JudikaturOLG Innsbruck

4R83/25z – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
Schadenersatzrecht
08. August 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht hat durch die Senatspräsidentin des Oberlandesgerichts Dr. Prantl als Vorsitzende sowie den Richter des Oberlandesgerichts Mag. Eppacher und die Richterin des Oberlandesgerichts Mag. Ladner-Walch als weitere Mitglieder des Senats in der Rechtssache der klagenden Partei A* B* , Restaurantfachmann, vertreten durch Mag. Patrick Beichl, LL.M., Rechtsanwalt in 6800 Feldkirch, als bestellter Verfahrenshelfer, wider die beklagte Partei C* , Ärztin, vertreten durch Dr. Wolfgang Hirsch, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, wegen EUR 26.000,-- s.A. und Feststellung (Streitwert EUR 5.000,--), über die Berufung der klagenden Partei (Berufungsinteresse richtig EUR 29.333,50) und der beklagten Partei (Berufungsinteresse EUR 1.666,50) gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 23.4.2025, ** 69, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

A. Der Berufung der beklagten Partei wird keine Folge gegeben.

B. Der Berufung der klagenden Partei wird teilweise Folge gegeben und die angefochtene Entscheidung dahingehend abgeändert , dass sie einschließlich der bestätigten Teile (teilweise Maßgabebestätigung) zu lauten hat wie folgt:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen zu Handen des Klagsvertreters EUR 4.666,67 samt 4 % Zinsen seit Klagszustellung (29.11.2023) zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei zu 8,33 % für sämtliche zukünftigen, derzeit nicht bekannten, bezifferbaren oder vorhersehbaren Folgen und Schäden aus der ärztlichen Fehlbehandlung des D* B* im Zeitraum 13.1.2020 bis zum 18.1.2021 und dessen dadurch bedingten Tod haftet.

3. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere EUR 21.333,33 samt 4 % Zinsen daraus seit Klagszustellung zu zahlen sowie das weitere Feststellungsbegehren, dass die beklagte Partei zu weiteren 91,67 % für sämtliche zukünftigen, derzeit nicht bekannten, bezifferbaren oder vorhersehbaren Folgen und Schäden aus der ärztlichen Fehlbehandlung des D* B* im Zeitraum 13.1.2020 bis zum 18.1.2021 und dessen dadurch bedingten Tod zu haften habe, werden abgewiesen .

4. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei zu Handen des Beklagtenvertreters binnen 14 Tagen die mit EUR 12.429,76 (darin EUR 2.071,63 an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz zu ersetzen.

5. Die beklagte Partei ist verpflichtet, dem Bund gemäß § 70 ZPO zu 16 % für jene Barauslagen des Verfahrens erster Instanz Ersatz zu leisten, von deren Bestreitung die klagende Partei wegen der bewilligten Verfahrenshilfe einstweilen befreit ist.“

C. Die klagende Partei ist weiters schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen zu Handen des Beklagtenvertreters die mit EUR 1.725,98 saldierten Kosten des Berufungsverfahrens zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist verpflichtet, dem Bund gemäß § 70 ZPO zu 12 % für jene Barauslagen des Berufungsverfahrens Ersatz zu leisten, von deren Bestreitung die klagende Partei wegen der bewilligten Verfahrenshilfe einstweilen befreit ist.“

D. Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt insgesamt EUR 30.000,--.

E. Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Bruder des Klägers, wurde am ** tot in seiner Wohnung aufgefunden. Der Bruder des Klägers war seit Februar 2017 bis zu seinem Tod in Behandlung bei der beklagten Allgemeinmedizinerin. Darüber hinaus war er seit 2017 bis Juli 2020 in Behandlung bei einer Psychiaterin.

Der Bruder des Klägers war bereits vor Beginn der Behandlung durch die Beklagte bis zu seinem Tod heroinsüchtig. Er war außerdem bis zu seinem Tod benzodiazepinabhängig. Es lässt sich nicht feststellen, seit wann er benzodiazepinabhängig war. Der Bruder des Klägers hatte eine bipolare Störung.

Er hatte unmittelbar vor seinem Tod Heroin und das von der Beklagten verschriebene Medikament Rivotril konsumiert. In Rivotril ist das Schlaf- und Beruhigungsmittel Clonazepam, ein Benzodiazepin, enthalten.

Der Bruder des Klägers verstarb an einer Suchtgift-Medikamenten-Vergiftung durch Morphin (Stoffwechselprodukt von Heroin) und Clonazepam. Der Bruder des Klägers wäre weder bei einer alleinigen Morphinkonsumation noch bei einer alleinigen Konsumation von Clonazepam, jeweils in der von ihm unmittelbar vor seinem Tod tatsächlich konsumierten Menge, verstorben. Diese beiden Wirkstoffe verstärken sich gegenseitig, unter Umständen auch überproportional. Es lässt sich nicht feststellen, zu welchem Anteil der Tod auf Morphin oder auf Clonazepam zurückzuführen ist.

Der Bruder des Klägers hatte vor seinem Tod Rivotril in einer Dosierung konsumiert, welche die von der Beklagten verordnete Dosierung weit überschritt. Ob auch die tatsächlich von der Beklagten verschriebene Menge an Rivotril zusammen mit der vor dem Tod konsumierten Menge an Heroin zum Tod geführt hätte, lässt sich nicht feststellen.

Rivotril ist keinesfalls für die Behandlung von Patienten mit Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit zugelassen. Dieses Medikament hätte aus fachlicher Sicht an einen Suchtgiftpatienten nicht verschrieben werden dürfen. Da die Verschreibung von Rivotril nicht lege artis war, stellt sich die Frage nach einem alternativen Medikament aus medizinischer Sicht nicht. Lege artis wäre es gewesen, den Bruder des Klägers zu einer Suchtgifttherapie zu bewegen.

Sowohl die Beklagte als auch seine Psychiaterin legten dem Bruder des Klägers mehrfach eindrücklich eine Suchtgifttherapie nahe. Der Bruder des Klägers trat auch mehrfach eine Suchtentwöhnung stationär an, brach sie aber jedes mal wieder ab. Einmal wurde er aus dem stationären Entzug hinausgeworfen, weil er dort Cannabis konsumierte.

Grundsätzlich war es für sämtliche den Bruder des Klägers behandelnden Ärzte nicht einfach, da der Bruder des Klägers immer wieder Termine nicht wahrnahm, unzuverlässig war und es an der Compliance mangelte.

Der Bruder des Klägers forderte die Verschreibung von Rivotril aktiv von der Beklagten ein. Er verhielt sich in ihrer Praxis aggressiv und belästigte andere Patienten. Er zeigte sich dort in psychotischem, hypomanischen Zustand, war laut und getrieben. Die Beklagte sah keinen anderen Weg, als dem Bruder des Klägers das Rivotril zu verschreiben, das ihn dämpfte und beruhigte, da sie der Ansicht war, dass man ihn in diesem Zustand nicht belassen könne.

Der Bruder des Klägers verkaufte das von der Beklagten verschriebene Rivotril mitunter auch, um mit dem Geld Heroin zu erwerben. Das war der Beklagten auch bekannt.

Die Kommunikation zwischen der Beklagten und der Psychiaterin des Bruders des Klägers verlief über Arztbriefe. Telefonischen oder persönlichen Kontakt gab es nicht. Der Arztbrief der Psychiaterin vom 3.2.2020 an die Beklagte, den diese auch erhalten hat, enthielt folgenden Hinweis:

„Auf der Ecard schienen (sic) Rivotril auf, das würde ich dem PAt nicht geben (insgesamt 300mg im Jänner verordnet bekommen?). Ich empfehle wieder eine Einstellung auf ein Depot.

Eine Gabe von Benzodiazepinen ist kontraproduktiv.“

Die Psychiaterin hatte den Bruder des Klägers zuvor darüber aufgeklärt, dass es sich bei Rivotril um eine süchtig machende Substanz handelt. Sie hatte ihm gesagt, dass seine bipolare Erkrankung mit Convalex und Risperal behandelt werden müsse und nicht mit Rivotril.

Der Bruder des Klägers war auch von der Beklagten umfänglich über das Medikament Rivotril aufgeklärt worden. Insbesondere hatte ihn die Beklagte darüber aufgeklärt, dass Rivotril nicht zusammen mit Drogen konsumiert werden darf.

Grundsätzlich erhielt der Bruder des Klägers Rivotril im Abstand von ca 2 Wochen von der Beklagten verschrieben. Durch ein organisatorisches Problem in der Praxis der Beklagten in der Corona-Zeit kam es dazu, dass dem Bruder des Klägers am 12.10.2025, am 15.10.2020, am 19.10.2020, am 27.10.2020, am 5.11.2020 und am 12.11.2020 jeweils ein Rezept für Rivotril ausgestellt wurde. Nach dem 12.11.2020 wurde dem Bruder des Klägers erst am 18.1.2021 wieder ein Rezept für Rivotril von der Beklagten ausgestellt.

Den größten Teil dieser hohen Menge an Rivotril hat der Bruder des Klägers nicht selbst konsumiert, sondern verkauft.

Mit Beschluss vom 1.9.2017 wurde der Kläger zum Erwachsenenvertreter für seinen Bruder für finanzielle Angelegenheiten, die Vertretung vor Ämtern, Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern und für die Vertretung gegenüber privaten Geschäftspartnern bestellt. Für medizinische Angelegenheiten hatte der Bruder des Klägers keinen Erwachsenenvertreter.

Der Bruder des Klägers war aber in der Zeit vor seinem Tod einsichts- und urteilsfähig und fähig, die Tragweite seiner Entscheidungen zu überblicken.

Die Beklagte wusste, dass der Kläger zum Erwachsenenvertreter für seinen Bruder bestellt worden war.

Bereits am 5.6.2020 war der Bruder des Klägers nach einer Mischintoxikation mit Heroin und Vendal in ein Krankenhaus eingeliefert worden, er überlebte nur knapp. Dabei handelte es sich um eine versehentliche Überdosis und keinen Suizidversuch. Im Jahr 2009 hatte der Bruder des Klägers einen Suizidversuch mit Leponex unternommen.

Beim Kläger liegt ein Trauerschmerz mit Krankheitswert vor, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung, eine komplexe Traumafolgestörung und eine Anpassungsstörung. In komprimierter Form litt der Kläger nach dem Tod seines Bruders für 5,8 Tage und für 2 Stunden pro Arztbesuch und für 2 Stunden beim diagnostischen Gespräch mit dem psychiatrischen Sachverständigen an starken und 32,5 Tage an leichten psychischen Schmerzen. Darüber hinaus litt er auch an mittelstarken Schmerzen, die sich der Höhe nach jedoch nicht feststellen lassen. Die psychischen Schmerzen lassen sich abschließend einschätzen.

Diese Schmerzen sind nur zu einem Drittel auf den Tod des Bruders als Ursache zurückzuführen. Zum überwiegenden Teil, nämlich zu zwei Dritteln, sind sie auf die unabhängig vom Tod des Bruders vorliegenden psychischen Störungen und die psychische Verletzlichkeit des Klägers zurückzuführen. Spät- und/oder Dauerfolgen beim Kläger sind wahrscheinlich, die im Falle ihres Auftretens aber keinesfalls zu mehr als ein Drittel auf den Tod des Bruders zurückzuführen wären.

Zwischen dem Kläger und seinem verstorbenen Bruder bestand eine intensive Gefühlsgemeinschaft.

Von diesem Sachverhalt ist auszugehen (§ 498 Abs 1 ZPO).

Der Kläger begehrt von der Beklagten EUR 26.000,-- s.A. an Trauerschmerzengeld und Schockschaden, wobei er die zunächst vorgenommene Zuordnung von EUR 7.000,-- für Trauerschmerzengeld und EUR 19.000,-- für Schockschaden fallen ließ, sowie die Haftungsfeststellung für noch unbekannte Schäden. Die Beklagte habe dem Verstorbenen das Medikament Rivotril (Benzodiazepin) ab Februar 2017 in weit überhöhter Dosis verschrieben, obwohl sie gewusst habe, dass das Medikament bei einer Drogenerkrankung kontraindiziert sei. Durch diesen Behandlungsfehler sei es zu einer lebensgefährlichen Kombination aus Suchtgift und Medikamenten gekommen. Die Wahrscheinlichkeit des Todes sei durch das fehlerhafte Handeln der Beklagten nicht nur unwesentlich erhöht worden. Ohne die Fehlmedikation durch die Beklagte wäre der Bruder des Klägers nicht verstorben. Dass ihre Sorgfaltsverletzung mit größter Wahrscheinlichkeit für den Tod des Bruders nicht kausal gewesen sei, könne die Beklagte nicht unter Beweis stellen. Der Bruder des Klägers habe sich nicht suizidiert.

Durch den Tod seines Bruders benötige der Kläger nunmehr selbst psychiatrische Behandlung und Betreuung. Der Behandlungsvertrag zwischen dem Bruder und der Beklagten sei ein Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. Die Ansprüche würden auch auf deliktische Haftung gestützt. Die Beklagte habe eine Schutzgesetzverletzung zu vertreten, da sie Rivotril entgegen § 10 Psychotropenverordnung verschrieben habe. Die Beklagte habe auch aufgrund organisatorischer Missstände in der Corona-Zeit eine viel zu hohe Dosis an Rivotril verschrieben. Der Kläger habe Anspruch auf Trauerschmerzengeld, da er zu seinem Bruder eine innige Gefühlsbeziehung gehabt und die Beklagte grob fahrlässig gehandelt habe. Darüber hinaus habe der Kläger Anspruch auf Abgeltung seines Schockschadens. Dauer- und Spätfolgen seien nicht ausgeschlossen. Der Kläger habe keine Schadenminderungspflicht verletzt, da er nach dem Tod seines Bruders geeignete Therapien in Anspruch genommen habe.

Die Beklagte bestritt, beantragte kostenpflichtige Klagsabweisung und wendete ein, dass der Bruder des Klägers bereits von anderen Ärzten Benzodiazepine erhalten habe. Die Beklagte habe Rivotril lediglich weiter verschrieben. Dies sei aufgrund des psychotischen Zustands des Bruders des Klägers alternativlos, nämlich das geringere Übel gewesen. Sie habe den Bruder des Klägers mehrfach darüber aufgeklärt, dass er die Medikamente nicht zusammen mit Suchtgiften einnehmen dürfe. Die verschriebene Menge an Rivotril sei unproblematisch gewesen. Der Tod des Bruders sei durch den Heroinkonsum eingetreten. Der Bruder des Klägers habe seinen Tod selbst verschuldet. Es sei von einem Suizid auszugehen. Die Beklagte treffe keinerlei Verschulden am Tod des Bruders des Klägers. Grobe Fahrlässigkeit liege nicht vor. Die beim Kläger vorhandenen Schmerzen gingen nur zu einem geringen Teil auf den Tod des Bruders zurück. Das geltend gemachte Schmerzengeld sei überhöht. Der Kläger habe gegen seine Schadenminderungspflicht verstoßen, da er eine pharmakologische Behandlung seiner psychischen Leiden abgelehnt habe.

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Leistungsbegehren in Höhe von EUR 1.250,-- s.A. und dem Feststellungsbegehren zu 8,33 % statt. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren wies es ab. Dabei traf es über den eingangs wiedergegebenen unstrittigen Sachverhalt hinaus die nachfolgenden weiteren Feststellungen. Die vom Kläger bekämpften Feststellungen werden mit Ziffern, die von der Beklagten als unrichtig gerügten Feststellungen werden mit Buchstaben gekennzeichnet:

(a) und (1): Es lässt sich nicht feststellen, ob es sich beim Tod des Bruders des Klägers um eine versehentliche Überdosis oder um einen Suizid handelte.

(b): Die Verschreibung von Rivotril an den Bruder des Klägers durch die Beklagte erfolgte ohne Indikation und war nicht lege artis.

Ob dem Bruder des Klägers vor der Beklagten bereits von anderen Ärzten Benzodiazepine verordnet worden waren oder erstmals durch die Beklagte, lässt sich nicht feststellen.

(2): Hätte der Kläger eine Pharmakotherapie absolviert, hätten sich die psychischen Schmerzen reduziert. Zu wie viel Prozent sie sich reduziert hätten, lässt sich nicht feststellen.

In rechtlicher Hinsichtführte das Erstgericht aus, dass die Beklagte durch die Verschreibung von Rivotril einen Behandlungsfehler zu verantworten habe. Da der Tod des Bruders auch auf den Heroinkonsum zurückzuführen sei, lägen summierte Einwirkungen vor. Sei der Anteil – wie hier – nicht bestimmbar, sei eine Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 zu tätigen, sodass die Beklagte grundsätzlich zu 50 % hafte. Die Beklagte treffe ein Verschulden an der Fehlbehandlung, selbst wenn der Beklagten wegen des aggressiven und psychotischen Auftritts des Bruders des Klägers in ihrer Praxis nichts anderes übrig geblieben sei. Den Bruder des Klägers treffe ein Mitverschulden, da dieser einsichts- und urteilsfähig gewesen sei und vor der Medikamenteneinnahme gemeinsam mit Drogen gewarnt worden sei. Unter Einbeziehung einer Verschuldensteilung von 1 : 1 habe die Beklagte zu 25 % für den Tod des Bruders des Klägers zu haften. Der Kläger habe durch den Tod seines Bruders eine seelische Beeinträchtigung mit Krankheitswert erlitten. Die festgestellten Schmerzen gingen zu einem Drittel auf den Tod des Bruders und zu 2/3 auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers zurück. Das Schmerzengeld sei gemäß § 273 ZPO mit EUR 15.000,-- zu bemessen. Die Beklagte habe dem Kläger nur zu 8,33 % zu haften (50 % Kausalität, Verschuldensteilung 1:1 = 25 %, davon 1/3).

Gegen diese Entscheidung richten sich die rechtzeitigen Berufungen des Klägers und der Beklagten jeweils aus den Rechtsmittelgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Der Kläger strebt gänzliche Klagsstattgebung, die Beklagte vollständige Klagsabweisung an. Hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Mit ihren Berufungsbeantwortungen beantragen die Streitteile jeweils, dem Rechtsmittel der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung des Klägers ist teilweise berechtigt.

Die Berufung der Beklagten ist nicht berechtigt.

1. Zur Beweisrüge des Klägers und der Beklagten:

1.1 Anstelle der Negativfeststellung (a) bzw (1) begehrt die Beklagte die positive Feststellung, dass ein Suizid vorgelegen habe. Der Kläger begehrt die Ersatzfeststellung, wonach es sich um keinen Suizid gehandelt habe.

Richtig ist, dass der beigezogene Sachverständige eine versehentliche Überdosis für viel wahrscheinlicher als einen Suizid hielt (ON 51, S 22). Zutreffend hat das Erstgericht, auf dessen Beweiswürdigung nach § 500a ZPO verwiesen werden kann, aber auch die Angaben des Klägers miteinbezogen. Dieser gab an, dass sein Bruder in einer letzten Nachricht auf den Selbstmordversuch 2009 angespielt habe und er davon ausgehe, dass es Suizid gewesen sei (ON 34.1, S 8). Die Ausführungen des Sachverständigen, wonach Drogenabhängige versuchten, sich so tief wie möglich zu intoxikieren, sind allgemein sicher zutreffend. Welche Gedanken der Bruder des Klägers bei der Einnahme der tödlichen Medikamenten- und Suchtgiftmischung tatsächlich hatte, kann der Sachverständige naturgemäß nicht abschließend beurteilen. Da der Kläger eine innige Gefühlsbeziehung zu seinem Bruder hatte, hatte dieser auch zu einem gewissen Teil Einsicht in dessen Seelenleben. Da der Kläger von sich aus vermutete, dass ein Suizid vorgelegen habe, ist die vom Erstgericht getroffene Negativfeststellung nicht zu beanstanden.

1.2 Anstelle der Feststellungen (b) begehrt die Beklagte festzustellen wie folgt:

„Dem Bruder des Klägers wurden bereits vor der Beklagten von anderen Ärzten Benzodiazepine verordnet und er war bei Beginn der Behandlung durch die Beklagte bereits schwer benzodiazepinabhängig. Angesichts dieser Abhängigkeit war die weitere Verschreibung von Rivotril durch die Beklagte daher indiziert und lege artis.“

Aus dem Gutachten, das im Rahmen des Erwachsenenschutzverfahrens eingeholt wurde (Beilage W), ist für die Beklagte nichts zu gewinnen. Richtig ist zwar, dass laut Gutachten im Harn des Bruders des Klägers Benzodiazepine nachgewiesen werden konnten. Der Harnbefund stammt jedoch vom 19.7.2017, also aus einer Zeit, in der der Bruder des Klägers bereits mehrere Monate bei der Beklagten in Behandlung war. Richtig ist auch, dass der in diesem Verfahren beigezogene Sachverständige bestätigte, dass der Bruder des Klägers 2009 ein Benzodiazepin (Lorazepam) verabreicht erhielt (Beilage W, S 5 iVm Gutachten ON 59, S 84). Es mag sein, dass der Bruder des Klägers bei seinem stationären Aufenthalt 2009 mit Benzodiazepinen behandelt wurde. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, ob der Bruder des Klägers auch in weiterer Folge laufend Benzodiazepine verschrieben erhielt. Die vom Erstgericht getroffene Negativfeststellung ist daher nicht korrekturbedürftig.

Die weiters gewünschte Feststellung, dass die Verschreibung des Medikaments Rivotril indiziert und lege artis gewesen sei, widerspricht dem Gutachten des vom Gericht beigezogenen Sachverständigen. Dieser ließ keinen Zweifel daran, dass im konkreten Fall die Verschreibung von Benzodiazepinen gegen die Regeln der Kunst verstieß. Dies ergibt sich auch aus dem Arztbrief der Psychiaterin des Bruders des Klägers, welche die Gabe von Benzodiazepinen für kontraproduktiv hielt. Die Beweisrüge der Beklagten ist nicht begründet.

1.3 Anstelle der Feststellung (2) begehrt der Kläger festzustellen, „dass der Kläger nach dem Tod seines Bruders eine adäquate Therapie absolviert habe“ .

Richtig ist, dass der Kläger im Jahr 2021 und über den Jahreswechsel 2023/24 in einem Zentrum für psychosoziale Gesundheit stationär aufhältig war und zumindest 2023/24 Medikamente in Anspruch nahm. 2021, also direkt nach dem Tod seines Bruders verzichtete er auf Medikamente (Beilage N). Gegenüber dem gerichtlich beigezogenen Sachverständigen gab er an, dass er das 2023/24 verschriebene Medikament Trittico wieder abgesetzt habe (ON 51, S 72). Die bekämpfte Feststellung beruht auf den diesbezüglich nachvollziehbaren Ausführungen des gerichtlich beigezogenen Sachverständigen (ON 51, S 71 ff; mündliche Gutachtenserörterung ON 63.1, S 5). In rechtlicher Hinsicht geht die bekämpfte Negativfeststellung zur Schadenminderungspflicht ohne hin zu Lasten der Beklagten (siehe unten).

1.4 Auch die Beweisrüge des Klägers ist damit unbegründet. Insgesamt sind die bekämpften Feststellungen der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen.

2. Zur Rechtsrüge der Beklagten und des Klägers:

2.1 Die Beklagte macht geltend, dass das Alleinverschulden an seinem Tod den Bruder des Klägers treffe. Er sei einsichts- und urteilsfähig gewesen. Die Beklagte habe ihm mehrfach erfolglos eine Suchtgifttherapie nahegelegt und ihn über das Risiko von Rivotril und Heroin aufgeklärt. Der Bruder des Klägers sei jedoch nicht compliant gewesen. Der Bruder des Klägers habe eine weit über die verschriebene Dosis hinausgehende Menge an Rivotril zu sich genommen. 2020 wäre er bereits einmal wegen einer Mischintoxikation fast gestorben. Auch habe die Beklagte keinen anderen Weg gesehen, als dem Bruder das Medikament zu verschreiben, um ihn nicht in dem psychotischen Zustand zu belassen. Wenn die Beklagte überhaupt ein Verschulden treffe, so sei dieses angesichts des Verhaltens des Bruders des Klägers zu vernachlässigen.

Der Kläger führt ins Treffen, dass das Erstgericht bei der Kausalität und der Verschuldensteilung eine falsche Gewichtung vorgenommen habe. Die Beklagte habe seinem Bruder in voller Kenntnis der schweren Heroin- und Benzodiazepinabhängigkeit sowie der bipolaren Störung über einen längeren Zeitraum hinweg Rivotril verschrieben, obwohl keine Indikation vorgelegen habe. Damit habe die Beklagte auch gegen die Psychotropenverordnung verstoßen. Die Beklagte sei von der Psychiaterin des Bruders des Klägers ausdrücklich darüber informiert worden, dass Benzodiazepine kontraproduktiv seien. Die Prädisposition des Verstorbenen könne die Beklagte nicht entlasten. Diese müsse den Geschädigten so nehmen, wie er sei. Die Fehlbehandlung der Beklagten sei für den Schaden kausal gewesen. Verursachten der Schädiger und andere zufällige Umstände in ihrem Zusammenwirken den Schaden, sei das Verhalten des Schädigers für den gesamten Schaden kausal. Es gelte das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“. Die Beklagte habe eine Schutzgesetzverletzung zu vertreten. Der Beklagten sei grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Das Mitverschulden des Verstorbenen mit seiner eingeschränkten Steuerungsfähigkeit trete in den Hintergrund. Das Erstgericht hätte dem Kläger daher Trauerschmerzengeld (ohne Gesundheitsschädigung) und zusätzlich Schmerzengeld für den Schockschaden (mit Krankheitswert) zusprechen müssen. Der Betrag von EUR 15.000,-- sei zu knapp bemessen und hätte valorisiert werden müssen.

Dazu ist zu erwägen :

2.2 Zunächst ist die Haftungsgrundlage zu klären, um insbesondere die Beweislastverteilung beurteilen zu können. Auf eine vertragliche Haftungkann sich der Kläger nicht erfolgreich stützen. Er hatte keinen Vertrag mit der Beklagten. Ein Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter lag nicht vor, da Geschwister nach ständiger Rechtsprechung nicht in den Schutzbereich eines Behandlungsvertrags miteinbezogen werden (7 Ob 105/17t; 4 Ob 176/19i; 9 Ob 12/24s Rz 16).

Anders ist der deliktische Anspruch auf Trauerschmerzengeld und Schockschadenzu beurteilen. In den geschützten Angehörigenkreis werden Geschwister dann einbezogen, wenn sie entweder im gemeinsamen Haushalt lebten oder – wie hier – eine intensive Gefühlsgemeinschaft bestand (vgl RS0115189). Für einen Schockschaden hat ein Schädiger unter Umständen auch nicht verwandten, dritten Personen zu haften (RS0117794).

Mit dem Kläger ist auch davon auszugehen, dass der Beklagten eine Schutzgesetzverletzungim Sinn des § 1311 ABGB unterlaufen ist. Das in Rivotril enthaltene Clonazepam fällt laut Anlage 1 zur Psychotropenverordnung unter die psychotropen Stoffe. Nach § 10 Abs 1 Psychotropenverordnung dürfen Arzneimittel, die psychotrope Stoffe enthalten, nur nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft verschrieben, abgegeben oder zur Anwendung gebracht werden. Nachdem feststeht, dass die Verschreibung von Rivotril ohne Indikation erfolgte und nicht lege artis war, liegt ein Verstoß gegen § 10 Abs 1 Psychotropenverordnung vor. Diese Bestimmung hat Schutzgesetzcharakter. Zweck dieser Bestimmung ist es, Patienten vor Gesundheitsschäden zu schützen.

2.3 Ausgehend von diesen Haftungsgrundlagen ist der Kausalzusammenhang zu prüfen.

Im Fall einer deliktischen Arzthaftungkommt dem Geschädigten nach ständiger Rechtsprechung eine Beweiserleichterung zugute, und zwar auch einem Angehörigen im Zusammenhang mit Trauerschmerzengeld (vgl 4 Ob 176/19i; 1Ob36/23k). Steht ein ärztlicher Behandlungsfehler fest und ist es unzweifelhaft, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dadurch nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, kommt es für den Patienten zu einer Beweiserleichterung für das Vorliegen der Kausalität (RS0038222; RS0026768). Der Ärztin obliegt nämlich in diesen Fällen der Beweis, dass im konkreten Behandlungsfall das Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit nicht kausal für den Schaden war. Dazu muss die Ärztin darlegen, dass andere Schadensursachen wahrscheinlicher sind als die ihr unterlaufene Sorgfaltswidrigkeit (RS0022782; RS0040272; RS0026768).

Auch im Fall einer Schutzgesetzverletzungbilligt die Rechtsprechung dem Geschädigten eine Beweiserleichterung zu. Es ist kein strikter Nachweis des Kausalzusammenhangs erforderlich. Wer ein Schutzgesetz verletzt, kann sich von seiner Haftung nur dadurch befreien, dass er die Kausalität der Pflichtverletzung ernsthaft zweifelhaft macht (RS0022474 [T1]). Auf der Ebene des Verschuldens kann sich der Schädiger wiederum nur dadurch befreien, dass er den Beweis erbringt, dass ihn an der Übertretung des Schutzgesetzes kein Verschulden trifft (RS0112234 [T1]).

Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist die Kausalität des Handelns der Beklagten für den Schadenseintritt zu bejahen. Die Verschreibung von Rivotril hat die Wahrscheinlichkeit des Todes des Bruders des Klägers unzweifelhaft erheblich erhöht. Den Beweis, dass eine andere Ursache den Tod des Bruders des Klägers herbeigeführt hat, konnte die Beklagte nicht erbringen. Es steht fest, dass die alleinige Intoxikation mit Heroin nicht zum Tod geführt hätte. Die Negativfeststellung zum Suizid geht zu Lasten der Beklagten. Damit war der Behandlungsfehler der Beklagten für den Tod des Bruders des Klägers kausal.

Auch die Negativfeststellung, ob der Tod auch dann eingetreten wäre, wenn der Bruder des Klägers sich an die Dosierung gehalten hätte, schlägt nicht zu Gunsten der Beklagten aus, da bereits die Verschreibung an sich und zwar unabhängig von der Dosis, einen Behandlungsfehler darstellte.

2.4 Zutreffend hat das Erstgericht jedoch erkannt, dass der Sonderfall summierter Einwirkungenvorliegt (vgl RS0123611). Weder die Einnahme des Rivotril noch die Intoxikation mit Heroin allein hätte zum Tod des Bruders geführt. Feststeht daher, dass erst das Zusammentreffen von Heroin und Benzodiazepin zum Tod geführt hat, wobei der Anteil der beiden Substanzen am Tod nicht feststellbar war.

Die Berufung des Klägers auf das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ geht hier fehl. Dieses Prinzip kommt nur dann zur Anwendung, wenn der Schädiger und zufällige , dem Geschädigten nicht vorwerfbare, Umstände zusammentreffen. Dies war hier nicht der Fall. Feststeht nämlich, dass der Bruder des Klägers einsichts- und urteilsfähig war. Dennoch nahm er eine viel zu hohe Dosis des Medikaments Rivotril ein. Auch war er darüber aufgeklärt worden, dass er das Medikament nicht gemeinsam mit Drogen einnehmen dürfe. Im vorliegenden Fall hat der Bruder des Klägers eine Schadensursache durch vorwerfbares Verhalten gesetzt. In diesem Fall ist der Schaden nach dem Verhältnis der Ursachen zueinander zu teilen (vgl Nigl , Arzthaftung 5 [2024] Rz 20, 21).

Der Anteil der einen oder anderen Substanz am Eintritt des Todes lässt sich aufgrund der Negativfeststellung nicht bestimmen. Auch das Überwiegen der einen oder anderen Ursache steht nicht fest. Daher hat das Erstgericht zutreffend im Sinn der Ausführungen zu 1 Ob 126/21t Rz 27, 28, die Zweifelsregel der Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 auf der Kausalitätsebene zur Anwendung gebracht.

2.5 Im nächsten Schritt ist nach dem Verschuldender Beteiligten zu fragen. Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar ist (vgl RS0030644; RS0030477; RS0030438). Das Verhalten des Schädigers muss sich dabei aus der Menge der sich auch für den sorgsamsten nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als eine auffallende Sorglosigkeit herausheben (RS0030477 [T24]). Es muss sich um einen objektiv besonders schweren Sorgfaltsverstoß handeln, der bei Würdigung aller Umstände des Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RS0030272).

Dass die Beklagte am Behandlungsfehler ein Verschulden trifft, ist zu bejahen. Das Berufungsgericht verkennt nicht, dass sich die Beklagte in einem Dilemma befand, weil der Bruder Rivotril aktiv einforderte und in psychotischen Zuständen die Ordination der Beklagten aufsuchte. Dieser Druck entschuldigt die Beklagte allerdings nicht, weil für Ärzte der verschärfte Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB gilt und auch ein Umgang mit schwierigen Patienten gefunden werden muss. Nach den Regeln der medizinischen Kunst hätte die Beklagte das Medikament nicht verschreiben dürfen. Die Verschreibung verstieß gegen § 10 Abs 1 der Psychotropenverordnung. Zudem war sie von der Psychiaterin des Bruders des Klägers darauf hingewiesen worden, dass die Gabe von Benzodiazepinen kontraproduktiv sei. Die Beklagte wusste auch, dass sie es mit einem suchtkranken Patienten mit einer bipolaren Störung zu tun hatte. Sie musste damit rechnen, dass sich dieser weder an die Aufklärung noch an die Dosierung des mehrfach verschriebenen Medikaments halten werde. Bei einer Gesamtbetrachtung ist von grober Fahrlässigkeit auszugehen.

Zutreffend hat die Beklagte ein Mitverschuldendes Bruders des Klägers nach § 1304 ABGB eingewandt. Nach ständiger Rechtsprechung muss sich der hinterbliebene Kläger das Mitverschulden des Verstorbenen anrechnen lassen. Der Ersatzanspruch der Hinterbliebenen unterliegt der Schadensteilung, weil die Mitverantwortlichkeit des Angehörigen für seinen Tod in die Risikosphäre der Hinterbliebenen fällt (RS0027341 [T4, 9]; 2 Ob 30/25p).

Fest steht, dass der Bruder des Klägers einsichts- und urteilsfähig war. Für ein allfälliges Mitverschulden trifft die Beklagte die Behauptungs- und Beweislast (RS0022560). Auch auf der Ebene der Verschuldensprüfung wirkt sich die Negativfeststellung zum Suizid daher zu Lasten der Beklagten aus. Es ist von keinem vorsätzlichen Tod, sondern von einer versehentlichen Überdosierung durch den Bruder des Klägers auszugehen. Diese Sorgfaltswidrigkeit in eigenen Angelegenheiten kam ebenfalls grob fahrlässig zustande. Der Bruder des Klägers war zwar psychisch krank und suchtgiftabhängig. Dennoch war er einsichts- und urteilsfähig. Er war über die Gefährlichkeit der Mischintoxikation aufgeklärt, war erst 2020 knapp dem Tod entronnen und nahm eine viel zu hohe Dosis des Medikaments in Kombination mit Heroin ein. Die Verschuldensteilung 1 : 1 wird daher vom Berufungsgericht gebilligt. Der Kläger muss sich zusätzlich zur Zweifelsregel der summierten Einwirkungen eine Mitverschuldensquote von 50 % anrechnen lassen, womit es zu einer Haftung der Beklagten von (nur) 25 % kommt.

2.6 Wie bereits oben ausgeführt, gehört der Kläger zum geschützten Angehörigenkreis in Bezug auf den deliktischen Anspruch auf Trauerschmerzengeld. Er war der Bruder des Verstorbenen, zwischen ihnen bestand eine intensive Gefühlsgemeinschaft (RS0115189 [T4]). Die Beklagte hat grobe Fahrlässigkeit zu verantworten (RS0115189). Dem Kläger steht daher Trauerschmerzengeld zu.

Zusätzlich hat der Kläger aber auch einen Schockschaden mit Krankheitswert erlitten. An starken Schmerzen hatte er 5,8 Tage und 2 Stunden pro Arztbesuch (inklusive Sachverständigenbesuch) und 32,5 Tage an leichten psychischen Schmerzen sowie mittelstarke Schmerzen in unbestimmter Höhe zu erleiden. Fest steht, dass diese Schmerzen nur zu einem Drittel auf den Tod des Bruders zurückgehen.

Der von der Beklagten in diesem Zusammenhang erhobene Einwand der Schadenminderungspflicht schlägt nicht durch. Zwar steht fest, dass der Kläger die Schmerzen durch die Einnahme von Medikamenten reduzieren hätte können, das Ausmaß der Reduktion steht jedoch nicht fest. Diese Negativfeststellung geht zu Lasten der Beklagten, die nach allgemeinen Grundsätzen für den Einwand der Schadenminderungspflicht behauptungs- und beweisbelastet ist. Eine weitere Kürzung aus diesem Rechtsgrund ist daher nicht vorzunehmen.

2.7 Auch das Schmerzengeld wegen seelischer Schmerzen ist global zu bemessenund zwar auch dann, wenn seelische Schmerzen mit Krankheitswert mit Schmerzen wegen „bloßer“ Trauer ohne Krankheitswert zusammentreffen (8 Ob 98/20z; 2 Ob 109/19x mwN). In einem solchen Fall wirkt sich dieses Zusammentreffen erhöhend auf den Schmerzengeldanspruch aus. Gesonderte Zusprüche haben nicht zu erfolgen (vgl 8 Ob 98/20z mwN).

2.8 Zu 2 Ob 55/08i erkannte der Oberste Gerichtshof gleichaltrigen und im gemeinsamen Haushalt lebenden Geschwistern wegen des Todes der 19 jährigen Schwester je EUR 15.000,-- an Trauerschmerzengeld zu (valorisiert auf Juni 2025: EUR 23.385,--). Zu 10 R 16/20h erkannte das Oberlandesgericht Innsbruck den Geschwistern nach dem Lawinentod des 33 jährigen jüngeren Bruders, mit dem sie ein eingeschworenes Team waren und ein inniges Verhältnis hatten, EUR 15.000,-- zu (valorisiert auf Juni 2025: EUR 19.215,--). Zu 3 R 55/23t erkannte das Oberlandesgericht Graz einem neunjährigen Schüler EUR 15.000,-- an Trauerschmerzengeld nach dem Unfalltod seines 17 jährigen Halbbruders zu, wobei eine intensive emotionale Geschwisterbeziehung mit täglichem Kontakt im gemeinsamen elterlichen Haushalt bestand und der große Bruder eine Vorbildfunktion hatte (valorisiert per Juni 2025: EUR 16.035,--).

Insgesamt macht der Kläger EUR 26.000,-- an Schmerzengeld geltend. Nimmt man auf die Valorisierung Bedacht und darauf, dass der Kläger mit seinem Bruder nicht mehr im gemeinsamen Haushalt wohnte, so erscheint ein Trauerschmerzengeld von EUR 15.000,-- angemessen. Bei der Globalbemessung sind allerdings auch noch seine seelischen Schmerzen mit Krankheitswert zu berücksichtigen. Nach § 273 ZPO können diese mit EUR 11.000,-- bemessen werden. Dabei wird für die Schmerzen mittleren Grades ein Mittelwert von 15 Tagen angenommen. Das Trauerschmerzengeld (ohne Krankheitswert) steht dem Kläger im Ausmaß von 25 % zu (EUR 3.750,--). Die Kürzung um 2/3 hat nicht stattzufinden, da die Rechtsprechung Trauerschmerzengeld schematisch ohne Rücksicht auf die tatsächliche Verfassung des Hinterbliebenen zuspricht. Hinsichtlich des Schockschadens ist die Haftung von 25 % wegen der vorbestehenden Vulnerabilität des Klägers allerdings auf ein Drittel zu kürzen (EUR 916,67). Insgesamt hat der Kläger daher Anspruch auf EUR 4.666,67.

2.9 Der Berufung der Beklagten war sohin keine, der Berufung des Klägers teilweise Folge zu geben. Die Abweisung des Feststellungsmehrbegehrens war mit der Maßgabe zu bestätigen, dass es richtig „die beklagte Partei“ anstelle „die Klägerin“ heißen muss und die Haftung mit 91,67 % (anstelle von 91,66 %) abzuweisen war (siehe Spruchpunkt B.3 der Berufungsentscheidung). Der Entscheidungswille des Erstgerichts war zweifellos darauf gerichtet, das gesamte Mehrbegehren abzuweisen, wobei irrtümlich eine Ab- anstelle einer Aufrundung der Kommastelle vorgenommen wurde.

3. Zur Kostenentscheidung und Revisionszulässigkeit

3.1 Die abändernde Entscheidung in der Hauptsache zieht eine reformatorische Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster Instanz nach sich. Der Kläger war insgesamt mit ca 16 % erfolgreich. Die Anwendung des Kostenprivilegs nach § 43 Abs 2 ZPO kommt nicht zur Anwendung, da das Unterliegen auf den Grund des Anspruchs zurückgeht. Der Kläger hat Anspruch auf 16 % seiner Barauslagen. Diese wurden nicht verzeichnet, da der Kläger Verfahrenshilfe genoss. Diesbezüglich war ein Ausspruch nach § 70 ZPO aufzunehmen. Der Kläger hat der Beklagten 68 % ihrer Vertretungskosten zu ersetzen. Der Kläger hat gegen die Kostennote der Beklagten keine Einwendungen erhoben. Offensichtliche Unrichtigkeiten sind nicht erkennbar. Die Beklagte hat Anspruch auf Kostenersatz in Höhe von EUR 12.429,76, darin EUR 2.071,63 an USt.

3.2 Im Berufungsverfahren war der Kläger mit ca 12 % siegreich. Er hat Anspruch auf 12 % der Pauschalgebühr, die wegen bewilligter Verfahrenshilfe ebenfalls nicht verzeichnet wurde. Er hat der Beklagten 76 % der Kosten der Berufungsbeantwortung zu ersetzen. Dieser wurde eine unrichtige Bemessungsgrundlage (EUR 29.750,-- anstelle richtig EUR 29.333,50) zugrunde gelegt. Ein Tarifsprung ergibt sich jedoch nicht. Die Beklagte hat Anspruch auf Ersatz von EUR 2.384,97.

Der Kläger konnte die Berufung der Beklagten abwehren, er hat daher Anspruch auf Abgeltung der Kosten seiner Berufungsbeantwortung in Höhe von EUR 658,99. Der Kläger hat der Beklagten daher saldiert EUR 1.725,98 zu ersetzen.

3.3 Bei der Bewertung des Feststellungsbegehrens bestand kein Anlass, von der Bewertung des Klägers mit EUR 5.000,-- abzugehen. Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt daher insgesamt EUR 30.000,--.

3.4 Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO waren nicht zu lösen. Die Schadensteilung und Höhe des Schmerzengelds sind Fragen der Einzelfallbeurteilung. Die Voraussetzungen für die Zulassung der ordentlichen Revision liegen nicht vor.