JudikaturJustiz6Ob178/06d

6Ob178/06d – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. Oktober 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Jensik und Dr. Gitschthaler als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Alexandra F*****, geboren am 20. März 1998, *****, vertreten durch den Vater Michael F*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Dr. Delphine P*****, vertreten durch Dr. Zoe van der Let-Vangelatou, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 30. Mai 2006, GZ 44 R 63/06z-S99, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom 24. Oktober 2005, GZ 3 P 68/05s-S32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche, nach Verfahrensergänzung zu fällende Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Minderjährige ist - nach den insofern überstimmenden Angaben sämtlicher Parteien dieses Verfahrens - das uneheliche Kind des Michael F*****, eines Österreichers, und der Dr. Delphine P*****, einer Französin. Sie ist ebenfalls französische Staatsangehörige und lebt jedenfalls seit September 2004 bei ihrem Vater in W*****. Sie ist aufgrund eines Chromosomendefekts von Geburt an schwerst behindert und bezieht Pflegegeld der Stufe 7. Die Obsorge stand zunächst der Mutter zu; mit Beschluss vom 20. 6. 2005 übertrug das Erstgericht jedoch die Obsorge einstweilen auf den Vater allein und sprach aus, dass sie der Mutter (somit) einstweilen nicht mehr zukomme.

Seit 15. 3. 2005 behängt ein Obsorgeregelungsverfahren. Der Vater beantragte zunächst unter Hinweis auf eine schriftliche Zustimmungserklärung der Mutter die Betrauung beider Elternteile mit der (gemeinsamen) Obsorge, in weiterer Folge jedoch deren Entziehung gegenüber der Mutter und die Übertragung allein auf ihn. Die Mutter habe zunächst erklärt, beruflich für einen Monat in die Vereinigten Staaten von Amerika zu gehen, sei dann aber wegen eines anderen Mannes dort geblieben; sie beabsichtige nunmehr, die Minderjährige nachzuholen. Im Hinblick auf deren Behinderung und die soziale Integration in der Familie des Vaters stelle dies aber eine Gefährdung ihres Wohles dar. Sie benötige ständige Betreuung und Pflege sowie medizinische Fürsorge; all dies könne ihr die Mutter nicht geben.

Am 7. 6. 2005 sprach sich der Jugendwohlfahrtsträger nach Kontaktaufnahme mit dem Vater für die beantragte Übertragung der Obsorge aus.

Am 11. 8. 2005 wurden der Mutter (jeweils in englicher Sprache) in den Vereinigten Staaten von Amerika (unter anderem) der Obsorgeübertragungsantrag des Vaters, eine Aufforderung zur Stellungnahme dazu binnen 4 Wochen, die Äußerung des Jugendwohlfahrtsträgers vom 7. 6. 2005 und der Auftrag zur Namhaftmachung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten ebenfalls binnen 4 Wochen zugestellt, des Weiteren am 24. 9. 2005 der Beschluss über die einstweilige Übertragung der Obsorge an den Vater (ebenfalls in englischer Sprache).

Das Erstgericht entzog, nachdem sich die Mutter nicht innerhalb von 4 Wochen geäußert und auch keinen Zustellungsbevollmächtigten namhaft gemacht hatte, dieser die Obsorge und übertrug sie dem Vater allein. Es verwies auf die Stellungnahme des Jugendwohlfahrtsträgers und die Nichtteilnahme der Mutter am Verfahren und führte aus, die Übertragung der Obsorge entspreche dem Wohl der Minderjährigen; diese halte sich gemeinsam mit dem Vater in Österreich auf, wohingegen die Mutter in den Vereinigten Staaten von Amerika lebe. Diesen Beschluss hinterlegte das Erstgericht am 11. 11. 2005 gemäß § 10 ZustG im Akt. Bereits mit Schriftsatz vom 9. 11. 2005 hatte allerdings die Mutter ihre nunmehrige rechtsfreundliche Vertreterin als Zustellungsbevollmächtigte namhaft gemacht und sich gegen den Obsorgeübertragungsantrag des Vaters ausgesprochen. Es sei vereinbart gewesen, dass sich dieser während ihres beruflichen Aufenthalts in den Vereinigten Staaten von Amerika um die Minderjährige kümmere. Sie habe zu dieser ein gutes Verhältnis und auch während ihres Auslandsaufenthalts immer wieder persönlichen Kontakt gehabt. Ihr Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika sei nur von kurzer Dauer, dann werde sie wieder nach Österreich zurückkehren. Im Übrigen sehe das französische Recht eine Obsorgeübertragung gar nicht vor. Am 17. 11. 2005 stellte das Erstgericht daraufhin seinen Beschluss, mit dem es dem Vater die Obsorge für die Minderjährige endgültig übertragen hatte, der rechtsfreundlichen Vertreterin der Mutter zu, die am 1. 12. 2005 Rekurs dagegen erhob und dessen ersatzlose Behebung begehrte. Die Maßnahme des Erstgerichts sei „überschießend" und nicht notwendig; eine Gefährdung des Wohls der Minderjährigen sei nicht gegeben.

Mit Beschluss vom 14. 2. 2006 stellte das Rekursgericht den Akt dem Erstgericht zurück; der angefochtene Beschluss müsse allen Großelternteilen, die im Hinblick auf § 145 Abs 1 ABGB Parteistellung hätten, zugestellt werden.

In weiterer Folge kam es vor dem Erstgericht zu zahlreichen persönlichen Vorsprachen der beiden Elternteile sowie zu schriftlichen Stellungnahmen derselben sowie des väterlichen Großvaters und der mütterlichen Großmutter. Konkrete (weitere) Erhebungen tätigte das Erstgericht allerdings nicht. Die Mutter stellte sich dabei insbesondere auf den Standpunkt, sie sei im September 2004 damit einverstanden gewesen, dass - befristet auf ein Jahr - die gemeinsame Obsorge verfügt werde, nicht jedoch mit einer Obsorgeübertragung, für die keine Notwendigkeit bestehe und die auch nicht dem Wohl der Minderjährigen entspreche. Sie beantragte ihre persönliche Einvernahme durch das Gericht und regte eine Ladung sämtlicher Parteien an, um allenfalls eine einvernehmliche Regelung zu finden.

Diese persönliche Einvernahme fand am 21. 3. 2006 vor dem Erstgericht statt; dabei nahm die Mutter ausführlich zum Obsorgeübertragungsantrag des Vaters Stellung. Am 6. 4. 2006 brachte sie außerdem schriftlich vor, in den Vereinigten Staaten von Amerika könnte die Minderjährige eine bessere medizinische Versorgung bekommen. Sie selbst arbeite nunmehr in einem Forschungslabor in den Vereinigten Staaten von Amerika, während sie in Wien eine solche Anstellung nicht finden könnte. Am 7. 4. 2006 fand vor dem Erstgericht eine Tagsatzung statt, an der beide Elternteile teilnahmen; zu einer Einigung kam es jedoch nicht. Am 23. 5. 2006 gab die Mutter bekannt, dass sie ab 19. 6. 2006 eine neue Arbeitsstelle in den Vereinigten Staaten von Amerika gefunden habe; diese sei unbefristet.

Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss des Erstgerichts, mit dem dieses der Mutter die Obsorge entzogen und diese dem Vater allein übertragen hatte. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. In der Sache selbst vertrat das Rekursgericht die Auffassung, nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen sei der Aufenthaltsstaat des Minderjährigen unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit dafür zuständig, Schutzmaßnahmen zu treffen; dazu gehörten auch Regelungen hinsichtlich der Obsorge. Voraussetzung sei aber, dass auch nach dem Recht des Heimatstaats ein Eingriff in das konkrete Gewaltverhältnis zulässig sei. Dies sei im Hinblick auf Art 374 Code civil zu bejahen; danach könne der Familienrichter beschließen, die Bedingungen der Ausübung der elterlichen Gewalt über ein nichteheliches Kind zu ändern. Daher kenne auch das französische Recht eine Obsorgeentziehung. Da sich die Minderjährige in Österreich aufhalte, sei aber nicht französisches, sondern österreichisches Recht anzuwenden. § 176 ABGB setze eine Kindeswohlgefährdung durch die Mutter voraus; diese sei darin zu sehen, dass die Mutter nicht bereit sei, bei ihrer eigenen Lebensgestaltung die Bedürfnisse ihres behinderten Kindes ausreichend zu berücksichtigen. Zur Förderung ihrer beruflichen Karriere halte sie sich schon seit längerer Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika auf; diesen Aufenthalt wolle sie um zumindest mehrere Jahre verlängern. Das behinderte Kind habe sie beim Vater in Wien zurückgelassen. Aufgrund dieser beträchtlichen räumlichen Distanz sei sie aber nicht in der Lage, sich persönlich um die Minderjährige zu kümmern, auf deren Bedürfnisse einzugehen und zu beurteilen, welche Vertretungshandlungen im Interesse deren Wohls geboten wären. Gegen eine Betreuung durch den Vater bestünden keine Bedenken, die Behauptung der Mutter einer mangelhaften Betreuung durch den Vater habe nicht erwiesen werden können. Die Beiziehung eines kinderpsychologischen Sachverständigen sei nicht erforderlich gewesen, es sei auch kein konkretes Beweisthema ersichtlich. Dahingestellt bleiben könne, ob die in unbestimmter Zukunft in Aussicht genommene Betreuung der Minderjährigen durch die Mutter in den Vereinigten Staaten von Amerika deren Wohl entspricht; sie müsste dort in fremder Umgebung, im Bereich einer ihr fremden Sprache und ohne ihr vertraute Bezugspersonen aufwachsen und würde den Kontakt zum Vater praktisch völlig verlieren. In formeller Hinsicht vertrat das Rekursgericht noch die Auffassung, das Gehör der Mutter, das möglicherweise im Verfahren erster Instanz nicht ausreichend gewahrt gewesen war, sei im Rekursverfahren hinreichend beachtet worden. Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig; er ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Die Minderjährige ist französische Staatsangehörige, lebt aber in Österreich. Die Vorinstanzen haben unter Anwendung österreichischen Rechts der Mutter die Obsorge entzogen und dem Vater allein übertragen. Die Mutter macht in ihrem Revisionsrekurs geltend, das - ihrer Meinung nach maßgebliche - französische Recht sehe eine derartige Vorgangsweise bei unehelichen Kindern nicht vor. Der Vater meint hingegen in seiner Revisionsrekursbeantwortung, bei Ortsabwesenheit eines Elternteils sei die Übertragung der Obsorge nach französischem Recht im Regelfall sogar erwünscht.

1.2. Das Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes Minderjähriger vom 5. 10. 1961, BGBl 1975/446 (MSA), ist sowohl in Frankreich (BGBl 1963/152) als auch in Österreich in Kraft. Gemäß dessen Art 1 sind die Behörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat - vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und Art 5 Abs 3 - dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Unter den Begriff der Maßnahmen fallen unter anderem alle Eingriffe in das elterliche Obsorgeverhältnis (2 Ob 117/00w = ZfRV 2000/89 mwN; RIS-Justiz RS0047773).

1.3. Da die Minderjährige ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat (vgl RIS-Justiz RS0074198) und die zuständigen Behörden jeweils nach ihrem innerstaatlichen Recht zu entscheiden haben, ist grundsätzlich österreichisches Recht anzuwenden. Allerdings ist nach Art 3 MSA ein Gewaltverhältnis, das nach dem innerstaatlichen Recht des Staates, dem der Minderjährige angehört, kraft Gesetzes besteht, in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. Ob ein Gewaltverhältnis besteht, ist nach den Sachnormen des Heimatrechts zu beurteilen (Mottl, Zulässigkeit und Umfang einer Besuchsrechtserweiterung nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen, IPRax 1993, 417; 2 Ob 117/00w uva).

Nach dem hier maßgeblichen französischen Recht üben die Eltern die elterliche Sorge auch für ein nicht ehelich geborenes Kind gemeinsam aus (Art 372 Abs 1 Code civil idF des Gesetzes Nr 2002-305 vom 4. 3. 2002); nach Art 373-2 leg cit berührt die Trennung der Eltern die Zuteilungsregelungen für die Ausübung der elterlichen Sorge nicht (zur primär gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge auch nach Trennung der Eltern vgl Chaussade-Klein/Henrich in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht³, Länderteil Frankreich [Stand 1. 12. 2005] 33). Nach den übereinstimmenden Angaben der Parteien dieses Verfahrens kam die elterliche Sorge für die Minderjährige bis zur Provisorialentscheidung des Erstgerichts vom 20. 6. 2005 allerdings der Mutter allein zu. Dabei handelte es sich um ein Gewaltverhältnis im Sinne des Art 3 MSA.

Ein derartiges Gewaltverhältnis schließt die Zuständigkeit der Aufenthaltsbehörde nicht aus, setzt aber - abgesehen von der Not- bzw Eilzuständigkeit der Art 8 und 9 MSA - voraus, dass das Heimatrecht selbst Eingriffe gestattet (2 Ob 117/00w mwN). Dies ist hier der Fall, besteht doch gemäß Art 373-2-1 Abs 1 Code civil idF des Gesetzes Nr 2002-305 vom 4. 3. 2002 für das Gericht die Möglichkeit der Übertragung der Ausübung der elterlichen Sorge auf einen Elternteil. Die Auffassung der Mutter im Revisionsrekurs, das französische Recht sehe eine Entziehung der elterlichen Sorge gegenüber der Mutter eines ehelichen Kindes und deren Übertragung auf den leiblichen Vater grundsätzlich nicht vor, ist somit verfehlt.

1.4. Zulässigkeit und Umfang des Eingriffs in ein Gewaltverhältnis sind nicht nach österreichischem, sondern nach dem (hier: französischen) Heimatrecht des Kindes zu beurteilen (RIS-Justiz RS0074276). Deshalb ist zu beachten, dass gemäß Art 373-2-1 Abs 1 leg cit eine Übertragung der Ausübung der elterlichen Sorge auf einen Elternteil nur zulässig ist, „falls das Kindeswohl es erfordert". Gemäß Art 373-2-11 leg cit hat das Gericht, wenn es über die Modalitäten der Ausübung der elterlichen Sorge entscheidet, unter anderem die Vorgehensweise zu berücksichtigen, die die Eltern vorher praktiziert hatten, oder die Vereinbarungen, die sie vorher hatten treffen können (Z 1).

Dies entspricht der österreichischen Rechtslage. Nach § 176 Abs 1 ABGB setzt eine Obsorgeübertragung eine Kindeswohlgefährdung voraus. Bei der Berücksichtigung des Kindeswohls (§ 178a ABGB) ist unter anderem auf Erziehungskontinuität zu achten; Pflegeplatzwechsel sind möglichst hintan zu halten (RIS-Justiz RS0047903).

2. Die Mutter meint im Revisionsrekurs, die Vorinstanzen hätten abwägen müssen, ob es nicht im Sinne des Kindeswohls zweckmäßiger wäre, die grundsätzlich vom französischen Gesetzgeber - aber auch von den konkreten Eltern - zunächst gewünschte gemeinsame Obsorge zu statuieren. Sie verkennt damit, dass - wie erläutert - die Vorinstanzen nicht französisches, sondern österreichisches Recht anzuwenden hatten. Die gemeinsame Obsorge nach § 177 Abs 1 ABGB setzt aber nach den klaren Anordnungen des Gesetzes in den §§ 177, 177a ABGB stets eine entsprechende Vereinbarung der Eltern voraus; sie kann nicht auf Antrag eines Elternteils gegen den Widerstand des anderen gerichtlich angeordnet werden (1 Ob 118/02p = EFSlg 100.340). Ein derartiger übereinstimmender Wille - und schon gar nicht ein derartiger Antrag - besteht im vorliegenden Verfahren nicht.

3. Weiters führt der Revisionsrekurs aus, das Wohl der Minderjährigen sei gar nicht gefährdet; der Vater wolle rein aus praktischen Gründen die Obsorge übertragen erhalten und die Mutter von jeder Möglichkeit der Einflussnahme abschneiden. Vielmehr verwehre sich der Vater unberechtigterweise gegen medizinisch notwendige Behandlungen der Minderjährigen und gefährde dadurch selbst deren Wohl. Der Vater hält dem in seiner Revisionsrekursbeantwortung entgegen, die Mutter habe „die Familie mit einem neuen Lebensgefährten verlassen und das Kind im Stich gelassen".

3.1. Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, welchem Elternteil bei Gegenüberstellung der Persönlichkeit, der Eigenschaften und der Lebensumstände die Obsorge für das Kind übertragen werden soll, ist an sich ebenso eine solche des Einzelfalls (RIS-Justiz RS0007101) wie die Entscheidung, ob im konkreten Fall eine Kindeswohlgefährdung gegeben ist; es darf nur keine Verletzung der leitenden Grundsätze der Rechtsprechung durch die Vorinstanzen erfolgt sein (7 Ob 184/04s; 7 Ob 22/06w); weiters muss auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen worden sein (RIS-Justiz RS0115719).

3.2. Das Rekursgericht hat sich in seiner Begründung zwar auf den Grundsatz der Berücksichtigung des Kindeswohls und die Erziehungskontinuität berufen und auch ausgeführt, die Behauptung einer mangelhaften Betreuung der Minderjährigen durch den Vater habe sich nicht beweisen lassen. Es hat allerdings übersehen, dass es diese Aussagen praktisch ohne irgendein Tatsachensubstrat getätigt hat:

Einziges Erhebungsergebnis im vorliegenden Verfahren ist der Bericht des Jugendwohlfahrtsträgers vom 7. 6. 2005, der allerdings seinerseits lediglich auf einem Gespräch der Sozialarbeiterin mit dem Vater selbst basiert; er war im Übrigen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rekursgerichts rund ein Jahr alt.

Die Eltern der Minderjährigen erschienen zwar persönlich bei Gericht und wurden dort auch einvernommen; dies erfolgte jedoch beim Erstgericht. Damit konnte das Rekursgericht auch keine Entscheidungsgrundlagen aus etwaigen persönlichen Eindrücken der Beteiligten gewinnen.

Der Gesundheitszustand und die Betreuungsnotwendigkeiten der Minderjährigen ergeben sich aus dem im Verfahren erster Instanz vorgelegten Urteil des ASG Wien vom 1. 9. 2005; es fehlen aber Feststellungen einerseits zur Frage, wie diese Betreuung derzeit und in den letzten Jahren vom Vater gestaltet wird bzw wurde, und andererseits zur Frage, wie die Mutter diese Betreuung gestalten will, sollte ihr die Obsorge (wieder) zukommen. Wie das Rekursgericht zur „Feststellung", die Betreuung durch den Vater sei nicht mangelhaft, gelangt ist, lässt sich nicht nachvollziehen; es verweist dabei lediglich auf die persönliche Einvernahme der Eltern durch das Erstgericht; dabei seien „die diesbezüglichen Vorwürfe [der Mutter und der mütterlichen Großmutter] nicht erwiesen" worden. Abgesehen davon, dass das Rekursgericht keinerlei Beweiswürdigung vorgenommen hat, sodass seine Überlegungen nicht nachvollziehbar sind, hat es mit dieser Vorgangsweise auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßen, der nunmehr im Verfahren außer Streitsachen (§ 52 Abs 2 AußStrG) ausdrücklich auch für das Rekursgericht angeordnet ist. Den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, ob die Mutter - bei einem Obsiegen in diesem Obsorgerechtsstreit - nun tatsächlich beabsichtigt, die Minderjährige in die Vereinigten Staaten von Amerika mitzunehmen, oder ob sie die Minderjährigen jedenfalls beim Vater in Wien belassen will. Danach muss sich aber - unter anderem - die Beurteilung des Wohls der Minderjährigen richten. Für den Fall eines geplanten Umzugs müssen die Tatsacheninstanzen jedenfalls konkrete Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung treffen, die allenfalls in einer Übersiedlung in eine andere Stadt oder in ein anderes Land liegen könnte, insbesondere aber über die konkreten Lebensumstände, die das Kind dort erwarten (10 Ob 25/00z). Dies muss umso mehr bei einem Kind gelten, das so schwer behindert ist wie die Minderjährige. Den Ausführungen des Rekursgerichts, eine Betreuung der Minderjährigen in den Vereinigten Staaten von Amerika widerspreche - offensichtlich jedenfalls - dem Wohl der Minderjährigen, weil sie dort in fremder Umgebung, im Bereich einer ihm fremden Sprache und ohne ihm vertraute Bezugspersonen aufwachsen und den Kontakt zum Vater so gut wie völlig verlieren würde, entbehrt es somit an jeglichem Tatsachensubstrat.

3.3. Die Mutter rügt im Revisionsrekurs schließlich die Nichtbeiziehung eines kinderpsychologischen Sachverständigen. Das Rekursgericht hat einen derartigen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens bereits mit der Begründung verneint, es sei nicht ersichtlich, zu welchem konkreten Beweisthema ein Sachverständigengutachten hätte eingeholt werden sollen. An sich kann ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens keinen Revisionsrekursgrund bilden (RIS-Justiz RS0050037); auch die Prüfung, ob zur Gewinnung der erforderlichen Feststellungen noch weitere Beweise notwendig sind, ist an sich ein Akt der Beweiswürdigung und damit vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbar (RIS-Justiz RS0043414). Diese Grundsätze gelten aber nicht, wenn sie den Interessen des Pflegebefohlenen, insbesondere seinem Wohl, widersprechen (1 Ob 2292/96g = EFSlg 82.863; 9 Ob 71/01h ua); dies ist jedenfalls in Obsorge- und Besuchsrechtsverfahren zu berücksichtigen (4 Ob 135/05i).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Eltern nehmen zwischenzeitig offensichtlich unversöhnliche Standpunkte ein und werfen jeweils dem anderen Versagen in der Betreuung der Minderjährigen vor. Auch die Großeltern haben sich jeweils dem „Lager" des eigenen Kindes hinzugeschlagen. Sie versuchen zwar in weitwändigen Schriftsätzen darzulegen, weshalb gerade ihr eigenes Kind das Wohl ihres Enkelkinds mehr fördert und der jeweils andere Elternteil dieses gefährdet. Tatsächliche Entscheidungsgrundlagen lassen sich aus diesen Schriftsätzen aber nur schwerlich gewinnen. Die Stellungnahme des Jugendwohlfahrtsträgers ist - zumindest bislang - praktisch inhaltsleer. Damit erscheint aber die Beiziehung eines kinderpsychologischen Sachverständigen durchaus notwendig, um entsprechende Feststellungen treffen zu können, die eine sachgerechte und das Wohl der Minderjährigen befördernde Obsorgeentscheidung zulassen.

Das Rekursgericht hat unter anderem darauf hingewiesen, dass die Mutter dem Auftrag des Erstgerichts, binnen 4 Wochen zum Obsorgeübertragungsantrag des Vaters Stellung zu nehmen und einen Zustellungsbevollmächtigten gemäß § 10 ZustG namhaft zu machen, nicht fristgerecht nachgekommen ist. Allerdings kann es auch ein derartiger Verstoß gegen formelle Bestimmungen nicht rechtfertigen, sich (allenfalls) über das Kindeswohl hinwegzusetzen.

4. Damit waren die angefochtenen Entscheidungen aufzuheben. Das Erstgericht hat bislang keine Beweise aufgenommen; dies lässt es als zweckmäßig erscheinen, dem Erst- und nicht dem Rekursgericht die Verfahrensergänzung aufzutragen (vgl § 57 Z 5 AußStrG). Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass den Großeltern der Minderjährigen - entgegen der vom Rekursgericht vertretenen Auffassung - Parteistellung in diesem Obsorgeverfahren nicht zukommt. Das Rekursgericht hat seine diesbezügliche Auffassung mit § 145 Abs 1 ABGB begründet und auf eigene Vorjudikatur verwiesen. Nach § 145 Abs 1 Satz 2 ABGB idF des KindRÄG 2001 hat das Gericht unter Beachtung des Kindeswohls zu entscheiden, ob der andere Elternteil oder ob und welches Großelternpaar (Großelternteil) oder Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) mit der Obsorge zu betrauen ist, wenn dem Elternteil, der mit der Obsorge allein betraut ist, diese ganz oder teilweise entzogen wird. Verschraegen (in Schwimann, ABGB³ [2005] § 145 Rz 19) lehrt dazu, bei bisheriger alleiniger Betrauung des einen Elternteils sei der andere zu hören, wenn darüber zu entscheiden ist, ob dieser oder ein Dritter mit der Obsorge zu betrauen wäre. Das entspricht auch der Rechtsprechung zweitinstanzlicher Gerichte (etwa LGZ Wien EFSlg 86.843; LG Krems EFSlg 96.459). Da nach herrschender Auffassung (vgl etwa 7 Ob 629/93 = JBl 1994, 608 ua; Schwimann in Schwimann, ABGB² [1997] § 145 Rz 5; Verschraegen, aaO Rz 8; Hopf in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB [2005] § 145 Rz 2) bei Ausfall des bisher allein mit der Obsorge betrauten Elternteils dem anderen Elternteil gegenüber den Großeltern oder Dritten der Vorrang zukommt (zum außerehelichen Vater vgl 7 Ob 31/02p = EvBl 2002/129), bestehen gegen diese zweitinstanzliche Rechtsprechung keine Bedenken.

Das im vorliegenden Verfahren als Rekursgericht tätige LGZ Wien geht allerdings - offensichtlich grundsätzlich - davon aus, dass in einem Verfahren, in dem dem bisher mit der Obsorge betrauten Elternteilen diese entzogen werden soll, sämtlichen Großelternteilen Beteiligtenstellung und somit auch Rekurslegitimation zukommt (EFSlg 92.891, 100.187, 104.206, 107.703). Dies lässt sich aber jedenfalls für ein Verfahren nicht sagen, in dem die Frage der Obsorge zwischen den beiden Elternteilen strittig ist. Im Hinblick auf die Vorrangstellung des anderen Elternteils kommt den Großeltern keine eigene Verfahrensstellung zu; sie könnten lediglich angehört werden. Erst wenn sich herausstellen sollte, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden müsste, käme eine Parteienstellung der Großeltern in Betracht. Dies ist hier aber nicht der Fall.

Im Hinblick auf diese Rechtslage hat der erkennende Senat daher auch dem Vater die Beantwortung des Revisionsrekurses der Mutter freigestellt, die Großeltern aber lediglich zweck (allfälliger) Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage zu einer Stellungnahme zum Revisionsrekurs eingeladen.

5. Lediglich der Vollständigkeit halber ist noch zu ergänzen: Das Rekursgericht hat ausgeführt, § 176 ABGB setze eine Kindeswohlgefährdung durch die Mutter voraus; diese sei darin zu sehen, dass die Mutter nicht bereit sei, bei ihrer eigenen Lebensgestaltung die Bedürfnisse ihres behinderten Kindes ausreichend zu berücksichtigen; zur Förderung ihrer beruflichen Karriere halte sie sich schon seit längerer Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika auf; diesen Aufenthalt wolle sie um zumindest mehrere Jahre verlängern; das behinderte Kind habe sie beim Vater in Wien zurückgelassen.

Sollten diese Ausführungen dahin zu verstehen sein, dass der Mutter - und zwar gerade als Frau und Mutter - insofern der Vorwurf gemacht wird, dass sie sich nicht um die Minderjährige gekümmert habe und nach wie vor nicht bereit sei, ihre eigene Lebensgestaltung den Bedürfnissen ihres behinderten Kindes anzupassen, sondern ihre berufliche Karriere vorangetrieben hat, entspräche dies einer überholten patriarchalischen Einstellung. Es gibt nach heute herrschendem gesellschaftspolitischem Konsens keinen „Vorrang" des Mannes und Vaters mehr, Karriere zu machen, bzw der Frau und Mutter, sich um ein (noch dazu behindertes) Kind zu kümmern. Gerade dies praktizieren die Eltern im vorliegenden Fall ja auch. Im Übrigen wäre diese Auffassung auch rechtlich verfehlt. Eine Obsorgeentscheidung kann niemals Belohnung oder Bestrafung für ein Verhalten der Eltern sein; maßgeblich ist stets das Kindeswohl.

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