JudikaturVwGH

Ra 2022/19/0102 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
13. August 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des I A, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. März 2022, W116 2224202 1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Aberkennung des Status des Asylberechtigten, die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichtgewährung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 wendet.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird der Revision Folge gegeben und das angefochtene Erkenntnis mit Ausnahme der unangefochten gebliebenen Feststellung der Unzulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat dahin abgeändert, dass die Rückkehrentscheidung und die Frist zur freiwilligen Ausreise ersatzlos behoben werden.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Dem Revisionswerber, einem syrischen Staatsangehörigen und Angehörigen der arabischen Volksgruppe, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 25. November 2014 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2 Mit Urteil vom 11. Februar 2018 verurteilte das Landesgericht für Strafsachen Wien den Revisionswerber wegen des Verbrechens der versuchten Vergewaltigung eines fünfzehnjährigen Buben in einem öffentlichen Schwimmbad zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten (wobei 14 Monate für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde). Das OLG Wien gab der dagegen erhobenen Berufung der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 3. Juli 2018 Folge und erhöhte die Freiheitsstrafe unter Ausschaltung der teilbedingten Strafnachsicht auf zwei Jahre.

3 Daraufhin erkannte das BFA dem Revisionswerber mit Bescheid vom 19. September 2019 den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab. Das BFA sprach aus, dass dem Revisionswerber die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme und ihm auch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt werde, es erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung. Das BFA stellte die Unzulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Syrien fest und setzte ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 In seiner Begründung hielt das BVwG fest, dass der Revisionswerber das Verbrechen der versuchten Vergewaltigung begangen habe. Es handle sich dabei jedenfalls objektiv um ein besonders schweres Verbrechen, was sich schon daran zeige, dass § 201 Abs. 2 StGB für eine solche Tat einen Strafrahmen von ein bis zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsehe. Dem entspreche auch die (näher bezeichnete) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach es sich beim Verbrechen der Vergewaltigung um eine schwere und besonders verwerfliche strafbare Handlung gegen die Sittlichkeit und die körperliche Integrität einer anderen Person handle. Von einem schweren Verbrechen sei auch bei Betrachtung des konkreten Falles auszugehen, insbesondere weil es sich beim Opfer zum Tatzeitpunkt um einen erst fünfzehnjährigen Jugendlichen gehandelt habe und mit der Tat daher eine besonders große Gefahr für dessen psychische Gesundheit und weitere Entwicklung verbunden gewesen sei, was auch das Strafgericht erschwerend berücksichtigt habe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei deshalb auch das öffentliche Interesse am Schutz der sexuellen Integrität gerade von Jugendlichen als besonders hoch zu veranschlagen.

Der Revisionswerber habe damit ein derart schweres Verbrechen begangen, das auch eine weitere von ihm ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit indiziere. Ebenso könne unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Revisionswerbers keine positive Zukunftsprognose gestellt werden, weil er die Tat trotz rechtskräftiger Verurteilung nach wie vor leugne, kein besonderes Mitgefühl für das junge Opfer seines Angriffes zeige und seit Entlassung aus der Strafhaft auch nicht besonders um Reintegration in die Gesellschaft bemüht sei. Der Revisionswerber stelle daher nach wie vor eine Gefahr für die Gemeinschaft dar. Seine abschließende Behauptung in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG, in Zukunft keine Straftaten mehr zu begehen, habe vor dem Hintergrund der konkret festgestellten Umstände nicht zu überzeugen vermocht. Insgesamt überwiege daher das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet dessen Interesse am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsort deutlich.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten lägen beim Revisionswerber somit vor. Die Aberkennung sei mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme.

Das BFA habe auch zu Recht entschieden, dass dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen sei. Es liege sowohl der Tatbestand der Z 3 als auch jener der Z 2 des § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vor, weil der Revisionswerber auf Grund des von ihm begangenen schweren Verbrechens und seiner Persönlichkeit als gemeingefährlich einzustufen sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu deren Zulässigkeit unter anderem vorgebracht wird, dass der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C 663/21 die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt habe, ob eine Rückkehrentscheidung erlassen werden könne, obwohl gleichzeitig festgestellt werde, dass eine Abschiebung wegen des Refoulementverbots auf Dauer unzulässig sei. Diese Frage, zu der noch keine gesicherte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bestehe, betreffe auch den vorliegenden Fall.

7 In dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8 Mit Beschluss vom 23. August 2022, Ra 2022/19/0102 8, hat der Verwaltungsgerichtshof das gegenständliche Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C 663/21 ausgesetzt, weil der Beantwortung der vom Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Fragen auch für die Behandlung der vorliegenden Revision Bedeutung zugekommen ist.

9 Mit Urteil vom 6. Juli 2023, C 663/21, hat der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofes entschieden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen.

10 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zur teilweisen Zurückweisung der Revision:

11 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Hat das Verwaltungsgericht wie im vorliegenden Fall im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichts die Revision für zulässig erachtet wird. Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts zwar nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß § 34 Abs. 1a VwGG aber nur im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe zu überprüfen.

12 Die Revision bringt in ihrer Zulässigkeitsbegründung in Hinblick auf die Aberkennung des Status des Asylberechtigten vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil dem Revisionswerber als Wehrdienstverweigerer bei einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung drohe. Er werde dort als Verräter angesehen, bestraft oder willkürlich inhaftiert. Man hätte dem Revisionswerber daher Asyl oder zumindest subsidiären Schutz belassen müssen.

13 Dem ist Folgendes zu entgegnen:

14 Für den Fall, dass ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 oder aus den Gründen des § 8 Abs. 3 AsylG 2005 (weil eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht) oder § 8 Abs. 6 AsylG 2005 (weil der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann) abzuweisen ist, ordnet § 8 Abs. 3a AsylG 2005 an, dass eine Abweisung auch dann zu erfolgen hat, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, weil dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt nach § 8 Abs. 3a letzter Satz AsylG 2005 sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

Gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt. Ob der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 darstellt, erfordert eine Gefährdungsprognose, wie sie in ähnlicher Weise auch in anderen asyl- und fremdenrechtlichen Vorschriften zugrunde gelegt ist (vgl. etwa § 6 Abs. 1 Z 3 und § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005; § 53 Abs. 2 und Abs. 3 FPG; § 66 Abs. 1 FPG; § 67 FPG). Dabei ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Einer Bejahung einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung steht nicht entgegen, dass er sein Verhalten nicht schuldhaft zu vertreten hat (vgl. zum Ganzen VwGH 29.9.2023, Ra 2023/19/0217, mwN).

15 Im vorliegenden Fall führte das BVwG eine fallbezogene Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 durch. Dabei bezog es mit ein, dass der Revisionswerber die Tat trotz rechtskräftiger Verurteilung nach wie vor leugne, kein besonderes Mitgefühl für das junge Opfer seines Angriffes zeige und seit Entlassung aus der Strafhaft auch nicht besonders um Reintegration in die Gesellschaft bemüht sei.

Die Revision zeigt mit ihrem allgemein gehaltenen Vorbringen nicht auf, dass diese nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffene Einschätzung des BVwG von der oben dargelegten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweichen würde, und vermag insoweit keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.

16 Soweit sich die Revision gegen die Gefährdungsprognose wendet und ausführt, das BVwG habe die bedingte Entlassung des Revisionswerbers nicht berücksichtigt, ist darauf zu verweisen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Fehlverhalten eines Fremden und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über bedingte Strafnachsichten oder eine bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug, zu beurteilen ist (vgl. VwGH 5.4.2022, Ra 2022/14/0001, mwN).

17 Hinsichtlich der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen enthält die Revision kein Vorbringen und legt damit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dar.

18 Somit werden in Bezug auf die genannten Aussprüche keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

In diesem Umfang war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.

Zur (teilweisen) Zulässigkeit und Begründetheit der Revision:

19 Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie die Rechtsansicht des BVwG in Zweifel zieht, wonach eine Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber trotz der festgestellten Unzulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Herkunftsstaat zu erlassen sei und damit auch weitere rechtlich davon abhängende Aussprüche (Frist für die freiwillige Ausreise; Einreiseverbot), die bei Wegfall der Rückkehrentscheidung ihre Grundlage verlieren, in Revision zieht.

20 Mit den diesbezüglich für die nationale Rechtslage aus dem über dieses Vorabentscheidungsersuchen mittlerweile ergangenen Urteil des EuGH vom 6. Juli 2023, C 663/21, abzuleitenden Rechtsfolgen hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 25. Juli 2023, Ra 2021/20/0246, befasst. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

21 Für das gegenständliche Verfahren folgt daraus, dass in Anbetracht des dem Unionsrecht zukommenden Vorrangs die in § 8 Abs. 3a AsylG 2005 vorgesehene Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Falle einer gleichzeitig getroffenen Feststellung, wonach die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat wegen der in dieser Norm angeführten Gefahren unzulässig sei, zu unterbleiben hat; ebenso die damit in Zusammenhang stehende Festlegung einer Frist zur freiwilligen Ausreise (vgl. dazu auch schon VwGH 12.12.2023, Ra 2022/18/0003, und VwGH 16.7.2024, Ra 2023/14/0192).

22 Gemäß § 42 Abs. 4 VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof in der Sache selbst entscheiden, wenn sie entscheidungsreif ist und die Entscheidung in der Sache selbst im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis liegt. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil auf Grund der obigen Rechtsausführungen die Rückkehrentscheidung und die Festlegung der Frist zur freiwilligen Ausreise ersatzlos zu beheben sind.

23 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und Z 6 VwGG Abstand genommen werden.

24 Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. August 2024

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