Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. in Oswald und den Hofrat Mag. Schartner, als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des S A, vertreten durch Rast Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 2022, W184 1314331 4/10E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein kosovarischer Staatsangehöriger, wurde im Jahr 2001 in Österreich geboren und hält sich seitdem durchgehend im Bundesgebiet auf. Nach erfolglos gebliebenen Asyl(erstreckungs)verfahren, verfügte er im Hinblick auf den rechtskräftigen Ausspruch des Asylgerichtshofs im Erkenntnis vom 29. November 2013, dass eine Ausweisung auf Dauer unzulässig sei ab Dezember 2014 über den Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“, seit Dezember 2018 über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. Er beherrscht die deutsche Sprache, ging in Österreich in die Schule und begann eine Lehre, die er jedoch nicht abschloss. Im Bundesgebiet leben die Eltern und mehrere Geschwister des Revisionswerbers, im Kosovo verfügt er über keine familiären Bindungen.
2Der Revisionswerber wurde in Österreich im Zeitraum von 2016 bis 2020 mehrfach als Jugendlicher und junger Erwachsener straffällig und dafür insgesamt sechs Mal (davon einmal zu einer Zusatzstrafe) rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt. Nach zwei Verurteilungen Ende 2016 zu jeweils bedingten Freiheitsstrafen von wenigen Monaten, wurde der Revisionswerber als Jugendlicher mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien am 24. März 2017 wegen Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 1 StGB, versuchten Diebstahles nach §§ 15, 127 StGB und schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Ferner wurden die mit den Urteilen vom 18. November 2016 und 30. Dezember 2016 gewährten bedingten Strafnachsichten von insgesamt sieben Monaten widerrufen.
3Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. November 2020 wurde der Revisionswerber dann als junger Erwachsener wegen Einbruchsdiebstahls nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB sowie wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 17 Monaten verurteilt.
4Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 30. Dezember 2020 wurde der Revisionswerber als junger Erwachsener wegen (teilweise) versuchter Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 15 StGB, Diebstahls nach § 127 StGB, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 1 StGB, betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs nach § 148a Abs. 1 StGB und gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil vom 23. November 2020 zu einer Zusatzstrafe von vier Monaten verurteilt.
5Mit Bezug auf seine Straffälligkeit erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) daraufhin mit Bescheid vom 10. Dezember 2021 gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in den Kosovo zulässig sei, erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot und bestimmte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.
6Zuletzt wurde der Revisionswerber mit Urteil des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 20. Jänner 2022 als junger Erwachsener wegen Betrugs nach § 146 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
7Die gegen den Bescheid des BFA vom 10. Dezember 2021 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. September 2022 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Unter einem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 Über die dagegen erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
9Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
10 In der Revision wird nämlich zutreffend aufgezeigt, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht hinreichend darauf Bedacht genommen hat, dass der Revisionswerber in Österreich geboren und aufgewachsen sowie hier langjährig rechtmäßig niedergelassen gewesen ist, weshalb der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG erfüllt ist.
11 Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung überhaupt nicht erlassen werden dürfe, wenn er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFAVG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu ausführlich etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, wo u.a. auch auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde, und daran anschließend etwa VwGH 5.4.2022, Ra 2021/21/0316, Rn. 14, jeweils mwN).
12 Zwar ging das BVwG zutreffend davon aus, der Aufenthalt des in Österreich geborenen und hier aufgewachsenen Revisionswerbers sei aufgrund der Erteilung von Aufenthaltstiteln (erst) ab dem Jahr 2014 rechtmäßig gewesen. Dies steht jedoch fallbezogen auch unter Berücksichtigung der bereits mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 29. November 2013 festgestellten dauerhaften Unzulässigkeit einer Ausweisung der Annahme eines langjährigen rechtmäßigen Niederlassung nicht entgegen, zumal es überdies keiner ins Detail gehenden vom BVwG im Übrigen auch nicht vorgenommenen Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Heranziehung der Wertungen des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFAVG bedarf (vgl. etwa VwGH 22.2.2024, Ra 2022/21/0003, Rn. 14, mwN).
13Mit der demnach vorliegend maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG in Verkennung der Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Das ist zwar bei Begehung des Verbrechens des schweren Raubs nicht auszuschließen, hätte aber eine eingehendere Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles, der insbesondere durch das junge Alter des Revisionswerbers gekennzeichnet ist, und der Bewertung dieser Umstände unter dem genannten Gesichtspunkt erfordert. Es wurden nämlich sämtliche Straftaten vom Revisionswerber als Jugendlicher bzw. junger Erwachsener begangen und der der Verurteilung wegen schweren Raubs zugrunde liegende Tatzeitraum (Jänner 2017) lag im Entscheidungszeitpunkt bereits mehrere Jahre zurück. Zwar trifft der Vorwurf des BVwG, der Revisionswerber sei trotz Verspürens des Haftübels wieder rückfällig geworden zu, allerdings wäre auch zu beachten gewesen, dass die letzte, im April 2021 vom Revisionswerber begangene, nur bezirksgerichtlich strafbare Tat kein Gewaltdelikt betraf und nicht ohne Weiteres geeignet ist, daraus eine Fortsetzung des zuvor gezeigten Gewalt- und Aggressionspotentials abzuleiten (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation VwGH 30.11.2023, Ra 2022/21/0133). Abgesehen davon ging das BVwG im angefochtenen Erkenntnis vom Vorliegen von sechs strafgerichtlichen Verurteilungen aus, obwohl in einem Fall lediglich eine Zusatzstrafe zu einer Vorverurteilung verhängt worden war, die als Einheit zu werten gewesen wären (vgl. etwa VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, Rn. 16, mwN).
14Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
15 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
16Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Jänner 2025