18 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhobene Revision. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
19 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
20 Die Revision ist zur Klärung der Rechtslage zulässig. Sie ist auch begründet.
21 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht in der Revision geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei davon ausgegangen, die Verwicklung des Mitbeteiligten in eine Blutfehde sei unter den Konventionsgrund der „Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie“ zu subsumieren. Der Verwaltungsgerichtshof habe zwar in seiner bisherigen Rechtsprechung die Familie als soziale Gruppe im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannt. Jedoch habe der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 4. Oktober 2018, C 652/16, Rs. Ahmedbekova und Ahmedbekov , festgehalten, dass kumulativ zu erfüllende Voraussetzungen erfüllt sein müssten, damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie bejaht werden könne. Zum einen müssten die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen müsse die Gruppe im betreffenden Land eine „deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet“ wird.
22 Das letztgenannte Kriterium werde vom UNHCR als der „Ansatz der sozialen Wahrnehmung“ bezeichnet. Unter Heranziehung dieses Ansatzes erkenne etwa das deutsche Bundesverwaltungsgericht die Familie als soziale Gruppe nicht an, sofern nicht ersichtlich sei, dass die sie umgebende Gesellschaft im Herkunftsstaat die Familie als andersartig betrachte oder die Familie keine deutlich abgegrenzte Identität habe (Hinweis auf dt. BVerwG 19.4.2018, 1 C 29.17, Rn. 31 f).
23 Es sei nicht geklärt, ob eine Familie (oder ein Teil einer Familie, wenn bestimmte Mitglieder der Familie von Blutrache bedroht seien) eine soziale Gruppe bilde, wenn es folge man dem „Ansatz der sozialen Wahrnehmung“ keine Feststellungen dazu gebe, dass die Familie oder deren Mitglieder von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig gesehen werde. Das (österreichische) Bundesverwaltungsgericht lege seiner Entscheidung zugrunde, dass eine Familie, zumindest im Umfang der von Blutrache bedrohten Familienmitglieder, bereits per se als soziale Gruppe im Sinn der GFK und der Statusrichtlinie anzusehen sei. Es habe ausgehend von dieser Rechtsansicht nach Auffassung der revisionswerbenden Behörde zu Unrecht keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Familie des Mitbeteiligten von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werde.
24 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass (zumindest) zwei Höchstgerichte von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (nämlich jene Österreichs und Deutschlands) die Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie unterschiedlich auslegten und deshalb nicht von einem „acte clair“ gesprochen werden könne.
25 Der Mitbeteiligte verweist in seiner Revisionsbeantwortung auf die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach die Familie als soziale Gruppe im Sinn der GFK anerkannt worden sei. Es gehe auch aus der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses ausreichend hervor, dass es der paschtunischen Tradition der Blutfehde entspreche, dass eine solche (unter anderem) durch ungelöste Streitigkeiten wegen Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum ausgelöst werde und zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen könne. Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung sei zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Demnach bestehe bei den Cousins des Vaters auch die Erwartung, dass der Mitbeteiligte (ebenso wie sein zwischenzeitig beinahe erwachsener Bruder) Rache für den Tod des Vaters und des Bruders üben sowie die auf das umstrittene Grundstück gerichtete Forderung seiner Familie gewaltsam durchsetzen werde; und zwar ungeachtet der aktuellen „offenkundigen Schwäche“ der Familie des Mitbeteiligten (nur noch er und sein jüngerer Bruder kämen als Racheverpflichtete in Frage). Eine Blutrache könne, wenn sich die Familie aktuell nicht in der Lage zur Rache sehe, auch über mehrere Jahrzehnte aufgeschoben werden, was anhand der Berichtslage zu Afghanistan bestätigt werde. Somit ergebe sich schon aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend, dass die Familie des Mitbeteiligten eine abgegrenzte Identität aufweise.
26 Erkennbar vertritt der Mitbeteiligte damit die Auffassung, es sei für die Herstellung eines Konnexes zu dem für die Asylgewährung maßgeblichen und hier herangezogenen Grund der Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bereits ausreichend, dass er von den ihn verfolgenden Cousins des Vaters als Teil der anderen in die Blutfehde involvierte Gruppe angesehen werde, die (allein) durch die Familieneigenschaft zum Vater definiert werde.
27 § 2, § 3 und § 8 Asylgesetz 2005 legen fest (auszugsweise und samt Überschrift):
„Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist
1. die Genfer Flüchtlingskonvention: die Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl. Nr. 55/1955, in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Jänner 1967, BGBl. Nr. 78/1974, geänderten Fassung;
2. ...
...
9. die Statusrichtlinie: die Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9;
10. ...
11. Verfolgung: jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie;
12. ein Verfolgungsgrund: ein in Art. 10 Statusrichtlinie genannter Grund;
...
...
Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) ...
...
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
...
Status des subsidiär Schutzberechtigten
§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) ...“
28 Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sieht vor:
„Definition des Ausdruckes ‚Flüchtling‘
A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer:
1. ...
2. sich infolge von vor dem 1. Jänner 1951 eingetretenen Ereignissen aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Falls jemand mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, ist unter dem Heimatland jedes Land zu verstehen, dessen Staatsangehöriger er ist; wenn jemand ohne triftige, auf wohlbegründeter Furcht beruhende Ursache sich des Schutzes eines der Staaten, dessen Staatsangehöriger er ist, nicht bedient, soll er nicht als eine Person angesehen werden, der der Schutz des Heimatlandes versagt worden ist.“
29 Die Bestimmungen und Erwägungsgründe der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung); im Weiteren: Statusrichtlinie, lauten auszugsweise (und samt Überschrift):
„ ...
in Erwägung nachstehender Gründe:
(1) ...
...
(4) Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.
(5) Gemäß den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf kurze Sicht zur Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft führen.
...
(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.
(13) Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes sollte dazu beitragen, die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen, soweit sie ausschließlich auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht.
...
(23) Es sollten Normen für die Bestimmung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festgelegt werden, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention zu leiten.
(24) Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.
...
(29) Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen.
(30) Es ist ebenso notwendig, einen gemeinsamen Ansatz für den Verfolgungsgrund ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘ zu entwickeln. Bei der Definition einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Aspekte im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Antragstellers, einschließlich seiner geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, die mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen können, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungene Schwangerschaftsabbrüche, angemessen zu berücksichtigen, soweit sie in Verbindung mit der begründeten Furcht des Antragstellers vor Verfolgung stehen.
...
Artikel 2
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a)
...
d) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;
e ...
...
...
Artikel 6
Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann
Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von
a) ...
...
c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.
(2) ...
...
Artikel 9
Verfolgungshandlungen
(1) ...
(3) Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.
Artikel 10
Verfolgungsgründe
(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:
a) ...
...
d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
— die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
— die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Als sexuelle Orientierung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;
e) ...
...
Artikel 13
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“
30 Im Hinblick auf das Vorbringen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28. März 2023 an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit einem Ersuchen um Vorabentscheidung zur Klärung des Inhalts der unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie herangetreten. Dem EuGH wurden folgende Fragen unterbreitet:
„1. Ist die in Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) enthaltene Wendung „die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ so auszulegen, dass in dem betreffenden Land eine Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität nur dann hat, wenn sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, oder ist es erforderlich, das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ eigenständig und losgelöst von der Frage, ob die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, zu prüfen?
Falls nach der Antwort auf Frage 1. das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ eigenständig zu prüfen ist:
2. Nach welchen Kriterien ist das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU zu prüfen?
Unabhängig von der Antwort auf die Fragen 1. und 2.:
3. Ist bei der Beurteilung, ob eine Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU „von der sie umgebenden Gesellschaft“ als andersartig betrachtet wird, auf die Sicht des Verfolgers oder der Gesellschaft als Ganzes oder eines wesentlichen Teiles der Gesellschaft eines Landes oder eines Teiles des Landes abzustellen?
4. Nach welchen Kriterien richtet sich die Beurteilung, ob im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU eine Gruppe als „andersartig“ betrachtet wird?“
31 Mit Urteil vom 27. März 2025, C-217/23, Rs. Laghman , hat der EuGH die von ihm zusammengefassten Fragen wie folgt beantwortet:
„Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass eine internationalen Schutz beantragende Person, der in ihrem Herkunftsland Blutrache droht, weil sie einer Familie angehört, die in einen Streit vermögensrechtlicher Natur verwickelt ist, nicht allein aus diesem Grund als einer ‚bestimmten sozialen Gruppe‘ im Sinne dieser Bestimmung zugehörig betrachtet werden kann.“
32 In seiner Begründung hat der EuGH darauf hingewiesen, dass sich aus Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie ergibt, dass eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“ gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Mitglieder der betreffenden Gruppe mindestens eines der drei im ersten Gedankenstrich dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich „angeborene Merkmale“, einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung ..., die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
33 Was die erste dieser Voraussetzungen betrifft, so teilen die Angehörigen einer Familie aufgrund ihrer familiären Bindungen, unabhängig davon, ob sich diese Bindungen aus genetischer Abstammung, Adoption oder Ehe ergeben, ein „angeborenes Merkmal“ oder einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“. Der Umstand, dass die Angehörigen einer Familie, insbesondere die Männer und Jungen dieser Familie, aufgrund ihrer Abstammung in eine Blutfehde verwickelt sind, weil diese in väterlicher Linie von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist ebenfalls Teil eines gemeinsamen Hintergrundes, der nicht verändert werden kann, und stellt somit ein zusätzliches gemeinsames Merkmal dieser Personen dar. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass diese Personen die erste Voraussetzung erfüllen.
34 Zur zweiten Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit es sich um eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinn von Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie handelt, nämlich die deutlich abgegrenzte Identität dieser Gruppe im betreffenden Herkunftsland, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“, legte der EuGH dar, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie in sämtlichen Sprachfassungen ergibt, dass die Wahrnehmung der Andersartigkeit der betroffenen Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die in dieser Bestimmung genannte „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe stellt eine Voraussetzung dar, die nicht getrennt und autonom von der Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft, sondern im Zusammenhang mit dieser zu beurteilen ist.
35 Es ist Sache des betreffenden Mitgliedstaats, zu bestimmen, welche „umgebende Gesellschaft“ im Sinn dieser Bestimmung für die Beurteilung des Vorliegens einer sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, etwa auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands.
36 Im Übrigen muss die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ unabhängig von Verfolgungshandlungen festgestellt werden, die den Mitgliedern dieser Gruppe in ihrem Herkunftsland drohen.
37 Bestehen beispielsweise im Herkunftsland strafrechtliche Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt das die Feststellung, dass diese Personen eine bestimmte soziale Gruppe bilden, die von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
38 Ebenso können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen, insbesondere den sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen, sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen etwa den Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben oder auch den Umstand, sich tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern zu identifizieren , als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie zugehörig angesehen werden.
39 In diesem Zusammenhang wird vom EuGH weiters betont, dass es nicht nur auf die Wahrnehmung einiger Individuen ankommt, die Teil der umgebenden Gesellschaft sind. Um als Gruppe anerkannt werden zu können, die im Herkunftsland eine abgegrenzte Identität hat, muss die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet werden, was notwendigerweise erfordert, dass es sich um die Wahrnehmung eines wesentlichen Teils der Individuen dieser Gesellschaft handelt und nicht nur einzelner Akteure, deren Handlungen als Verfolgungshandlungen im Sinn der Statusrichtlinie qualifiziert werden können. Anderenfalls würden solche Handlungen ausreichen, um die davon betroffenen Personen als eine „bestimmte soziale Gruppe“ anzusehen, was diese Voraussetzung ihrer Wirksamkeit berauben würde.
40 Der Umstand, dass sich Opfer solcher Handlungen selbst als andersartig betrachten, kann für sich allein in diesem Zusammenhang ebenso wenig ausschlaggebend sein. Ist eine Familie in eine Blutfehde verwickelt, bedeutet der Umstand, dass sich die davon betroffenen Mitglieder der Familie subjektiv als andersartig wahrnehmen, für sich genommen nicht, dass die von ihnen gebildete Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, wie es Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie erfordert.
41 Es kommt also darauf an, dass eine Gruppe insbesondere aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Dass die umgebende Gesellschaft eine Gruppe so wahrnimmt, kann insbesondere durch konkrete Anhaltspunkte wie Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen belegt werden, die die Mitglieder der fraglichen Gruppe allgemein betreffen und sie an den Rand der sie umgebenden Gesellschaft drängen.
42 In Bezug auf den dem EuGH anlässlich des Ersuchens um Vorabentscheidung geschilderten (vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten) Sachverhalt hielt der EuGH fest, dass sich anhand dessen nicht ergibt, dass die Gruppe der Angehörigen einer bestimmten Familie, die aufgrund eines Streits vermögensrechtlicher Natur in eine Blutfehde verwickelt ist, in ihrem Herkunftsland (Afghanistan) nicht nur von den Angehörigen der in diese Blutfehde verwickelten Familien, sondern auch von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet wird.
43 Folglich so der EuGH in seinen sich auf die vorgelegten Fragen beziehenden abschließenden Schlussfolgerungen vermag der Umstand, dass einer Person, die internationalen Schutz beantragt, in ihrem Herkunftsland wegen einer auf einem Streit vermögensrechtlicher Natur beruhenden Blutfehde gegen alle oder manche Mitglieder ihrer Familie physische Gewalt bis hin zur Tötung droht, nicht zu begründen, dass dieser Antragsteller einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie angehört. Einer solchen Person kann folglich auf dieser Grundlage nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden (vgl. zum Ganzen die Ausführungen des EuGH in den Rn. 27 bis 39 des Urteils C 217/23).
44 Für den gegenständlichen Fall bedeuten die Ausführungen des EuGH Folgendes:
45Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. VwGH 14.10.2024, Ra 2024/20/0491, mwN).
46 Die in Art. 2 lit. d Statusrichtlinie enthaltene Definition des „Flüchtlings“ entspricht wenngleich in der in Österreich maßgeblichen Übersetzung in die deutsche Sprache nicht völlig wortident formuliert und abgesehen davon, dass kein in Art. 12 dieser Richtlinie genannter Ausschlussgrund vorliegen darf, im Wesentlichen dem Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (vgl. in diesem Zusammenhang auch die in Deutschland maßgebliche Übersetzung in die deutsche Sprache, in der sich der Wortlaut des Art. 2 lit. d Statusrichtlinie noch deutlicher wiederfindet, abgedruckt beispielsweise in Hruschka [Hrsg.] , Genfer Flüchtlingskonvention, 52 f).
47Dass bei der Beurteilung, ob einem Fremden nach dem AsylG 2005 ein Schutzstatus zuzuerkennen (oder abzuerkennen) ist, auch auf die Bestimmungen der Statusrichtlinie Bedacht zu nehmen ist, hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach dargelegt (vgl. allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung etwa VwGH 29.1.2025, Ra 2022/04/0112; zur Notwendigkeit der unionsrechtskonformen Interpretation einer nationalen Norm im Bereich des Asylrechts sowie deren Grenzen vgl. etwa VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006; vgl. weiters in Anwendung dieser Grundsätze im Bereich des Asylrechts etwa VwGH 25.7.2023, Ra 2021/20/0246, dort mit näheren Ausführungen dazu, dass der Gesetzgeber mit den Bestimmungen des AsylG 2005 auch das Ziel verfolgte, die im Bereich asylrechtlicher Regelungen vorhandenen unionsrechtlichen Vorgaben in das nationale Recht zu implementieren; vgl. ferner neuerlich zur Notwendigkeit der Bedachtnahme auf unionsrechtliche Vorgaben bei der Interpretation von Bestimmungen des AsylG 2005 jüngst VwGH 24.3.2025, Ra 2025/20/0059, mwN; zur Auslegung im Speziellen des Begriffs der „sozialen Gruppe“ anhand der in Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie enthaltenen Kriterien und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH vgl. VwGH 12.12.2023, Ro 2023/14/0005, mwN).
48 Weiters ist im gegebenen Zusammenhang festzuhalten, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes neben der Verfolgung durch staatliche Akteure auch einer von Privatpersonen und privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zukommt, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Die Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der staatlichen Behörden ist dabei grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob der Betreffende unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben.
49Auch einer auf keinem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung durch Private kann asylrelevanter Charakter zukommen; dies allerdings nur dann, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren. Das hat auch für die nach Art. 7 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie die Eignung zum Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden aufweisenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, zu gelten (vgl. zur Asylrelevanz der Verfolgung durch Private ebenfalls VwGH 14.10. 2024, Ra 2024/20/0491, mwN).
50Für die Gewährung von Asyl bedarf es mithin stets der Prüfung eines kausalen Zusammenhanges zwischen der Verfolgungshandlung (oder dem Fehlen von Schutz vor Verfolgung) und einem Verfolgungsgrund im Sinn der GFK. Es kommt nicht darauf an, dass „irgendein“ Zusammenhang besteht, sondern dass die Verfolgungshandlung kausal auf einen Verfolgungsgrund im Sinn der GFK - wenn auch nicht notwendigerweise als den alleinigen Grund - zurückzuführen ist. Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. auch dazu VwGH Ra 2024/20/0491, mwN).
51Bei Fehlen eines kausalen Konnexes zu einem in der GFK genannten Grund ist als Schutzinstrument das Rechtsinstitut des subsidiären Schutzes für den Fall vorgesehen, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde (vgl. etwa VwGH 28.2.2024, Ra 2023/20/0619, mwN, dort im Zusammenhang mit dem Vorbringen einer Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung; vgl. weiters dazu, in welchen Konstellationen es nach den Bestimmungen der Statusrichtlinie vorgesehen ist, dass einem Fremden subsidiärer Schutz zu gewähren ist, EuGH 27.3.2025, C 217/23, Rn. 40 ff, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH).
52Da zur Bestimmung, ob ein für die Asylgewährung maßgeblicher Verfolgungsgrund vorliegt, auf die Vorgaben der Statusrichtlinie Bedacht zu nehmen war, hatte in einem Fall wie dem hier vorliegenden die nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 vorzunehmende Prüfung, ob Verfolgungshandlungen kausal darauf zurückzuführen sind, dass der betroffene Fremde die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (im asylrechtlichen Sinn) aufweist, im Besonderen unter Berücksichtigung des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie zu erfolgen.
53 Aufgrund der oben wiedergegebenen und anlässlich des hier vorliegenden Falles keiner weiteren Erläuterung bedürfenden Ausführungen des EuGH zum Verständnis der Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie erweist sich nun die vom Bundesverwaltungsgericht auf Basis des von ihm festgestellten Sachverhalts vertretene Ansicht, der Mitbeteiligte habe aus dem Grund der Zugehörigkeit zur im asylrechtlichen Sinn zu verstehenden sozialen Gruppe der Familie (allenfalls eingeschränkt auf jene Mitglieder, die konkret in die Blutfehde gezogen werden und Blutrache zu gewärtigen haben) Verfolgung zu befürchten, als nicht mit dem Gesetz vereinbar. Im angefochtenen Erkenntnis finden sich nämlich keine solchen Feststellungen, aufgrund deren unter Anwendung der vom EuGH dargelegten Kriterien der rechtliche Schluss gezogen werden könnte, der Mitbeteiligte sei aufgrund der Zugehörigkeit zur in die Blutfehde gezogenen Familie seines Vaters als Teil einer Gruppe anzusehen, die „in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
54Sohin war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
55Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten, der im Revisionsverfahren zunächst rechtsanwaltlich vertreten war und seit Auflösung des diesbezüglichen Vollmachtsverhältnisses seine Angelegenheiten gemäß § 23 Abs. 1 VwGG selbst führt, gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die vom ihn zunächst vertretenden Rechtsanwalt verfasste und von diesem eingebrachte Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
56 Die gegenständliche Entscheidung soweit damit ein Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfolgt (vgl. zur bisher vertretenen Ansicht betreffend die Asylrelevanz von aufgrund Blutrache gesetzter Verfolgungshandlungen in Bezug auf einen Zusammenhang mit dem Verfolgungsgrund der sozialen Gruppe der Familie bloß beispielsweise VwGH 22.8.2006, 2006/01/0251, mwN)konnte in einem gemäß § 11 Abs. 1 VwGG gebildeten Senat getroffen werden. In jenem Fall, in dem der Verwaltungsgerichtshof durch Änderung seiner Rechtsprechung der Rechtsansicht des EuGH Rechnung trägt, bedarf es nämlich keiner Befassung eines verstärkten Senates nach § 13 Abs. 1 Z 1 VwGG (vgl. etwa VwGH 25.7.2023, Ra 2021/20/0246, mwN).
Wien, am 12. Mai 2025