JudikaturVwGH

Ra 2022/17/0115 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
09. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des K M in V, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Juni 2022, W163 21904122/6E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

1. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen Nichtgewährung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 wendet.

2. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird der Revision im angefochtenen Umfang Folge gegeben und das angefochtene Erkenntnis dahin abgeändert, dass die gegenüber dem Revisionswerber getroffene Rückkehrentscheidung in seinen Herkunftsstaat und die Frist zur freiwilligen Ausreise ersatzlos behoben werden.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 30. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2Mit Bescheid vom 15. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit Erkenntnis vom 21. April 2021 als unbegründet ab.

4Am 8. Juni 2021 stellte der Revisionswerber den verfahrensgegenständlichen „Erstantrag“ auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gemäß § 56 Abs. 1 AsylG 2005.

5Mit Bescheid vom 17. November 2021 wies das BFA diesen Antrag ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFAVG erließ es gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und gewährte ihm gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV).

6 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 5. April 2022der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des genannten Bescheides Folge und erklärte „die Abschiebung gemäß § 8 Abs 3a zweiter Satz AsylG iVm § 46 FPG für unzulässig“. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte es für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

8 Begründend stellte das Verwaltungsgericht soweit für das Revisionsverfahren relevant u.a. folgenden Sachverhalt fest:

Der Bruder des Revisionswerbers lebe mit seiner Familie im Bundesgebiet. Der Bruder habe am 31. Mai 2021 „gegenüber dem“ Revisionswerber eine Wohnrechtsvereinbarung getroffen, derzufolge der Revisionswerber die Wohnung unentgeltlich mitbenutzen könne. Derzeit bewohne der Revisionswerber ein Zimmer gemeinsam mit einem Mitbewohner in einem Heim.

Der Revisionswerber verfüge über einen bedingten arbeitsrechtlichen Vorvertrag bei einem näher bezeichneten Unternehmen sowie über zwei bedingte Einstellungszusagen bei einem weiteren näher genannten Unternehmen. Der Revisionswerber verfüge „über kein Vermögen und keine Geldreserven“.

In rechtlicher Hinsicht erwog das Verwaltungsgericht soweit vorliegend relevantes gehe (u.a.) aufgrund der Größe der Wohnung des Bruders und der Anzahl der Zimmer grundsätzlich von der Ortsüblichkeit der Wohnmöglichkeit aus. Der Revisionswerber lebe aber weiterhin in einem „Heim“, es sei somit nicht von einer real gesicherten und jederzeit bezugsbereiten Wohnmöglichkeit auszugehen. Ein gesicherter Rechtsanspruch auf eine Unterkunft sei daher nicht vorgelegen (Verweis auf VwGH 5.2.2021, Ra 2020/21/0392).

Da der Revisionswerber über einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag sowie zwei bedingte Einstellungszusagen verfüge, sei selbst unter der Berücksichtigung des Umstandes, dass der Revisionswerber bis dato noch keine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet ausgeübt habe, davon auszugehen, dass er bei einer Erteilung eines Aufenthaltstitels das notwendige Ausmaß an Einkommen werde erwirtschaften können.

Hinsichtlich der vom Revisionswerber vorgelegten E-Card sei „nach Einsicht in das GVS Versorgungssystem von einem lediglich aufgrund der Grundversorgung bestehenden Sozialversicherungsschutz auszugehen“.

Im Übrigen sei „das in § 56 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 vorgeschriebene Mindestmaß von fünf Jahren im Zeitpunkt der Antragstellung zwar überschritten“ gewesen, jedoch habe der Revisionswerber keine überdurchschnittliche Integration erlangt.

Mangels Vorliegens der Voraussetzungen des „§ 60 Abs. 2 Z 1 und 2 AsylG“ komme die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 nicht in Betracht.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, soweit damit der Beschwerde nicht Folge gegeben wurde.

10 Eine Revisionsbeantwortung wurde im vom Verwaltungsgerichtshof geführten Vorverfahren nicht erstattet.

11Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. und auf das Wesentliche zusammengefasst vor, gemäß ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei Gesetzeszweck des § 56 AsylG 2005 „die Bereinigung von besonders berücksichtigungswürdigenden ‚Altfällen‘ unter isolierter Bewertung alleine des faktischen [...] Aufenthalts“ (mit Verweis auf näher genannte hg. Rechtsprechung).

12Es müsse für die Erfüllung des Tatbestandes des § 60 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 genügen, wenn der Antragsteller so wie es der Revisionswerber getan habeinitiativ und untermauert durch die Vorlage entsprechender Bescheinigungsmittel belegt habe, dass er bei Erteilung des Aufenthaltstitels einen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft in Österreich habe. Der vom Verwaltungsgericht angeführte Umstand, wonach der Revisionswerber in der Wohnung (noch) nicht Unterkunft genommen habe, stehe dem nicht entgegen, zumal schon aus dem Wortlaut, der § 11 Abs. 2 Z 2 NAG entspreche, nicht hervorgehe, dass der Betroffene dort noch vor der Erteilung des von ihm beantragten Aufenthaltstitels wohnen müsse.

13Soweit das Verwaltungsgericht zusätzlich noch die Erteilungsvoraussetzung des § 60 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 für nicht erfüllt erachtet habe, habe es nicht darauf Bedacht genommen, dass der Revisionswerber durch die Vorlage des arbeitsrechtlichen Vorvertrages mit einem näher genannten Unternehmen sowie der Einstellungszusage eines weiteren näher bezeichneten Unternehmens nicht nur habe belegen können, dass sein Unterhalt nach Erteilung des von ihm beantragten Aufenthaltstitels und Aufnahme einer dieser Beschäftigungen gesichert wäre, sondern er auch über einen in Österreich leistungspflichtigen, alle Risiken abdeckenden Versicherungsschutz gemäß § 60 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 verfügen werde. Dafür sei nicht der Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung maßgeblich, sondern es sei eine Prognose dahingehend zu führen, ob dem Drittstaatsangehörigen nach Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels ein Krankenversicherungsschutz zur Verfügung stehen werde (Verweis auf die Erteilungsvoraussetzung nach § 11 Abs. 2 Z 4 NAG und VwGH 31.5.2011, 2009/22/0278 bis 0281, und 10.4.2014, 2013/22/0230).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

14 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

15Liegen - wie hier - trennbare Absprüche vor, so ist die Zulässigkeit einer dagegen erhobenen Revision auch getrennt zu überprüfen (vgl. VwGH 27.6.2023, Ra 2022/17/0205, mwN).

Zur (teilweisen) Zurückweisung der Revision:

16 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

17Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

18Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

19Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts, mit der die dem BFA in einem Verfahren nach § 56 AsylG 2005 offen stehende, stets auf Grund der Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Ermessensübung bestätigt wird, ist im Regelfall, so die maßgeblichen Umstände vollständig und frei von Verfahrensmängeln berücksichtigt wurden und die erfolgte Einzelfallbeurteilung nicht unvertretbar ist, nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 22.3.2021, Ra 2020/21/0448 bis 0450, mwN).

20Den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der Revisionswerber keine überdurchschnittliche Integration erlangt habe sowie bei ihm insbesondere von einem lediglich aufgrund der Grundversorgung bestehenden Sozialversicherungsschutz auszugehen sei, und der darauf zentral aufbauenden rechtlichen Beurteilung des Verwaltungsgerichts, hält die Revision in diesem Kontext nichts Stichhaltiges im Sinn einer unvertretbaren Ermessensausübung durch das Verwaltungsgericht entgegen (vgl. zu den auch fallbezogen zu erfüllenden Tatbestandsmerkmalen etwa VwGH 25.3.2024, Ra 2023/17/0053 und 0054, mwN).

21 Bereits deswegen ist auf das oben auszugsweise wiedergegebene Zulässigkeitsvorbringen zu den (weiteren) Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005 nicht näher einzugehen.

Zur (teilweisen) Zulässigkeit und Begründetheit der Revision:

22 Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts wendet, wonach eine Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber trotz der festgestellten Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat zu erlassen sei und damit auch der weitere rechtlich davon abhängende Ausspruch über die Frist für die freiwillige Ausreise, der bei Wegfall der Rückkehrentscheidung seine Grundlage verliert, in Revision zieht.

23 Mit den diesbezüglich für die nationale Rechtslage aus dem über dieses Vorabentscheidungsersuchen mittlerweile ergangenen Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 6. Juli 2023, C663/21, abzuleitenden Rechtsfolgen hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 25. Juli 2023, Ra 2021/20/0246, befasst. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

24Für das gegenständliche Verfahren folgt daraus, dass in Anbetracht des dem Unionsrecht zukommenden Vorrangs die in § 8 Abs. 3a AsylG 2005 vorgesehene Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Falle einer gleichzeitig getroffenen Feststellung, wonach die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat wegen der in dieser Norm angeführten Gefahren unzulässig sei, zu unterbleiben hat; ebenso die damit in Zusammenhang stehende Festlegung einer Frist zur freiwilligen Ausreise (vgl. auch VwGH 13.8.2024, Ra 2022/19/0102).

25Gemäß § 42 Abs. 4 VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof in der Sache selbst entscheiden, wenn sie entscheidungsreif ist und die Entscheidung in der Sache selbst im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis liegt. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil auf Grund der obigen Rechtsausführungen die Rückkehrentscheidung und die Festlegung der Frist zur freiwilligen Ausreise ersatzlos zu beheben sind.

26 Im Hinblick auf das zitierte, obschon nach Einbringung der vorliegenden Revision ergangene Urteil des EuGH vom 6. Juli 2023, C663/21, ist auf die Anregung des Revisionswerbers, gemäß Art. 267 AEUV ein Vorabentscheidungsersuchen zu diesem Fragenkomplex zu stellen, nicht einzugehen, weil sich der Verwaltungsgerichtshof ohnedies auf die maßgeblichen Rechtssätze dieses Urteils stützt (vgl. dazu EuGH 15.10.2024, C 144/23, Rn. 62).

27Der Kostenausspruch gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 9. Dezember 2024