JudikaturVwGH

Ro 2023/14/0005 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
12. Dezember 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel, Dr. in Sembacher, Mag. I. Zehetner und Mag. Bayer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juli 2023, 1. W281 2269219 1/11E, 2. W281 2269208 1/9E, 3. W281 2269210 1/8E, 4. W281 2269212 1/8E, 5. W281 2269214 1/8E und 6. W281 2269216 1/8E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Parteien: 1. W A, 2. A A, 3. M A, 4. N A, 5. W A und 6. Z A), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

1 Die Mitbeteiligten sind Staatsangehörige von Syrien, Angehörige der Volksgruppe der Araber und sunnitische Muslime. Die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten sind die minderjährigen Kinder der Erstmitbeteiligten. Die Mitbeteiligten stellten am 18. Oktober 2021 gemeinsam Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Fluchtgründe führte die Erstmitbeteiligte an, sie habe Syrien aufgrund der damaligen Sicherheitslage verlassen. Die Zweit- bis Sechstmitbeteiligten machten keine eigenen Fluchtgründe geltend.

2 Mit Bescheiden vom 21. Februar 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Mitbeteiligten jeweils hinsichtlich des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte den Mitbeteiligten jedoch jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen Aufenthaltsberechtigungen für die Dauer von einem Jahr (Spruchpunkte II. und III.).

3 Den gegen jeweils Spruchpunkt I. erhobenen Beschwerden gab das Bundesverwaltungsgericht mit den angefochtenen Erkenntnissen statt, erkannte den Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zu und stellte fest, dass ihnen gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Erhebung einer Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für zulässig.

4 Begründend stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, die Erstmitbeteiligte sei in dem Dorf Alnasriya geboren, habe zwölf Jahre die Schule besucht und anschließend ab dem Jahr 2008 an der Universität in Damaskus studiert. Im Jahr 2012 sei sie zu ihrem Ehemann in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gereist und habe dort bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2021 gelebt. Die Erstmitbeteiligte sei ab dem Jahr 2017 drei bis vier Mal zur Ablegung von Prüfungen nach Syrien gereist und habe ihr Studium 2018 abgeschlossen. Die VAE habe die Erstmitbeteiligte aufgrund der wirtschaftlichen Lage verlassen und weil sie sich in Europa eine bessere Zukunft erhoffe.

5 Die Mitbeteiligten hätten in der Vergangenheit keine Probleme mit dem syrischen Regime gehabt. Die Familie sei nicht als regimekritisch bekannt. Die Mitbeteiligten verfügten derzeit über keine männlichen Familienangehörigen in ihrer Herkunftsregion. Die Eltern und Brüder der Erstmitbeteiligten befänden sich nicht mehr in Syrien. Ihr Ehemann halte sich seit über 12 Jahren in den VAE auf.

6 Sodann führte das Bundesverwaltungsgericht aus, nach der dem Verfahren zugrundegelegten Länderberichte würden alleinstehende Frauen in Syrien, die keine männliche Unterstützung erhielten, oft von ihren Familien und Gemeinschaften stigmatisiert und seien besonders gefährdet, Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Seit dem Beginn des Konflikts sei es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz habe. In Haushalten mit einem weiblichem Haushaltsvorstand bestehe ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein. Außerdem würden Frauen und Mädchen gesellschaftlich und gesetzlich diskriminiert, u. a. in Bezug auf Bürgerrechte und familienrechtliche Angelegenheiten, wie beispielsweise Erbfolge, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder. Darüber hinaus seien Frauen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, einschließlich Vergewaltigung und anderer Formen sexueller Gewalt, Zwangs- und Kinderehe, häuslicher Gewalt, Gewalt in Form von „Ehrendelikten“, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution sowie Strafen für vermeintliche Verstöße gegen die strenge Auslegung des Islam und islamischen Rechts durch „Hardliner Gruppen“. Auch der Einsatz von sexueller Gewalt bei Festnahmen und in Haftanstalten der Regierung sei laut Berichten so weitverbreitet und systematisch, dass weibliche Gefangene nach ihrer Freilassung häufig von ihrer Gemeinschaft und Familie stigmatisiert werden würden, weil unabhängig vom tatsächlichen Geschehen angenommen werde, dass sie Opfer von sexueller Gewalt seien.

7 Vor dem Hintergrund, dass mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass die Mitbeteiligten ohne familiären Rückhalt nach Syrien zurückkehren würden, sei die Erstmitbeteiligte, auch wenn sie verheiratet sei, mit einer alleinstehenden (zB. unverheirateten oder verwitweten) Frau vergleichbar. Daher wäre die Erstmitbeteiligte aus rechtlicher Sicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der sozialen Gruppe der „‘de facto‘ alleinstehenden Frauen“ ohne männlichen Schutz ausgesetzt. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht.

8 Der syrische Staat sei nach den Länderfeststellungen nicht willens und/oder nicht in der Lage, die Erstmitbeteiligte vor Übergriffen zu schützen bzw. gingen diese Übergriffe auch bzw. gerade vom Staat selbst/den Regimekräften aus.

9 Die Erhebung einer Revision sei zulässig, zumal es sich bei der Erstmitbeteiligten nicht um eine klassische alleinstehende Frau handle, weil sie verheiratet sei. Zudem gebe es keine Judikatur, inwieweit es zumutbar sei, dass sich solche Frauen auch dem Schutz von anderen, weiter oder weit entfernten Familienangehörigen unterstellen müssten, wenn sie in ihren Herkunftstaat zurückkehrten und wie weit diesbezüglich eine Ermittlungstätigkeit seitens des Bundesamtes oder Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich sei.

10 Gegen diesen Beschluss richtet sich die ordentliche Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Die Revision samt den Verfahrensakten wurde vom Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung des Verfahrens nach § 30a VwGG dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Die Mitbeteiligten erstatteten Revisionsbeantwortungen.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

12 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bringt zur Zulässigkeit seiner Amtsrevision zusammengefasst vor, das Bundesverwaltungsgericht weiche von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht ab. Aus dem Erkenntnis gehe nicht hervor, warum konkret die Erstmitbeteiligte einer Verfolgung als „‘de facto‘ alleinstehende Frau“ ausgesetzt sein solle. Es fehle an konkreten Feststellungen, die es ermöglichen würden, zu beurteilen, ob die vom Bundesverwaltungsgericht identifizierten Gefahren tatsächlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohten und jene erhebliche Intensität erreichten, bei der sie als Verfolgung zu qualifizieren seien. Ob dies der Fall sei, sei im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (mit Hinweis auf VwGH 27.6.2022, Ra 2022/14/0134, Rn. 12 und VwGH 18.5.2020, Ra 2019/18/0402, Rn. 10, jeweils mwN), insbesondere da die Erstmitbeteiligte verheiratet sei und sich mehrfach ohne männliche Begleitung in Syrien aufgehalten habe.

13 Die Revision ist zulässig.

14 Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 setzt die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht, voraus (vgl. VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, Rn. 13, mwN).

15 Unter „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinien) (vgl. neuerlich VwGH Ra 2020/01/0025, Rn. 14, mwN).

16 Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 15, mwN).

17 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status RL und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinne dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der als sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 23, mwN).

18 Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. VwGH 3.7.2023, Ra 2023/14/0182, Rn. 23, mwN).

19 Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. VwGH 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, Rn. 14, mwN).

20 Diesen Erfordernissen entsprechen die angefochtenen Erkenntnisse nicht.

21 Den Ausführungen in den angefochtenen Entscheidungen ist zu entnehmen, dass das Verwaltungsgericht allein aufgrund dessen, dass die Erstmitbeteiligte zwar verheiratet und sich ihr Mann aber in den VAE befindet, vor dem Hintergrund der Länderberichte zu alleinstehenden Frauen in Syrien, die Voraussetzungen für das Vorliegen einer sozialen Gruppe als ausreichend ansah. Feststellungen zu den Merkmalen und zur Identität einer solchen Gruppe sind diesen Ausführungen nicht zu entnehmen. Dies ist mit der dargelegten Rechtsprechung nicht in Einklang zu bringen.

22 Zudem sind den angefochtenen Erkenntnissen zwar Benachteiligungen und Risken für alleinstehende Frauen, insbesondere, dass diese oft stigmatisiert, „gesellschaftlich und gesetzlich diskriminiert“ und seitens der Regimekräfte Übergriffe an (alleinstehenden) Frauen begangen würden, zu entnehmen. Dabei ist festzuhalten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. wieder VwGH Ra 2019/20/0295, Rn. 27, unter Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU). Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (VwGH 14.7.2021, Ra 2021/14/0066, mwN). Die bisherigen Feststellungen, auf die Person und die konkrete familiäre Situation der Erstmitbeteiligten bezogen, lassen den von Bundesverwaltungsgericht angenommenen rechtlichen Schluss einer asylrelevanten Verfolgung der Erstmitbeteiligten nicht zu.

23 Gegen die vom Verwaltungsgericht angenommene Verfolgung der Erstmitbeteiligten spricht im Übrigen, dass diese nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht alleinstehend, sondern verheiratet ist, und dass sie ab dem Jahr 2017 drei bis vier Mal zur Ablegung von Prüfungen alleine nach Syrien reiste, um dort im Jahr 2018 ihr Studium abzuschließen.

24 Die angefochtenen Erkenntnisse waren somit wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 12. Dezember 2023

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