JudikaturBVwG

L507 2270051-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
16. Oktober 2024

Spruch

1.) L507 2270049-1/42E

2.) L507 2270051-1/7E

3.) L507 2270044-1/7E

4.) L507 2270047-1/7E

5.) L507 2270046-1/5E

6.) L507 2270042-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerden des 1.) XXXX , geb. XXXX , der 2.) XXXX , geb. XXXX , des 3.) XXXX , geb. XXXX , des 4.) XXXX , geb. XXXX , des 5.) XXXX , geb. XXXX und des 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Türkei, alle vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.03.2023, Zlen.: XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.06.2023, 23.08.2023 und 20.03.2024 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, Staatsangehörige der Türkei, stellten am 16.09.2022 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden am 16.09.2022 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Im Rahmen dieser Befragung führte der Erstbeschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen zusammengefasst aus, dass er als Kurde in der Türkei keine Zukunft habe. Sie hätten keine Rechte und keine Arbeit. Er wolle in Europa eine neue Zukunft für seine Familie aufbauen. Er habe noch offene Dienstzeiten beim Militär in der Türkei und wolle nicht einrücken und gegen sein eigenes Volk kämpfen. Er wolle nicht in die Türkei zurückkehren und habe Angst vor dem Gefängnis, weil der den Militärdienst noch nicht geleistet habe. Er fürchte auch Armut.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte im Wesentlichen vor, dass in der Türkei jetzt eine Wirtschaftskrise herrsche und sie ihren Kindern nichts bieten könne. Die Kinder sollen in Österreich in die Schule gehen und wolle sie hier in Österreich bleiben. Sie habe Angst vor Armut.

Im Hinblick auf die Anträge auf internationalen Schutz der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer führte die Zweitbeschwerdeführerin aus, dass diese keine eigenen Fluchtgründe hätten.

2. Am 11.11.2022 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu ihren bereits in Slowenien und Deutschland gestellten Anträge auf internationalen Schutz befragt.

Am 15.02.2023 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem (BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei führte der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass er weiterhin Zugang zu seinem Konto habe und er sich bei der Partei DBP als Mitglied eingetragen habe. Die HDP werde es nicht mehr lange geben, weshalb er sich für die DBP entschieden habe. Er sei HDP-Mitglied, aber mit dem ausgefüllten Mitgliedsformular der DBP sei er kein offizielles Mitglied der HDP mehr.

Eine Woche nach dem Putsch in der Türkei sei er ausgereist und habe in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Er sei Kurde und habe keinen Militärdienst geleistet. Sie würden unterdrückt werden und hätten sie sich politisch engagiert. Er sei Fahnenflüchtiger und wolle seinen Militärdienst nicht leisten. Sie würden in einem konzentrierten kurdischen Gebiet leben und ständig von den türkischen Sicherheitsbehörden kontrolliert und schikaniert werden. Sie dürften in manchen Gebieten ihre Muttersprache nicht sprechen und habe er sich deshalb auch nicht getraut, an die Universität zu gehen. Die türkische Bevölkerung sowie die Sicherheitskräfte seien rassistisch und hätten gegenüber den Kurden keine Toleranz. Seine Heimat befinde sich im Südosten der Türkei. Dort würden die Sicherheitskräfte die Menschen Tag und Nacht beobachten. Es habe sich auch nach dem aktuellen Erdbeben gezeigt, dass die türkische Regierung die notwendige Hilfe nicht rechtzeitig geleistet habe, weil das Erdbeben die kurdischen Städte betroffen habe. Es seien deshalb unzählige Menschen unter den Trümmern ums Leben gekommen. Es gebe im Internet sehr viele rassistische Postings, die von den Türken gemacht worden seien. Laut denen hätten die Kurden am besten alle sterben sollen. Er sei deswegen nicht zum Militär gegangen, weil die Kurden an der syrischen oder irakischen Grenze eingesetzt werden würden. Dort fänden ununterbrochen Kämpfe statt und würden Menschen sterben. Der Staat bezwecke damit Kurden gegen Kurden einzusetzen, um sie zu reduzieren. Im Jahr 2016 seien ihre Häuser zerstört worden. Es habe die Aktion mit dem Grabenbau gegeben. Sie hätten ein Eigentumshaus gehabt. Der Staat habe mit den Flugzeugen die Gebiete bombardiert und dabei ihr Haus zerstört. Es sei behauptet worden, dass es in diesen Gebieten Terroristen gegeben habe. Deswegen seien sie nach Istanbul geflüchtet. Derzeit würden die Dörfer von XXXX von den Sicherheitskräften deportiert werden, weil sich der Staat auf einen großen Krieg in Syrien vorbereite. Ungefähr zwei- bis dreimal vor seiner Ausreise sei er von der Polizei bei Kontrollen festgenommen worden. Er habe unterschreiben müssen, dass er sich innerhalb von zehn Tagen bei der Militärbehörde melde. Er sei Mitglied der kurdischen Partei und habe eine Bestätigung einer Festnahem erhalten. Zur Zweitbeschwerdeführerin führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass seine Antragsgründe auch für sie gelten würden und die Zweitbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe habe.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte zusammengefasst vor, dass sie sich auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers beziehe und sie keine eigenen Fluchtgründe habe. Die Umstände würden aber die gesamte Familie beeinflussen. Bedingt durch die Lage, wo sie gelebt hätten, gebe es starke Sicherheitskontrollen und Unterdrückung der Kurden. In der Familie des Erstbeschwerdeführers sei es so, dass die Männer den Wehrdienst nicht leisten würden. Zu den Dritt- bis Sechstbeschwerdeführern gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass diese keine eigenen Fluchtgründe hätten.

3. Mit Bescheiden des BFA vom 10.03.2023, Zlen.: XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , die die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde ihnen der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkte II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurden gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkte V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkte VI.).

Beweiswürdigend wurde vom BFA zusammenfassend ausgeführt, dass die Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft vorgebracht hätten. Weiters wurde festgestellt, dass den Beschwerdeführern auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 57 AsylG nicht vorliegen.

4. Diese Bescheide wurden dem Erstbeschwerdeführer am 15.03.2023 bzw. der Zweitbeschwerdeführerin am 16.03.2023, zugestellt, wogegen mit Schreiben vom 06.04.2023 fristgerecht Beschwerden erhoben wurden. Darin wurde darauf hingewiesen, dass der Erstbeschwerdeführer aktives Mitglied der HDP sei und in seinem Heimatort XXXX aus diesem Grund Probleme mit den staatlichen Behörden bekommen habe. Der Erstbeschwerdeführer habe auch ein neues Beweismittel erhalten. Es handle sich dabei um ein Verhandlungsprotokoll aus dem hervorgehe, dass am 13.02.2023 eine Verhandlung, zu welcher der Erstbeschwerdeführer nicht erschienen sei, stattgefunden habe. Im Weiteren wurde die Übersetzung des vorgelegten Beweismittels in die deutsche Sprache beantragt. Im Falle der Rückkehr wäre der Erstbeschwerdeführer der realen Gefahr ausgesetzt, als HDP Sympathisant von türkisch-nationalistischen Gruppierungen sowie vom türkischen Staat verfolgt zu werden. Die türkische Regierung sei hinsichtlich dieser Gefährdung nicht schutzfähig und schutzwillig bzw. gehe selbst gegen Sympathisanten und Mitglieder der HDP vor. Es bestehe daher keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Erstbeschwerdeführer. Die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer seien aufgrund der Familienangehörigkeit ebenso der realen Gefahr ausgesetzt, aus denselben Gründen verfolgt zu werden. Die Beschwerdeführer würden auch der Volksgruppe der Kurden angehören und daher typische Diskriminierungen befürchten. Aufgrund der Parteimitgliedschaft sei der Erstbeschwerdeführer als Kurde besonders gefährdet, beschuldigt zu werden, die PKK zu unterstützen, inhaftiert oder dort menschenunwürdiger Behandlung ausgesetzt zu sein. Der Erstbeschwerdeführer werde wegen Fahnenflucht nachweislich gesucht und habe diesbezüglich Nachrichten von E-Devlet vorgelegt. Zahlreiche einschlägige Länderberichte würden bestätigen, dass es in der Türkei zu willkürlichen Verhaftungen und willkürlichen, staatlich nicht sanktionierten Übergriffen gegen politische Gegner des türkischen Regimes komme. Dem Erstbeschwerdeführer würde im Falle einer Rückkehr in die Türkei eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden. Die Wehrdienstverweigerung sei ein offensichtliches Anzeichen einer oppositionellen Gesinnung und würde er in Haft kommen bzw. müsse er mit weiteren Sanktionen und Folter rechnen. Moniert wurde im Weiteren, dass nicht alle vorgelegten Beweismittel zur Mitgliedschaft bei der HDP berücksichtigt worden seien und der Erstbeschwerdeführer auch zur Mitgliedschaft bei der DBP nur unzureichend befragt worden sei. Die Entscheidung des BFA mache den Eindruck, dass wichtige Umstände nicht ermittelt und ein Abgleich mit einschlägigen Länderberichten nicht vorgenommen worden sei. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, dass der Erstbeschwerdeführer in der Türkei bereits ins Visier der Behörden geraten sei, wie es aus den vorgelegten Beweismitteln hervorgehe. Das BFA habe sich mit jedem Beweismittel auseinanderzusetzen (VwGH 14.11.2007, 2005/20/0473). Das Ermittlungsverfahren sei an sich mangelhaft und führe zu einer fehlerhaften Entscheidung. Der Erstbeschwerdeführer sei nicht ausreichend zur Situation in der Türkei, zur Flucht nach Deutschland sowie zu seinen politischen Aktivitäten befragt worden. Bezüglich der Rückkehr in die Türkei sei nicht beachtet worden, dass es in der Türkei tatsächlich keine Rechtssicherheit gebe und Grundrechte nicht beachtet werden würden. Auch hinsichtlich der Berücksichtigung des Kindeswohls bei der Erlassung einer Rückkehrentscheidung fänden sich keine spezifischen Feststellungen. Die Länderfeststellungen seien – wie näher dargestellt – unvollständig und teilweise unrichtig. Im Weiteren folgen Ausführungen zur derzeitigen Situation von Kurden in der Türkei samt auszugsweise zitierten Länderberichten, welche belegen würden, dass Kurden offiziellen und gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt seien. Mit Verweis auf weitere Quellen wurde schließlich noch auf die Strafverfolgung von HDP-Mitgliedern sowie deren dramatische Lage hingewiesen. Angemerkt wurde weiters, dass sich der Erstbeschwerdeführer nach wie vor weigere, den Wehrdienst zu leisten und würde aus dem Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 16.09.2020 hervorgehen, dass insbesondere Kurden während des Militärdienstes Diskriminierungen ausgesetzt seien. Das vorgelegte Protokoll der Gendarmerie XXXX sei entgegen der Ausführungen des BFA echt. Die Ausführungen in der Beweiswürdigung seien nicht ausreichend nachvollziehbar und würden die Begründungsdefizite einen relevanten Verfahrensmangel darstellen. Es läge keine Steigerung, sondern nur eine Konkretisierung des Vorbringens vor und würden Personen, welche der HDP oder der DBP nur nahe stünden Gefahr laufen, verhaftet zu werden. Dabei sei es irrelevant, welche Funktion die Person innerhalb der Partei habe und würden auch rangniedrige HDP Mitglieder in den Focus der Behörde geraten. Klargestellt wurde noch, dass der Erstbeschwerdeführer zwar festgenommen, nie aber inhaftiert im Sinne einer tatsächlichen Verbüßung einer Strafhaft in einem Haftzentrum gemeint habe. Darüber hinaus habe sich das BFA nicht mit der humanitären Lage in der Türkei aufgrund des Erdbebens, welches die Herkunftsregion der Beschwerdeführer besonders hart getroffen habe, auseinandergesetzt. Diese sei insbesondere im Hinblick auf die minderjährigen Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer und dem Kindeswohl relevant. Im Falle einer Rückkehr könnten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund der Diskriminierung von Kurden keine Arbeit finden, würden keine Wohnung bekommen und daher mit den vier minderjährigen Kindern in eine ausweglose Lage geraten. Die Haftbedingungen in der Türkei würden zweifelsfrei eine Verletzung einer durch Art. 2 und 3 EMRK garantierten Rechte nach sich ziehen und sei eine Inhaftierung im Falle der Rückkehr in die Türkei als gesichert anzusehen. Die Beschwerdeführer seien zudem sehr bemüht sich in Österreich zu integrieren und wird auf deren Integrationsbemühungen verwiesen.

5. Am 14.06.2023, 23.08.2023 und 20.03.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der Beschwerdeführer eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation umfassend darzulegen und wurden die Dritt- bis Vierbeschwerdeführer zu ihren Lebensumständen in der Türkei und in Österreich befragt. Zudem wurden den Beschwerdeführern am 20.03.2024 aktuelle Länderberichte zur Türkei ausgehändigt und ihnen die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen eingeräumt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt:

1.1. Zu den Beschwerdeführern:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Türkei, moslemischen sunnitischen Glaubens und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer.

Erstbeschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer wurde in XXXX geboren und lebte anschließend in der Gemeinde XXXX in der Provinz XXXX bis zum Ende der ersten Schulklasse. Anschließend übersiedelte er mit seiner Familie nach Istanbul, wo er die Schule bis zur Matura besuchte. Der Beschwerdeführer begann aus finanziellen Gründen kein Studium, erlernte keinen Beruf und war in Istanbul als angelernter Koch tätig.

Im Jahr 2010 hat der Erstbeschwerdeführer die Zweitbeschwerdeführerin geheiratet und kamen 2011 und 2013 zwei gemeinsame Söhne in der Türkei zur Welt.

In der Türkei leben nach wie vor die Eltern, sieben Schwestern und ein Bruder des Erstbeschwerdeführers. Bis auf zwei Schwestern, welche in Istanbul leben, sind alle noch in XXXX wohnhaft. Der Vater des Erstbeschwerdeführers ist bereits pensioniert, die Mutter sowie die Schwestern sind Hausfrauen. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers ist in der Textilbranche berufstätig. Der Erstbeschwerdeführer steht mit seinen Familienangehörigen in der Türkei in Kontakt.

Zweitbeschwerdeführerin:

Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in XXXX in der Provinz XXXX geboren und besuchte sechs Jahre lang die Grundschule sowie zwei Jahre lang ein Gymnasium und hat anschließend keinen Beruf erlernt.

Im Jahr 2010 hat die Zweitbeschwerdeführerin den Erstbeschwerdeführer geheiratet und ist zum Erstbeschwerdeführer nach Istanbul gezogen. 2011 und 2013 kamen zwei gemeinsame Söhne in der Türkei zur Welt.

In der Türkei ( XXXX ) leben nach wie vor die Eltern sowie zwölf Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin. Ein Geschwisterteil ist in Istanbul und zwei weitere sind in Deutschland aufhältig. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin betreiben eine Landwirtschaft. Die Zweitbeschwerdeführerin steht mit ihren Verwandten in der Türkei in Kontakt.

Erst- bis Sechstbeschwerdeführer:

Im Jahr 2016 reisten die Erst- bis Vierbeschwerdeführer aus der Türkei aus und gelangten über Slowenien, wo sie am 05.08.2016 Anträge auf internationalen Schutz stellten, nach Deutschland ohne das Verfahren in Slowenien abzuwarten.

In Deutschland stellten die Erst- bis Viertbeschwerdeführer am 11.08.2016 Anträge auf internationalen Schutz und kamen 2017 und 2018 zwei weitere Söhne des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Deutschland zur Welt, für die ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden. Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer besuchten in Deutschland den Kindergarten und der Drittbeschwerdeführer zwei Jahre sowie der Viertbeschwerdeführer ein Jahr lang die Schule.

Seitens der deutschen Asylbehörden wurden die Beschwerdeführer nicht iSd Dublin-Verordnung nach Slowenien überstellt und das Asylverfahren in Deutschland geführt. Nach dem negativen Ausgang des Asylverfahrens in Deutschland kehrten die Beschwerdeführer im Juli 2020 freiwillig in die Türkei zurück.

Die Beschwerdeführer lebten ab Juli 2020 im Haus der Eltern des Erstbeschwerdeführers in XXXX in einer eigenen Wohnung und wurden vom Vater des Erstbeschwerdeführers finanziell unterstützt. Der Erstbeschwerdeführer verdiente zudem Geld mit Transporten von Möbeln und Elektrowaren von der Türkei in den Irak.

Die Dritt- und Vierbeschwerdeführer besuchten in der Türkei die Grundschule, wobei der Schulbetrieb auf Grund der Corona Pandemie teilweise eingeschränkt war.

Im September 2022 verließen die Beschwerdeführer legal die Türkei mittels Flug nach Bosnien, von wo aus sie nach Österreich gelangten und am 16.09.2023 illegal in das Bundesgebiet einreisten. Seither halten sich die Beschwerdeführer durchgehend in Österreich auf.

Die Beschwerdeführer beziehen Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber und bewohnen ein von der Grundversorgung zur Verfügung gestelltes Haus.

Die Beschwerdeführer sind gesund und der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind arbeitsfähig.

Der Erstbeschwerdeführer verfügte von 27.07.2023 bis 26.07.2024 über eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als gastgewerbliche Hilfskraft im Ausmaß von zehn Stunden pro Woche und war von 29.07.2023 bis 03.11.2023 geringfügig beschäftigter Arbeiter.

Die Zweitbeschwerdeführerin war in Österreich nicht legal erwerbstätig.

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer besuchen in Österreich die Mittel- bzw. Volksschule.

Der Sechstbeschwerdeführer befindet sich noch im Kindergartenalter, wird im Dezember 2024 sechs Jahre alt und ist somit ab dem Schuljahr 2025/2026 schulpflichtig.

Der Erstbeschwerdeführer spricht stichwortartig die deutsche Sprache. Die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer sprechen bis aus wenige Worte die deutsche Sprache nicht.

Die Beschwerdeführer pflegen übliche soziale und freundschaftliche Kontakte, sind keine Mitglieder in einem Verein und haben in Österreich keine (Berufs-)Ausbildung absolviert.

In Österreich lebt ein Neffe des Erstbeschwerdeführers. Weitere Verwandte der Beschwerdeführer halten sich nicht in Österreich auf. Mit dem Neffen des Erstbeschwerdeführers besteht kein gemeinsamer Wohnsitz und kein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Zu den Antragsgründen des Erstbeschwerdeführers:

Militärdienst:

Der Erstbeschwerdeführer ist in der Türkei nicht zur Musterung für den Militärdienst erschienen, weshalb er als Musterungsflüchtling zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Am 15.08.2022 wurde der Erstbeschwerdeführer von der Polizei aufgegriffen und ihm eine Mitteilung zu seiner Fahnenflucht zugestellt (gemäß Artikel 26 Gesetzes Nr. 7179). Weiters wurde der Erstbeschwerdeführer darüber belehrt, dass Fahnenflüchtige gemäß Art. 24 Gesetz Nr. 7179 eine Verwaltungsstrafe in Form einer Geldstrafe bezahlen müssen, ansonsten ein Strafakt vorbereitet und an die Oberstaatsanwaltschaft weitergeleitet wird. Anschließend wurde der Erstbeschwerdeführer wieder freigelassen und hat sich dieser bei einem Hausarzt einer medizinischen Untersuchung für den Militärdienst unterzogen. Der Erstbeschwerdeführer hat das Ergebnis der Untersuchung bzw. eine Einberufung seitens der türkischen Militärbehörden nicht mehr abgewartet und ist im September 2022 mit seiner Familie aus der Türkei ausgereist.

Der Erstbeschwerdeführer hat in der Türkei seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet und scheint im E-Devlet als wehrpflichtig seit 05.05.2023 auf.

Mitgliedschaft in politischen Parteien:

Seit Juli 2022 (Periode 2022/2) ist der Erstbeschwerdeführer Mitglied der politischen Partei Demokratik Bölgeler Partisi (DBP).

Der Erstbeschwerdeführer war und ist kein Mitglied der politischen Partei Partei Halkların Demokratik Partis (HDP).

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei vor seiner Ausreise einer individuellen Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer solchen ausgesetzt wäre.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer in der Türkei vor der Ausreise einer individuellen Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer solchen ausgesetzt wären.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt sind oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.2. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, S. 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).

Türkische Präsenz in Syrien und dem Irak mit Stand November 2021

Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).

Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vgl. EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, S. 29).

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).

Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).

Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).

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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens

2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. BS 23.2.2022a, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022a), und dies trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022a). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. EC 8.11.2023, S. 23, USDOS 20.3.2023a, S. 2, 16). In seiner Entschließung vom 13.9.2023 bekräftigte das Europäische Parlament uneingeschränkt den Inhalt der Entschließung aus dem Vorjahr im Sinne, dass die "dargestellte desolate Lage in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor unverändert ist" (EP 13.9.2023, Pt. 8). Bei der Anwendung des EU-Besitzstands und der europäischen Standards im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte befindet sich die Türkei laut der Europäischen Kommission (EK) noch in einem frühen Stadium. Laut EK kam es sogar zu Rückschritten (EC 8.11.2023, S. 23). In diesem Zusammenhang betonte die Präsidentin der Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (MEDEL), der Vereinigung der Europäischen Richter für Demokratie und Freiheit, Mariarosaria Guglielmi, im Juni 2023, dass die türkischen Bürgerinnen und Bürger aufgrund der jahrelangen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, des harten Zugriffs der politischen Mehrheit auf den Obersten Justizrat und der Massenverhaftungen und Prozesse gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte derzeit keinen wirksamen gerichtlichen Schutz ihrer Grundrechte genießen. Diese Situation wird durch die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung noch verschärft, die zu einem mächtigen Instrument für die Verfolgung von Oppositionellen und all jenen, die unrechtmäßig verhaftet wurden, durch die Justiz geworden ist (MEDEL 23.6.2023).

Faires Verfahren

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9).

Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11).

Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019). Ein jüngstes, prominentes Beispiel hierfür:

In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023a S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023a, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).

Geheime bzw. anonyme Zeugen

Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person nicht gibt (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020a). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).

Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).

Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020a).

Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (Rat der EU 14.12.2021a, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).

Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44). [Siehe auch die Kapitel: "Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland" und "Gülen- oder Hizmet-Bewegung"]

Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand

"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl.ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022).

Politisierung der Justiz

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7f.).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (Bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).

Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2023 auf Rang 117 von 142 Ländern (2021: Platz 116 von 140 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator viel weiter auf 0,41 ab (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 133 von 142) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 137 von 142) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 12.2023).

Konflikt der Höchstgerichte und dessen Politisierung durch die Regierung

Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11f.; vgl. LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, das für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1.11.2023 eine Klage gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts ein. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete Atalay noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere Tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben, denn die Klage wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Kassationsgerichts eingereicht, also bei jener Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben (LTO 29.11.2023).

Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte

Es gab der Europäischen Kommission zufolge keine Fortschritte bei der Beseitigung des unzulässigen Einflusses und Drucks der Exekutive auf Richter und Staatsanwälte, was sich wiederum negativ auf die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Qualität der Justiz auswirkt (EC 8.11.2023, S. 5, 24).

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; ÖB Ankara 28.12.2023). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 10.3.2023, F1).

Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission entschied der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26).

Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11; vgl. EC 19.10.2021, S. 23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9f.; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglie­der des Verfassungsgerichts ihre Er­nen­nung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das da­mals noch demokratisch agie­rende Parla­ment gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP/Can 10.6.2021, S. 3). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 10.3.2023, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10f.).

Aufbau des Justizsystems

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).

Rolle des Verfassungsgerichts

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 28.7.2022, S. 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).

Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen. Allerdings scheint laut Justizministerium die Zahl der unbehandelten Verfahren rückläufig zu sein (ÖB Ankara 28.12.2023 S. 9).

Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 20.3.2023a, S. 18). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Präsidentendekrete

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: "Politische Lage"]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 12f.).

Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19).

Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19f.). Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23).

Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20).

Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kultur-Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f).

Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE-CM 3.12.2021), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE-CM 3.2.2022). Trotz alledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (Zeit online 28.12.2022). Am 28.9.2023 hat das Kassationsgericht die lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt (AI 29.9.2023; vgl. DW 28.9.2023).

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Wehrdienst

In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, melden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (MBZ 11.7.2019). Eine Entbindung von der Wehrpflicht aus Gewissensgründen besteht nicht (PMRT-OSCE 13.6.2022, S. 19; ÖB Ankara 28.12.2023, S. 23).

Mit dem Gesetz Nr. 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 23). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019).

Selbiges Gesetz sieht nun die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor. Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 23). Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe wird jedes Jahr im Jänner und Juli entsprechend dem monatlichen Koeffizienten für Beamte neu festgelegt (RN 14.1.2023). Die Höchstzahl der diesbezüglichen Genehmigungen ist bislang auf 145.000 Wehrpflichtige jährlich beschränkt, kann jedoch durch Beschluss des Verteidigungsministeriums abgeändert werden. Die Höhe der zu bezahlenden Freikaufsumme belief sich seit Juli 2023 auf 122.351 Lira (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 24) und wurde mit Jänner 2024 auf 182.609 Lira erhöht (rund 5.550 Euro gemäß Wechselkurs Ende Jänner 2024) (RN 11.1.2024).

Die Ableistung eines Grundwehrdienstes oder Wehrersatzdienstes außerhalb der Türkei wird nicht anerkannt. Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Die Aufschiebung wird bei denjenigen annulliert, von denen angenommen wird, dass sie die Bedingungen nicht erfüllen, z. B. mehr als die Hälfte eines Kalenderjahres in der Türkei verbracht haben und eine Begründung für eine Aufschiebung nicht mehr besteht, sowie denjenigen, die auf ihr Freikaufrecht verzichten. Sie haben wie die in der Türkei Wohnhaften die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht freizukaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren. Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 24-27). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun (MBZ 11.7.2019). Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke bzw. für Personen, welche geistig oder körperlich nicht in der Lage sind, den Militärdienst zu absolvieren, sowie für Wehrpflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor (PMRT-OSCE 13.6.2022, S. 18; vgl. MBZ 11.7.2019). Homosexuelle und bisexuelle Männer sowie Trans-Personen können jedoch eine Befreiung vom Militärdienst aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität beantragen (UKHO 10.2023a, S. 4; vgl. MBZ 11.7.2019). Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes Nr. 1111/Art. 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MBZ 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 23). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MBZ 11.7.2019).

Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u. a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 24-27).

Einige Wehrpflichtige sind Berichten zufolge schweren Schikanen, körperlichen Misshandlungen und Folter ausgesetzt, die mitunter zum Tod oder Selbstmord führen. Menschenrechtsgruppen berichten über verdächtige Todesfälle beim Militär, insbesondere unter Wehrpflichtigen, die der alevitischen und kurdischen Minderheit angehören. Die Regierung hat solche Vorfälle nicht systematisch untersucht und gibt auch keine Daten darüber heraus (USDOS 20.3.2023a, S. 8). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) vermeldete für das Jahr 2021 mindestens 22 Todesfälle während der Dienstausübung (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Türkei Anfang Juli 2023 im Fall eines Soldaten, der 2013 während seines Militärdienstes in der südöstlichen Provinz Şırnak im Bezirk Uludere Selbstmord begangen haben soll, zur Zahlung von 27.000 Euro Entschädigung an dessen Mutter. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Türkei gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Leben) verstoßen und es versäumt hat, eine effektive Untersuchung des Todesfalls durchzuführen (Duvar 5.7.2023).

Angehörige sexueller Minderheiten als Wehrpflichtige

Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 47f.; vgl. EC 6.10.2020, S. 40). Will allerdings ein Homosexueller (oder Mitglied einer anderen sexuellen Minderheit) infolge des problemhaften Verhältnisses zwischen Homosexualität und türkischer Armee von sich aus den Wehrdienst nicht ableisten, muss er die Initiative ergreifen und bei einem medizinischen Komitee eine Ausnahmegenehmigung beantragen (MBZ 11.7.2019, S. 65). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 47f.; vgl. AA 28.7.2022, S. 13). Außerdem kann von der Person erwartet werden, dass sie nachweist, dass sie Mitglied einer LGBTI-Organisation ist, oder dass sie anhand eines Fotos zeigt, dass sie an einem "pride event" teilgenommen hat. Eine andere Vorgangsweise besteht darin, dass der homosexuelle Wehrpflichtige ein Familienmitglied oder einen Freund mitbringt, der bezeugt, dass er homosexuell ist (MBZ 11.7.2019, S. 65).

Wenn ein Homosexueller aus dem Militärdienst entlassen wird, erhält er eine Freistellungsmeldung. Darin wird lediglich festgestellt, dass die betreffende Person als nicht wehrdiensttauglich gilt. Diese Meldung mindert die Chancen des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt, da potenzielle Arbeitgeber bei der Einstellung einen Nachweis über den Wehrdienst verlangen können. Wird festgestellt, dass die betreffende Person vom Wehrdienst befreit wurde, kann der Arbeitgeber nach dem Grund für die Befreiung fragen oder annehmen, dass die betreffende Person homosexuell, bisexuell oder transsexuell ist (MBZ 11.7.2019, S. 65).

Quellen

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf, Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]

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Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee

Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MBZ 11.7.2019). Die Wehrpflichtigen haben keine Wahl, wo sie stationiert werden. Wehrpflichtige Kurden können daher im Südosten der Türkei stationiert werden, wo sich die türkischen Streitkräfte im Konflikt mit der PKK befinden. Da die türkischen Behörden keine Angaben zu den Wehrpflichtigen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit machen, kann nicht festgestellt werden, wie viele kurdische Wehrpflichtige in der Südosttürkei stationiert sind (MBZ 31.8.2023, S. 76) und ob sie am Kampf gegen die PKK beteiligt sind. Es liegen laut niederländischem Außenamt keine Informationen darüber vor, ob kurdische Wehrpflichtige den Einsatz in der Südosttürkei verweigern dürfen und wenn nicht, welche Strafe dafür vorgesehen ist. Zurzeit jedenfalls werden Wehrpflichtige grundsätzlich nicht zu Kampfeinsätzen herangezogen (MBZ 2.3.2022, S. 64f.; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 76).

Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten, wie der kurdischen, im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MBZ 11.7.2019; vgl.Mezopotamya 14.9.2020). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MBZ 11.7.2019). Nach Angaben von Şüpheli Ölümler ve Mağdurları Derneği, einer Stiftung, die sich für die Opfer verdächtiger Todesfälle im Militär einsetzt, starben zwischen 2000 und 2020 mehr als 3.000 Soldaten unter verdächtigen Umständen in Kasernen. Laut den Sprecher der Stiftung, Riza Doğan, waren etwa 80 % der Soldaten, die unter verdächtigen Umständen in der türkischen Armee starben, Kurden oder Aleviten waren (TM 14.4.2021; vgl. USDOS 2.6.2022).

Quellen

MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023

MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf, Zugriff 2.10.2023

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UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt, Zugriff 31.10.2023

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Allgemeine Menschenrechtslage

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).

Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).

Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).

Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland.

Quellen

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Duvar - Duvar (8.7.2022b): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010, Zugriff 9.2.2024

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Rat der EU - Rat der EU (14.12.2021b): Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess [15033/21], https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15033-2021-INIT/de/pdf, Zugriff 9.2.2024

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Haftbedingungen

Zustand der Gefängnisse und externe Überprüfung

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In vielen türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, S. 18; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14).

Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in: Ankara Sincan (Strafvollzugsanstalt für Frauen), Amasya, Aksaray, Kayseri, Malatya, Mersin Tarsus (geschlossene Strafvollzugsanstalt für Frauen) und Van (Hochsicherheitsgefängnis). Die Strafvollzugsanstalten in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa sind wiederum chronisch überbelegt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14f.).

Die Gefängnisse erfüllen im Allgemeinen die baulichen Standards, d.h. Infrastruktur und Grundausstattung, aber erhebliche Probleme mit der Überbelegung führen in vielen Gefängnissen zu Bedingungen, die nach Ansicht des Europäisches Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, kurz: Anti-Folter-Komitee (Committee for the Prevention of Torture - CPT) des Europarats als unmenschlich und erniedrigend angesehen werden können (USDOS 20.3.2023a, S. 9). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem CPT des Europarats besucht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14), allerdings wurde der letzte CTP-Bericht von 2021 nicht veröffentlicht (USDOS 20.3.2023a). Im September 2022, beispielsweise, zeigten sich Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem Besuch besorgt wegen der Lebensbedingungen in Hafteinrichtungen, einschließlich der Überbelegung, sowie über die Situation von Migranten in Abschiebezentren (OHCHR 21.9.2022).

Die Regierung gestattet es unabhängigen NGOs nicht, Gefängnisse zu inspizieren (USDOS 20.3.2023a, S. 11; vgl. OMCT 2022). NGOs, wie die World Organisation Against Torture (OMCT), orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (engl.: HREI bzw. türk.: TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus (NPM) im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Defizite bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, erfüllt die HREI/TİHEK nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) und hat Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 8.11.2023, S. 30f.).

Häftlingsstatistik

In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S. 38). Zum 1.2.2024 gab es insgesamt 403 Strafvollzugsanstalten, darunter 272 geschlossene und 99 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und acht offene Frauenvollzugsanstalten, und neun geschlossene Jugendvollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 295.702 Plätze (ABC-TGM 1.2.2024). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium mit Stand 2.1.2024: 292.282 (Dez. 2022 336.315), davon waren 15,6 % Untersuchungshäftlinge (nur "pre-trial"). Mit 1.2.2024 wurden 340 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 98]. Die Belegung betrug mit Ende des Jahres 2022 117,8 % (ICPR 1Q.2024).

Menschenrechtsverletzungen

Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, S. 19f., Pt. 32; vgl. EC 8.11.2023, S. 31, ÖB Ankara 28.12.2023, S. 15). Bildungs-, Rehabilitations- und Resozialisierungsprogramme blieben begrenzt (EC 8.11.2023, S. 31). Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen aus verschiedenen Gründen, wie z.B. wegen Verweigerung der Leibesvisitation, ärztlicher Untersuchung in Handschellen, erzwungener Anwesenheit bei ständigen Appellen oder die Titulierung von Personen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert wurden, als "Terroristen" und das Verprügeln aus diesem Grund haben der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" İHD zufolge ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht (İHD/HRA 6.11.2022a, S. 14). Laut Rechtsanwaltskammer Ankara sollen Festgehaltene in der Polizeidirektion Ankara regelmäßig Leibesvisitationen, Folter und Misshandlungen ausgesetzt sein (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 15). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt (DIS 31.3.2021, S. 1; İHD/HRA 6.11.2022a, S. 14). NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S. 1). 2022 kam es in einigen Gefängnissen zu Hungerstreiks, um ein Ende der Verletzungen der Rechte der Häftlinge zu erwirken (EC 12.10.2022, S. 34; vgl. İHD/HRA 6.11.2022a, S. 15). Immer wieder soll es auch vorkommen, dass Inhaftierten das Recht verweigert wird, aufgrund guter Führung auf freien Fuß gesetzt oder in den offenen Strafvollzug verlegt zu werden. Rechtsanwaltskammern und NGOs bemängeln, dass die seit November 2021 zur entsprechenden Beurteilung eingesetzten Anstaltsverwaltungen und Überwachungsausschüsse intransparente Beschlüsse fassen und keiner ausreichenden externen Kontrolle unterliegen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 15).

Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung sowie über den Umstand beschwert, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S. 1; EC 8.11.2023, S. 26). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S. 32). Eines der prominentesten Beispiele ist der ehemalige Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker - HDP, der seit 2016 im Gefängnis von Edirne in der Westtürkei sitzt, dass sich über 1.700 von seiner Heimatstadt Diyarbakır befindet (Stand: Feb. 2024). Seine Frau Başak Demirtaş muss jede Woche 3.500 Kilometer für einen einstündigen Besuch zurücklegen (3Sat 6.5.2023; vgl. DTJ 4.12.2020).

Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 20.3.2023a, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S. 29). Außerdem weisen zwei Quellen des niederländischen Außenministeriums darauf hin, dass einige Ärzte sich weigerten, tatsächliche oder angebliche Gülenisten und PKK-Mitglieder zu behandeln, aus Angst, mit der PKK oder der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden (MBZ 2.3.2022, S. 30; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 10). Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 20.3.2023a, S. 10).

Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Gefängnis-Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter, ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 20.3.2023a, S. 23). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S. 19).

Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, S. 17).

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, S. 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).

Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD/HRA 6.2022, S. 10, 13).

Kurdische Häftlinge

Es gibt weiterhin Probleme wie beispielsweise die behördliche Ablehnung von Anträgen auf Verlegung seitens der Häftlinge (meist wegen der großen Distanz zum Heimatort bzw. zur Familie) und umgekehrt die Praxis der Zwangsverlegung entgegen den Forderungen der Gefangenen. Laut der NGO CİSST kam es auch 2021 zu Zwangsverlegungen, die mit dem Ausnahmezustand begannen und zu einem Mittel der Misshandlung und Diskriminierung insbesondere kurdischer politischer Gefangener einsetzten (CİSST 26.12.2022, S. 26). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S. 30, 68; vgl. İHD/HRA 6.2022, S. 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, sofern diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S. 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S. 30; 68; vgl. S. 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen des Landes inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S. 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021a).

Hochsicherheitsgefängnisse

In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S. 11-13).

Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV/CİSST/ÖHD 1.7.2019, S. 4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S. 70). Viele HDP-Mitglieder oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36). Laut den türkischen Soziologen Çağatay und Bekiroğlu basieren F-Typ-Gefängnis auf Isolation, Trennung und Reduzierung mit strengen Regeln und Vorschriften. Jede Zelle ist als ein isolierter und separater Ort mit seiner reduktiven Logik. Das Hauptmerkmal der F-Typ-Gefängnisse ist mitunter seine Architektur, die darauf abzielt, jede Art von Kommunikation zwischen den Insassen der verschiedenen Zellen zu verhindern. In diesem Sinne sind gemäß Çağatay und Bekiroğlu F-Typ-Gefängnisse ein direkter Angriff auf die soziale Existenz der Gefangenen (ACCORD 5.4.2023, S. 38).

Die neuen Sicherheitsgefängnisse des Typs S führen zu einer verstärkten Isolation der Insassen. Gemeinsame Aktivitäten blieben begrenzt und willkürlich. Die Verlegung in abgelegene Gefängnisse wurde fortgesetzt, manchmal ohne Vorwarnung. Solche Verlegungen wirkten sich negativ auf Familienbesuche aus, insbesondere für arme Familien und jugendliche Gefangene (EC 8.11.2023, S. 31).

Isolationshaft

Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S. 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD/HRA 6.2022, S. 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S. 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S. 25). Angehörige sexueller Minderheiten werden als Häftlinge de facto isoliert. Laut Informationen der NGO CİSST werden LGBTI+-Gefangene in speziellen Räumen oder Abteilungen untergebracht. LGBTI+-Gefangene können nicht von sozialen und körperlichen Aktivitäten profitieren, die andere Gefangene nutzen können. In einigen Gefängnissen können Transfrauen/Transmänner oder schwule/bisexuelle männliche Gefangene in eigenen Abteilungen untergebracht werden, wenn die Anzahl und die Bedingungen ausreichend sind. CİSST wurde jedoch von Betroffenen berichtet, dass männliche transsexuelle Gefangene unter allen Umständen de facto isoliert wurden, unabhängig davon, ob sie in Frauen- oder Männergefängnissen untergebracht waren. Diese Gefangenen gaben auch an, dass sie aufgrund ihrer Geschlechtsidentität Gewalt durch die Gefängnisverwaltung und das Personal ausgesetzt waren (CİSST 26.12.2022, S. 57). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).

Quellen

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Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023a, S. 85). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022a, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023a, S. 85f.).

Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 87).

Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine gesetzgeberischen Entwicklungen, die die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).

Quellen

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HDF - Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf, Zugriff 18.1.2024

MRG - Minority Rights Group (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/, Zugriff 18.1.2024

ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TÜRKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023

Kurden

Demografie und Selbstdefinition

Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).

Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung

Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023b, S. 8f.).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).

Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).

Religiöse Orientierung

In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).

Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden

Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).

2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).

Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).

Kurdische Zivilgesellschaft

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023a, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).

Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK

Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023a, S. 29, 85). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).

Für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)".

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen 11 kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel "Opposition"] auch Vertreter kurdische NGOs und Vereine. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonymen Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023).

Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit/ Internet.

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder regelmäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023).

Gewaltsame Übergriffe

Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; USDOS 20.3.2023a). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Beispiele: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Ein anderer kurdischer Jugendlicher wurde eingekreist und gezwungen, den Wimpel der Heimmannschaft Bursaspor zu küssen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen angegriffen wurden (Duvar 17.12.2023).

Verwendung der kurdischen Sprache

Der Gebrauch von Kurdisch als Unterrichtssprache ist eingeschränkt. Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl.ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Duvar 30.8.2021b). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71).

Verwendung des Begriffes "Kurdistan"

Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013).

2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).

Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von 16.957 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).

Quellen

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Frauen

Allgemeiner Rechtsrahmen und Defizite

Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 20.3.2023a, S. 79). Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 79), sodass nach wie vor Probleme in den Bereichen Geschlechtergleichheit, Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt bestehen. Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019).

Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im türkischen Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022a, S. 4). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Komitee) begrüßte 2022 die bedeutenden Rechtsreformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und dass das Gesetz Nr. 6284/2012 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen einen wichtigen Rahmen für die Verhütung von Gewalt und den Schutz der Opfer bildet. CEDAW stellte jedoch mit Besorgnis fest, dass sowohl der Geltungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften als auch ihre Umsetzung noch Lücken aufweisen (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 7f.).

Austritt aus der "Istanbul-Konvention" - politische Gründe

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention trat mit 1.7.2021 in Kraft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45; vgl. AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5). Die Bewertung der Auswirkungen des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention erwies sich als recht schwierig. Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wirkte sich der Austritt der Türkei aus diesem Vertrag vor allem auf der politischen Ebene aus. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Der Aktionsplan enthielt weder einen Hinweis auf die "Gleichstellung der Geschlechter" noch waren Frauenrechtsorganisationen bei seiner Ausarbeitung konsultiert worden. Verschiedene Quellen betonten, dass weder die Istanbul-Konvention noch das daraus resultierende Schutzgesetz 6284 jemals wirksam umgesetzt worden seien (MBZ 31.8.2023, S. 59).

Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021b).

Kinder-, Früh- und Zwangsehen

Die Europäische Kommission (EK) zeigte sich bereits 2020 besorgt ob der Kinder-, Früh- und Zwangsehen (EC 6.10.2020, S. 39). Angesichts der Errichtung einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch im Januar 2023 verlangte die EK, dass ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten aufgestellt wird (EC 8.11.2023, S. 41). Ebenso äußerte sich das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom September 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 14).

Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so z.B. Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleichbehandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).

Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen

Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 20.3.2023a, S. 80). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2).

Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/ eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Im Mai 2022 trat ein Justiz-Sofortpaket zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Trotz positiver Änderungen, wie der Anhebung der Mindesthöhe von Freiheitsstrafen für einige Delikte, halten Experten die neuen Regelungen für wenig wirkungsvoll, vor allem aufgrund der nach wie vor vergleichsweise niedrigen Maximalstrafen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45). Sie kritisierten auch die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ihre Ursachen und Folgen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt. Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022a, S. 6).

Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u.a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u.a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der Strafprozessordnung (StPO) vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).

Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums haben Polizeibeamte mitunter den Frauen davon abgeraten, häusliche Gewalt anzuzeigen, und ermutigten sie, sich mit dem Täter zu versöhnen. Es kam auch vor, dass Frauen falsche oder gar keine Informationen erhielten, wenn sie sich an die Polizei wandten. Außerdem wurden Kontaktverbote, die von Familiengerichten oder Polizeibeamten verhängt wurden, nicht immer durchgesetzt. Darüber hinaus wurden Kontaktverbote zwar für maximal sechs Monate verhängt, jedoch nicht automatisch verlängert, sodass die Frauen wiederholt ein bürokratisches Verfahren durchlaufen mussten, um dieselbe Schutzmaßnahme erneut erwirken zu können (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 60). Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen. Deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen (HRW 5.2022, S. 3). In vielen Fällen konnten sich Männer, gegen die ein Kontaktverbot verhängt worden war, der Wohnadresse der betroffenen Frau nähern, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es gab auch Verzögerungen bei der Verhängung von Kontaktverboten, oder diesbezügliche Aufforderungen dazu wurden einfach nicht befolgt (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. HRW 5.2022, S. 3). Nicht nur stellen die Gerichte häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, sondern die Behörden verabsäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3).

Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes erhalten, die zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beitragen (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 12.10.2022, S. 41).

Laut (damaligen) Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung 2018 die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, bis April 2023 von 5,2 Millionen Frauen heruntergeladen. In der Praxis hat die KADES-App die Erwartungen nicht erfüllt. Um sich zu vergewissern, ruft die Polizei oft vor dem Einsatz die betreffende Frau an, nachfragend, ob sie tatsächlich in Gefahr ist. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen in gefährlichen Situationen nicht immer in der Lage sind, ans Telefon zu gehen. Darüber hinaus werden die beteiligten Männer aggressiver, wenn sie erfahren, dass die Frauen die Polizei gerufen hat. Beamte haben, wenn sie tatsächlich auf Notrufe reagierten, in der Regel versucht zwischen den Frauen und ihren Peinigern zu vermitteln, um eine Versöhnung herbeizuführen (MBZ 31.8.2023, S. 61).

Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S. 35). Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei haben erklärt, dass Täter, die geschlechtsspezifische Gewalt, Femizid und sexuellen Missbrauch begehen, dank reduzierter Haftstrafen straffrei ausgehen. Nach Angaben der Aktivistinnen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 mindestens 17 Täter zu reduzierten Haftstrafen verurteilt. Einige dieser Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch von minderjährigen Mädchen. Canan Güllü, Vorsitzende der Föderation der türkischen Frauenverbände, sagte, dass solche Strafmilderungen zu einem Anstieg der Fälle von körperlichem und sexuellem Missbrauch geführt haben. Sie kritisierte zudem, dass Richter und Staatsanwälte nicht über die notwendige Ausbildung verfügen, um geschlechtsspezifische Gewalt und Missbrauch vollständig zu verstehen. - Türkische Gerichte sind wiederholt in die Kritik geraten, weil sie dazu neigen, Straftäter milde zu bestrafen, indem sie behaupten, die Tat sei "aus Leidenschaft" begangen worden, oder indem sie das Schweigen der Opfer als Zustimmung auslegen (SCF 3.10.2023).

Femizide und sog. "Ehrenmorde"

Gewalt gegen Frauen bleibt in der Türkei ein hochaktuelles Thema. Laut Berichten von Frauenrechtsorganisationen waren 2022 mindestens 334 Frauenmorde sowie 245 "verdächtige" Todesfälle von Frauen und 2023 (bis Ende Oktober) 253 Frauenmorde sowie 194 "verdächtige" Todesfälle zu verzeichnen. Das Thema findet in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit. In Teilen der Bevölkerung findet eine wachsende Sensibilisierung statt. Projekte von NGOs zielen auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45). Laut einem Bericht, der am 23.11.2023 von der Nachrichtenagentur Bianet veröffentlicht wurde, sind zwischen dem 1.1. und 21.11.2023 mindestens 288 in der Türkei Opfer von Femiziden geworden. Dem Bericht zufolge wurden in 165 der Mordfälle Schusswaffen eingesetzt, drei wurden bei lebendigem Leib verbrannt und zwei zu Tode gesteinigt. Gegen 681 weitere Frauen sollen Gewalttaten verübt worden sein, und mindestens 335 Frauen sollen im Verlauf des Jahres zur Prostitution gezwungen worden sein. Bei den Tätern handelte es sich hauptsächlich um Ehemänner, Ex-Ehemänner und männliche Familienangehörige (BAMF 27.11.2023).

Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 28.7.2022, S. 14). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S. 18). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zeigte sich in seinem Bericht zur Türkei besorgt über das Fortbestehen von Verbrechen, einschließlich Tötungen, die im Namen der sogenannten "Ehre" begangen werden, und über die relativ hohe Zahl von erzwungenen Selbstmorden oder getarnten Morden an Frauen. Das CEDAW-Komitee nahm mit Besorgnis die begrenzten Bemühungen der Türkei zur Kenntnis, die Öffentlichkeit über den kriminellen Charakter und das irreführende Konzept der sogenannten "Ehrenverbrechen" aufzuklären. Das Komitee nahm die übermittelten Informationen seitens der Türkei zur Kenntnis, wonach Artikel 29 des Strafgesetzbuchs, der mildernde Umstände im Falle einer "ungerechtfertigten Provokation" vorsieht, nicht auf Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" angewendet wird. Der Ausschuss ist jedoch nach wie vor besorgt, dass dies keinen ausreichenden rechtlichen Schutz darstellt, da die Bestimmung, die die Anwendung von Artikel 29 ausdrücklich verbietet, sich nur auf Tötungen im Namen der "Sitte" (töre) bezieht und daher möglicherweise nicht immer Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" (namus) abdeckt (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 9).

Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S. 13f).

Schutzeinrichtungen

Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (USDOS 20.3.2023a, S. 80; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 20.3.2023a, S. 80).

2023 existierten im ganzen Land lediglich 159 Frauenhäuser mit einer Kapazität von knapp unter 4.000 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge waren es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Buben, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD/HRA 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen (OHCHR 27.7.2022a, S. 7) sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022a, S. 7; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46).

Die meisten von der Regierung betriebenen Frauenhäuser gelten als überfüllt und bieten nur eine Grundversorgung, ohne professionelle Beratung oder psychologische Betreuung. Die Lebensbedingungen in den meisten dieser Frauenhäuser ähneln jenen in Gefängnissen. Die Wartezeiten für die Aufnahme sind lang, sodass Frauen, die dringend Hilfe und Beratung benötigen, diese nicht zeitnah erhalten. Zudem gibt es Behördenmitarbeiter, die nur Opfer von physischer Gewalt aufnehmen, nicht aber Opfer von psychischer Gewalt, obwohl auch letztere Opfergruppe Anspruch auf Schutz hat. Außerdem verlangen Beamte, obwohl sie dazu nicht befugt sind, in einigen Fällen medizinische Unterlagen als Beweis dafür, dass die Frau körperlich angegriffen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 55). Das UN-CEDAW-Komitee bemängelte 2022, dass Frauen, die versuchen, einer Gewaltbeziehung zu entkommen, unzureichende Unterstützung und Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich unter anderem in der unzureichenden Anzahl von Frauenhäusern in der gesamten Türkei und in den unangemessenen Bedingungen für Frauen in Frauenhäusern wider (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 8).

Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46; vgl. EC 6.10.2020, S. 38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46).

Behördliches Vorgehen gegen Frauenorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen

Frauenorganisationen werden durch Verleumdungen, Festnahmen, Ermittlungen und Verhaftungen unter Druck gesetzt. Auch Aktivistinnen wurden bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und waren polizeilicher Gewalt ausgesetzt. Schließungsverfahren und Gerichtsverfahren liefen bzw. laufen gegen einige Frauenorganisationen. Mehrere Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen wurden inhaftiert und zu Geldstrafen verurteilt, weil sie an Demonstrationen für die Rechte der Frauen teilgenommen hatten. (EC 8.11.2023, S. 16, 30). Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen gab es Demonstrationen am 25.11.2022. Die Behörden haben in mehreren Städten diese Demonstrationen verboten und verhindert. In Istanbul hatte die Polizei mit massivem Aufgebot die Innenstadt weiträumig abgesperrt, während in Ankara etwa Kundgebungen, aber keine Märsche zugelassen waren (ARD 25.11.2022). Allein in Istanbul waren am 28.11.2022 40 Menschen festgenommen worden, teilte die Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" mit, während bereits zwei Tage zuvor nach anderen Angaben an die 200 festgenommen worden waren (Tagesspiegel 27.11.2022). Auch in den osttürkischen Provinzen Şırnak, Ağrı und Van wurde demonstriert. Rund zwei Dutzend Frauen wurden festgenommen, darunter die Provinz- und Bezirksvorsitzenden der pro-kurdischen HDP (SCF 25.11.2022). In Cizre (Kurdengebiet) gab es Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Polizei. Die "Plattform 25. November" reichte eine Strafanzeige wegen der Polizeibrutalität an diesem Tag in Istanbul ein (EC 8.11.2023, S. 38).

Am Internationalen Frauentag 2023 nahm die Polizei bei Demonstrationen in Istanbul mehrere Personen fest und setzte Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Zuvor hatte das Büro des Bezirksgouverneurs Istanbul, wie in den Jahren zuvor, das zentrale Taksim-Viertel und die Umgebung für Demonstrationen anlässlich des Weltfrauentages gesperrt. Die Behörden erklärten, der geplante Marsch sei aus Sorge um die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit sowie zur Verhinderung von Straftaten und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer verboten worden (BAMF 13.3.2023, S. 3; vgl. TM 8.3.2023, CNN 9.3.2023).

Hassreden gegen unabhängige Frauenorganisationen haben zugenommen. Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Frauenmärsche wurden mit Polizeigewalt beantwortet, und es wurde ein Gerichtsverfahren zur Schließung der bekannten Frauenplattform namens "We Will Stop Femicides Platform" eingeleitet (EC 12.10.2022, S. 41).

Die Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) stellte im Jahr 2022 fest, dass sich Journalistinnen in der Türkei auf immer gefährlicheres Terrain begeben mussten, sowohl physisch als auch digital, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Zwischen Jänner und Dezember 2022 verzeichneten CFWIJ 150 Fälle von Übergriffen auf Journalistinnen. Mindestens 50 Frauen wurden juristisch verfolgt, 47 wurden vor Ort von der Polizei oder Anhängern des Staates angegriffen. Die Zahl der in der Türkei inhaftierten Journalistinnen ist laut CFWIJ im Jahr 2022 um 27 % gestiegen, und Journalistinnen wurden auch durch organisierte Online-Troll-Kampagnen und über staatliche Medien ins Visier genommen, weil sie die Regierungspolitik kritisierten (CFWIJ 14.12.2023). Dies setzte sich auch 2023 fort. Im Dezember 2023 ging die Polizei zuletzt gegen zwei kurdische Journalistinnen vor, gegen die JIN-News-Reporterin Elfazi Toral und die Journalistin der Demokratischen Moderne, Sema Korkmaz. Sie wurden von der Polizei verprügelt und festgenommen, nachdem sie über eine Pressekonferenz in Istanbul berichtet hatten. Korkmaz wurde ohne Anklage freigelassen, während Toral wegen Verstoßes gegen das Protestgesetz angeklagt wurde (CFWIJ 8.12.2023).

Sozioökonomische Stellung

Was die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik betrifft, so sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr groß, trotz Verbesserungen am Arbeitsmarkt (EC 8.11.2023, S. 102). Im November 2023 betrug die offiziell geschätzte Arbeitslosenquote 9,0 %. Allerdings lag die Quote bei den Frauen bei 11,8 % zu nur 7,5 % bei den Männern. Die Erwerbstätigenquote lag bei 48,2 % - 65,4 % bei Männern und 31,3 % bei den Frauen (TUIK 10.1.2024a).

Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) lag die Türkei auf Platz 129 von 146 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2023. In den Sub-Indizes lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 133. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 99), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 118) und bei der "Gesundheit" (Position 100) besser aus (WEF 6.2023).

Quellen

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Kinder und Minderjährige

Rechtslage und staatliche Maßnahmen

Die Türkei ist Vertragsstaat der folgenden internationalen Menschenrechtsinstrumente in Bezug auf die Rechte des Kindes: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) und seine Fakultativprotokolle über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (DFAT 10.9.2020, S. 16). Der Schutz der Rechte des Kindes ist nach wie vor unzureichend, auch in der Jugendgerichtsbarkeit und in Bezug auf die Folgen der Erdbeben (EC 8.11.2023, S. 40). Im Jänner 2023 wurde eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch eingesetzt. Es muss jedoch laut Europäischer Kommission ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten errichtet werden. Konsequente Anstrengungen sind erforderlich, um Kinderarbeit, insbesondere unter Flüchtlingen, zu beseitigen, so die Kommission (EC 8.11.2023, S. 41).

Jugendliche Straftäter im Rechtssystem

Kinder können bei strafrechtlichen Streitigkeiten kostenlosen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen, für zivilrechtliche Fälle und/oder andere Beschwerdemechanismen gibt es jedoch keine solche Regelung. Besorgniserregend ist laut Europäischer Kommission (EK) nach wie vor die Tatsache, dass Jugendliche unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen festgenommen und inhaftiert werden. Die Maßnahmen ohne Freiheitsentzug für Kinder müssen verbessert werden, so die EK. Die Möglichkeiten von NGOs und Anwaltskammern, zu intervenieren, zu überwachen und bei Rechtsstreitigkeiten eingebunden zu werden, sind sowohl rechtlich als auch praktisch begrenzt. Es gibt nicht genügend spezialisierte Kindergerichte, Kindergerichtshöfe und qualifiziertes Personal wie Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Sachverständige. Fast die Hälfte der betroffenen Kinder steht immer noch vor nicht spezialisierten Gerichten. Derzeit gibt es 81 Jugendgerichte und 12 hohe Jugendstrafgerichte, was dem Gesetz entspricht, wonach es in jeder Provinz ein Jugendgericht geben muss. Dies reicht jedoch nicht aus, um den Bedürfnissen der Großstädte gerecht zu werden (EC 8.11.2023, S. 41).

Menschenrechtsverletzungen an Kindern

Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes zeigte sich im Juni 2023 zutiefst besorgt über die anhaltende Unterdrückung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Kindern im Namen der Terrorismusbekämpfung und stellt fest, dass seit 2016 Tausende von Kindern festgenommen, inhaftiert und wegen terroristischer Anschuldigungen verurteilt wurden. Das Komitee verwies auf die Empfehlungen des Menschenrechtsausschusses und empfahl der Türkei außerdem, sicherzustellen, dass das Antiterrorismusgesetz von 1991 (Gesetz Nr. 3713) nicht zur Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit von Kindern verwendet wird, dass Antiterrormaßnahmen verhältnismäßig sind und im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und den Grundfreiheiten stehen und dass jede Gewalt, die Kindern von den Sicherheitskräften im Zuge von Antiterrormaßnahmen zugefügt wird, untersucht wird und die Täter entsprechend verfolgt und bestraft werden. Das UN-Komitee zeigte sich überdies tief besorgt über Berichte von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Isolationshaft von Kindern durch Gefängniswärter in geschlossenen Einrichtungen, einschließlich der geschlossenen Strafvollzugsanstalt in Diyarbakır (UN-CRC 2.6.2023a).

Kinderarbeit und Kinderarmut

Die Regierung erklärte 2018 zum Jahr der Abschaffung von Kinderarbeit. Darüber hinaus wurden 355 Arbeitsinspektoren, 81 Provinzdirektoren und 320 Lehrer zum Thema Kinderarbeit geschult. Dennoch sind Kinder in der Türkei den schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Rekrutierung durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen. Die uneinheitliche Durchsetzung der Gesetze führt zu einem unzureichenden Schutz von Kindern, die Kinderarbeit verrichten. Kinder verrichten etwa in der saisonalen Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben gefährliche Arbeiten. Darüber hinaus entspricht das Verbot der Zwangsrekrutierung von Kindern durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen nicht den internationalen Standards (USDOL 28.9.2022).

Die Bemühungen um den Aufbau von Kapazitäten zur Bekämpfung der Kinderarbeit wurden auf nationaler und lokaler Ebene fortgesetzt. Dennoch gibt es nach wie vor Praktiken der Kinderarbeit, die gegen internationale Normen verstoßen und von denen insbesondere Jugendliche und Buben mit Migrationshintergrund betroffen sind. In der Türkei fehlt es an angemessenen Daten zu Kinderarbeit, welche die nötigen Anhaltspunkte liefern würden, um die Ursachen des Problems zu bekämpfen. Die Umsetzung des Nationalen Programms der Türkei zur Beseitigung der Kinderarbeit ist in einem fortgeschrittenen Stadium. Kinderarbeit ist jedoch immer noch weit verbreitet, insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund (EC 8.11.2023, S. 100f.)

Bis zu zwei Millionen leisten in der Türkei Kinderarbeit. Gesetzlich zwar verboten, zwingt die Not Familien oft dazu, ihre Kinder zum Geldverdienen anstatt in die Schule zu schicken, z. B. während der Baumwollernte (ARD 25.10.2020, Min. 1). Obwohl die Kinderarbeit erheblich zurückgegangen ist, stellt sie in der saisonalen landwirtschaftlichen Produktion immer noch ein Problem dar. In der Agrarwirtschaft, mit Ausnahme von Familienbetrieben, wird mobile und saisonale Landarbeit im Nationalen Programm zur Beseitigung von Kinderarbeit (2017-2023) als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit eingestuft, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen, damit verbundenen Risiken. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit beschäftigt sind, stellen eine der am meisten benachteiligten Gruppen dar, was die Arbeits- und Lebensbedingungen in Verbindung mit Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsproblemen betrifft (ILO 5.3.2021, S. 3). Offiziellen Zahlen zufolge sind 720.000 Kinder gezwungen, zum Haushaltseinkommen ihrer Familien beizutragen. Rund 31 % dieser Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, fast 24 % in der Industrie und 45,5 % im Dienstleistungssektor. 20 % der Kinder sind Saisonarbeiter (Duvar 7.6.2021b; vgl. ILO 5.3.2021, S. 2). Das US-amerikanische Arbeitsministerium geht in der Altersgruppe der Sechs- bis 14-Jährigen sogar von einem Anteil von 57 % aus, welcher in der Landwirtschaft arbeitet, gefolgt von fast 16 % in der Industrie und 27 % im Dienstleistungssektor (USDOL 28.9.2022). Der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe 5-17 Jahre wird von der türkischen Statistikbehörde auf 4,4 % geschätzt. 79,7 % der erwerbstätigen Kinder sind in der Altersgruppe 15-17 Jahre, 15,9 % in der Altersgruppe 12-14 Jahre und 4,4 % in der Altersgruppe 5-11 Jahre. Eine Untersuchung nach Geschlecht zeigt, dass 70,6 % der arbeitenden Kinder männlich und 29,4 % weiblich sind (ILO 5.3.2021, S. 2). 2020 starben 22 Minderjährige unter 14 Jahren und 46 im Alter von 15 bis 17 Jahren bei Arbeitsunfällen (Duvar 11.6.2021).

Abgesehen von der Kinderarbeit nimmt infolge der Wirtschaftskrise auch die allgemeine Armut zu, welche insbesondere Kinder betrifft. - Laut Berichten müssen Millionen Kinder aufgrund der Wirtschaftskrise auf ein grundlegendes Menschenrecht verzichten: das auf ausreichende Ernährung. Einer von vier Schülern geht hungrig zur Schule (FAZ 15.12.2022). In der Türkei brechen die Kinder die Schule in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ab, weil sich die Eltern einen Schulbesuch, dazu gehört insbesondere die Verpflegung, nicht mehr leisten können. Laut Omer Yilmaz, Vorsitzender der Schülerelternvereinigung, waren offiziellen Statistiken zufolge im Zeitraum 2021-2022 rund 1,2 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren in keiner Schule eingeschrieben. Nimmt man die Schüler hinzu, die Berufsschulen und offene Schulen besuchen, in denen sie vier Tage die Woche arbeiten, so sind heute fast vier Millionen Kinder außerhalb des regulären Bildungssystems und arbeiten entweder für einen geringen Lohn oder suchen nach einem Arbeitsplatz, so Yilmaz (AlMon 23.11.2022).

Eheschließungen von Kindern und Minderjährigen

Obwohl das Gesetz Eheschließungen von Minderjährigen unter 17 Jahren verbietet, ausgenommen bei Vorliegen einer gerichtlichen Genehmigung, stellen die sog. "Kinderehen" weiterhin ein großes Problem, insbesondere in den ländlichen Gebieten und den südöstlichen Provinzen, dar. Unter außerordentlichen Umständen (meist eine Schwangerschaft) kann ein Richter 16-Jährigen die Erlaubnis zur Verehelichung erteilen, sofern die Eltern zustimmen. Verehelichung von Kindern unter 16 Jahren ist unter keinen Umständen rechtlich erlaubt. Ehen können nur durch das Standesamt bestätigt werden. Das Parlament verabschiedete allerdings am 18.10.2017 ein Gesetz, das es auch Muftis [islamische Rechtsgelehrte] erlaubt, Trauungen vorzunehmen. Laut Statistikamt ist der Anteil der Eheschließungen von minderjährigen Mädchen auf 3,8 % gesunken (2018). Die offenkundige Problematik dieser Zahl liegt darin, dass nur amtlich geschlossene Ehen erfasst werden. Die meisten Eheschließungen von Kindern werden aber nur vor einem Imam vollzogen (ÖB Ankara 10.2019). NGOs kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen durch Behörden nach oben "korrigiert" werde, um eine zivilrechtliche Heirat zu ermöglichen. Insbesondere bei von Muftis geschlossenen Zivil-Ehen wird von fehlender Kontrolle der Altersvorschriften berichtet und damit von der Möglichkeit, diese Vorschrift zu umgehen (AA 28.7.2022, S. 13). Die Geburtenstatistik des türkischen Statistikinstituts (TÜİK) führt an, dass 2021 insgesamt 7.190 Mädchen selbst ein Kind zur Welt brachten (Duvar 29.6.2022, vgl. BirGün 27.6.2022), davon waren 117 Kinder unter 15 Jahren und 7.073 in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen (BirGün 27.6.2022).

Auch wenn die Türkei über einen soliden Rechtsrahmen zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern, einschließlich Mädchen verfügt, so werden laut der "UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen ihre Ursachen und Folgen" einige der jüngsten Änderungen der türkischen Rechtsvorschriften zum sexuellen Missbrauch von Kindern (vom Dezember 2016) als Verstoß gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes angesehen (OHCHR 27.7.2022b, S. 4).

Früh- und Zwangsverheiratungen sind vor allem im Südosten weit verbreitet. Frauenrechtlerinnen berichten, dass das Problem nach wie vor gravierend ist. Überdies gibt es Brautentführungen, insbesondere in ländlichen Gebieten, obwohl diese Praktiken nicht weit verbreitet sind. NGOs berichten von Kindern im Alter von zwölf Jahren, die in inoffiziellen religiösen Zeremonien verheiratet werden, insbesondere in armen und ländlichen Regionen und unter der syrischen Gemeinschaft. Laut einer empirischen Studie der Hacettepe Universität aus 2018 heirateten 12 % der syrischen Mädchen in der Türkei vor dem Alter von 15 Jahren und 38 %, bevor sie 18 wurden. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass es während der COVID-19-Pandemie Fälle gab, in denen Familien Mädchen zur Heirat an Männer als Mittel der ökonomischen Krisenbewältigung "verkauften" (USDOS 20.3.2023a, S. 89). Siehe auch Unterkapitel "Flüchtlingskinder und minderjährige Flüchtlinge".

Sexueller Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung

Das Gesetz stellt die sexuelle Ausbeutung von Kindern unter Strafe und sieht eine Mindeststrafe von acht Jahren Gefängnis vor. Die Strafe für eine Verurteilung wegen Förderung oder Beihilfe zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern beträgt bis zu zehn Jahre Gefängnis. Wenn Gewalt oder Druck im Spiel sind, kann ein Richter die Strafe verdoppeln. Laut NGOs sind besonders junge syrische weibliche Flüchtlinge gefährdet, von kriminellen Organisationen ausgebeutet und zur Sexarbeit gedrängt zu werden (USDOS 20.3.2023a, S. 89).

Hinsichtlich Kindesmissbrauchs ermächtigt das Gesetz die Polizei und die lokalen Behörden, Kindern, die Opfer von Gewalt geworden oder von Gewalt bedroht sind, verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Dennoch berichten Kinderrechtsaktivisten über eine uneinheitliche Umsetzung und fordern eine Ausweitung der Unterstützung für die Opfer. Das Gesetz verpflichtet die Regierung, den Opfern Dienstleistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung, zur Verfügung zu stellen, und ermächtigt Familiengerichte, Sanktionen gegen die für die Gewalt verantwortlichen Personen zu verhängen. Ist das Opfer des Missbrauchs zwischen zwölf und 18 Jahren alt, so wird auf sexuelle Belästigung eine Freiheitsstrafe von drei bis acht Jahren, auf sexuellen Missbrauch eine Freiheitsstrafe von acht bis 15 Jahren und auf Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von mindestens 16 Jahren verhängt. Ist das Opfer jünger als zwölf Jahre, so wird auf Belästigung eine Mindeststrafe von fünf, auf sexuellen Missbrauch eine Mindeststrafe von zehn und auf Vergewaltigung eine Mindeststrafe von 18 Jahren verhängt. (USDOS 20.3.2023a, S. 88).

Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes war ernsthaft besorgt über die mangelnde Anerkennung, die unzureichende Berichterstattung und die unzureichende Untersuchung von Gewalt gegen Kinder, einschließlich körperlicher Züchtigung und häuslicher Gewalt, sowie über die begrenzten professionellen Kapazitäten und Verfahren, um solche Fälle zu verhindern, zu identifizieren, zu melden und in einer kindgerechten Weise darauf zu reagieren, einschließlich der Bereitstellung von Opferhilfe und des Zugangs zu Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, dass die Türkei ein Ziel- und Transitland für den Menschenhandel ist, zeigte sich das UN-Komitee besonders besorgt über den hohen Anteil von Kindern in der Türkei, die zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft gehandelt werden, sowie über Berichte über Mittäterschaft offizieller Stellen (UN-CRC 2.6.2023a).

Aus der Strafregisterstatistik des Justizministeriums geht hervor, dass die Strafgerichte in der Türkei im Jahr 2021 einen Anstieg von 32,55 % von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs gegenüber dem Vorjahr verzeichnete. Dementsprechend gab es Verurteilungen in 16.161 der 29.822 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, darunter sowohl Freiheits- als auch Geldstrafen (Duvar 29.6.2022, vgl. BirGün 27.6.2022). Der negative Trend setzte sich fort. - Ende März 2023 gab das Justizministerium bekannt, dass die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr wiederum um 33 % gestiegen ist. Kindesmissbrauchsdelikte verzeichneten 2023 den zweitstärksten Anstieg aller Straftaten. Menschenrechtsorganisationen werfen der türkischen Regierung vor, keine ausreichenden Maßnahmen zum Schutz von Kindern etabliert zu haben, obwohl das Land das Übereinkommen des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (sog. Lanzarote-Konvention) im Jahr 2011 ratifiziert hat (BAMF 3.4.2023, S. 9).

Kindersoldaten

Die USA setzten am 1.7.2021 die Türkei, und somit erstmalig ein NATO-Land, auf die Liste jener Staaten, die 2020 in den Einsatz von Kindersoldaten verwickelt waren, und zwar in die Rekrutierung und den Einsatz von Kindersoldaten in Syrien und Libyen. Laut dem Trafficking in Persons Report von 2021, unterstützt die Türkei die Sultan-Murad-Division in Syrien - ein Teil der syrischen Opposition - die laut dem US-Außenministerium Kindersoldaten rekrutiert und einsetzt (USDOS 1.7.2021; vgl. BAMF 5.7.2021, S. 15, MEE 1.7.2021).

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Der Zugang zu Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wasser und Unterkünften war die wichtigste Herausforderung nach dem Erdbeben, wobei Kinder häufig am stärksten gefährdet waren. Berichten zufolge schliefen mehrere Kinder im Freien oder lebten in improvisierten Lagern. Die Auswirkungen des Erdbebens auf die Schulbildung der Kinder sind eine zusätzliche Sorge. Kinder in den betroffenen Gemeinden haben aufgrund der obligatorischen Schulschließungen keinen Zugang mehr zu Bildung. Schließlich hat das Erdbeben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kinder ausgebeutet und missbraucht werden. Besonders Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden oder sich in einer unsicheren Situation befinden, sind anfällig für Ausbeutung (KRF 20.2.2023). Mehrere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder wurden aus den Erdbebengebieten vermeldet (EC 8.11.2023, S. 40). Es wird in dem Zusammenhang über Fälle von Kinderhandel und Kinderarbeit berichtet (KRF 20.2.2023).

Viele Türken waren empört über die Stellungnahme von Diyanet, der staatlichen Körperschaft für religiöse Angelegenheiten, wonach Adoptiveltern ihre Adoptivkinder heiraten dürfen. Anlass war der Umstand, dass Tausende Kinder durch die Erdbeben zu Waisen geworden waren. Diyanet begründete dies damit, wonach im Islam eine Adoption nicht vorgesehen sei und folglich diese Kinder vom Erbe ausgeschlossen wären. Allerdings wiesen die Kritiker, insbesondere Anwälte, darauf hin, dass das türkische Zivilrecht sehr wohl die Adoption von Kindern sowie die folgliche Erbberechtigung dieser vorsieht. Ehen zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern hingegen verbietet das türkische Gesetz (AlMon 22.2.2023). Die Europäische Kommission zeigte sich angesichts dieser Fatwa der Religionsbehörde äußerst besorgt (EC 8.11.2023, S. 40).

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Bewegungsfreiheit

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57).

Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).

Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl.ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Und vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).

Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit online 16.11.2023).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).

Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023a, S. 57f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).

Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Quellen

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf, Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]

Duvar - Duvar (20.10.2023): 15 MPs, deputy speaker of Turkish Parliament banned from traveling abroad, https://www.duvarenglish.com/15-mps-deputy-speaker-of-turkish-parliament-banned-from-traveling-abroad-news-63183, Zugriff 18.1.2024

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Duvar - Duvar (10.3.2022): HDP MP Gergerlioğlu files objection against int'l travel ban, seizure of passport, https://www.duvarenglish.com/hdp-mp-omer-faruk-gergerlioglu-files-objection-against-intl-travel-ban-seizure-of-passport-news-60577, Zugriff 18.1.2024

Duvar - Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256, Zugriff 18.1.2024

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HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000, Zugriff 18.1.2024

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TM - Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/, Zugriff 18.1.2024

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Zeit online - Zeit online (16.11.2023): Ausreiseverbot: Mindestens 65 deutsche Staatsbürger dürfen die Türkei nicht verlassen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/tuerkei-deutsche-ausreiseverbot-terrorverdacht-erdogan-besuch-deutschland, Zugriff 18.1.2024

Grundversorgung / Wirtschaft

Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3 % abschwächen, verglichen mit rund 4 % im Jahr 2023 und 5,5 % im Jahr 2022 (GTAI 12.12.2023a). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 10.2023, S. 4).

Bis zu den Mai-Wahlen 2023 verfolgte Staatspräsident Erdoğan trotz horrender Inflation eine Niedrigzinspolitik, die kurzfristig die Exporte und den Konsum anregte. Dies befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira, die in der Folge staatlich gestützt wurde. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen sind hoch. Instabile Rahmenbedingungen haben das Vertrauen der Investoren erschüttert. Nach den Wahlen im Frühjahr 2023 vollzog das Land einen Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Leitzins wurde bis Ende November 2023 schrittweise von 8,5 auf 40 % erhöht. Infolgedessen wird für 2024 ein Abschwächen des Wirtschaftswachstums erwartet. Weitere Herausforderungen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende geo- und innenpolitische Spannungen, aber auch hausgemachte Probleme (GTAI 12.12.2023b).

Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 12.12.2023b). Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 10.2023, S. 5). Die seit Juli 2023 wieder steigende offizielle Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr 2023 offiziell 64,77 %. Laut Berechnungen der Forschungsgruppe für Inflation (ENAGrup) stieg der Verbraucherpreisindex für denselben Zeitraum jedoch um 127,21 % (Duvar 3.1.2024a, vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist nach einem Höchststand von 14,2 % im Juli 2020 rückläufig und erreichte im August 2023 mit 9,2 % einen Tiefststand. Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit von 17,2 % bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im November 2023 bei 52,9 %. Die Erwerbsquote lag bei den Männern mit 70,7 % fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 35,5 % (TUIK 10.1.2024b).

Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2.140 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren (Erhebungszeitraum: Dezember 2022 - Jänner 2023) ergab, dass angesichts der wirtschaftlichen Stagnation 63 % der Befragten bereit sind die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9 % (KAS 1.6.2023). Und auch im Oktober 2023 gaben 39,1 % aller Türken und Türkinnen laut einer Umfrage von MetroPOLL Research an, dass sie gerne in einem anderen Land leben würden. Merklich höher lagen die Werte bei Anhängern der Opposition (Duvar 29.10.2023).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 %, gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch. Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialhilfezahlungen auf 151,9 Milliarden Lira oder 1,01 % des BIP (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers offiziell 0,415 im Jahr 2022, der höchste Wert der letzten zehn Jahre (TUIK 4.5.2023) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].

Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024b). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).

Nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 55 % im Jänner 2023 wurde dieser mit Juli 2023 auf 11.400 Lira netto (rund 440 Euro) erhöht, eine Steigerung von 34 %. Die Steigerung lag jedoch immer noch unter der offiziellen Inflationsrate, welche im Mai 2023 fast 40 % betrug. Laut unabhängigen Experten belief sich die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs bei mehr als 100 %. 40 % beträgt der Anteil der Bevölkerung, der vom Mindestlohn lebt. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die oben erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 23.6.2023). Ende Dezember 2023 kündigte die Regierung eine weitere Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 49 % auf rund 17.000 Lira (rund 520 Euro) an, denn seit Juni 2023 bzw. der letzten Erhöhung hatte der Mindestlohn circa 88 Euro an Wert eingebüßt (Duvar 27.12.2023; vgl. WKO 29.12.2023). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023).

Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Quellen

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Duvar - Duvar (3.1.2024b): Turkey’s poverty threshold hits nearly three times of new minimum wage, https://www.duvarenglish.com/turkeys-poverty-threshold-hits-nearly-three-times-of-new-minimum-wage-news-63595, Zugriff 31.1.2024

Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558, Zugriff 9.1.2024

Duvar - Duvar (29.10.2023): Four out of ten people in Turkey want to live abroad: Survey, https://www.duvarenglish.com/four-out-of-ten-people-in-turkey-want-to-live-abroad-survey-news-63229, Zugriff 8.11.2023

Duvar - Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908, Zugriff 8.11.2023

DW - Deutsche Welle (13.4.2023): Türkei vor der Wahl: Fleisch für viele Menschen unerschwinglich, https://www.dw.com/de/türkei-vor-der-wahl-fleisch-für-viele-menschen-unerschwinglich/a-65299835, Zugriff 10.11.2023

EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023

FP - Foreign Policy (27.1.2023): Erdogan’s Turkey Faces a Growing Exodus Ahead of Elections, https://foreignpolicy.com/2023/01/27/turkey-elections-erdogan-exodus-population-migration/, Zugriff 8.11.2023

GCT - Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/, Zugriff 8.11.2023

GTAI - Germany Trade and Invest (12.12.2023a): Türkei kämpft mit neuer Geldpolitik gegen die Krise, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-kaempft-mit-neuer-geldpolitik-gegen-die-krise-247908#toc-anchor--3, Zugriff 24.1.2024

GTAI - Germany Trade and Invest (12.12.2023b): Türkei kämpft mit neuer Geldpolitik gegen die Krise, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-kaempft-mit-neuer-geldpolitik-gegen-die-krise-247908#toc-anchor--3, Zugriff 10.1.2024

KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (1.6.2023): Jugendstudie Türkei 2023, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/tuerkische-jugendstudie-2023, Zugriff 8.11.2023

ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

Standard - Standard, Der (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect, Zugriff 9.1.2024

TM - Turkish Minute (25.1.2024): Hunger line surpasses Turkey’s 2024 minimum wage in January: union - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/01/25/hunger-line-surpass-turkey-2024-minimum-wage-in-january-union, Zugriff 31.1.2024

TM - Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/, Zugriff 7.11.2023

TM - Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/, Zugriff 8.11.2023

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TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (4.5.2023): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Income-Distribution-Statistics-2022-49745, Zugriff 10.1.2024

WKO - Wirtschaftskammer Österreich (29.12.2023): Türkei: Mindestlohnerhöhung um 49 % ab 1.1.2024, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/tuerkei-mindestlohnerhoehung, Zugriff 10.1.2024

WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.2023): Außenwirtschaft Wirtschaftsbericht Türkei, https://www.wko.at/oe/aussenwirtschaft/tuerkei-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 8.11.2023

WKO - Wirtschaftskammer Österreich (23.6.2023): Mindestlohn ab 1.7.2023 um 34 % höher, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/mindestlohn-tuerkei, Zugriff 8.11.2023

WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, http://web.archive.org/web/20230401112003/https:/www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html, Zugriff 8.11.2023

Sozialbeihilfen / -versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).

Quellen

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf, Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]

ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins [Link funktioniert nicht mehr. - Quelle liegt bei der Staatendokumentatino auf.], Zugriff 6.11.2023

SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html, Zugriff 7.11.2023

Arbeitslosenunterstützung

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D..; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).

Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, berechnet am 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).

Quellen

IOM - International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS 2022 Türkei DE.pdf, Zugriff 6.11.2023

IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf, Zugriff 7.11.2023

İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/, Zugriff 10.1.2024

ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

Medizinische Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54; vgl. MPI-SRSP 3.2022), genauer, wenn das Haushaltseinkommen pro Person ein Drittel des Bruttomindestlohns unterschreitet (MPI-SRSP 3.2022). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016).

Die Gesundheitsausgaben der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. aus eigener Tasche erreichten im Jahr 2022 knapp über 112 Milliarden Lira, was einem Anstieg von 98,8 % gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte an den gesamten Gesundheitsausgaben lag 2022 bei 18,5 %, während dieser 2021 noch 15,9 % ausmachte (TUIK 7.12.2023).

Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:

Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.

Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.

Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).

GSS - Allgemeine Krankenversicherung

Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, wurde mit dem durch das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz allen türkischen Bürgern der Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Das GSS erfasst Personen, die gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind; Personen, die ein Einkommen oder eine Pension nach dem Gesetz Nr. 5510 über die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung beziehen; Bürger, deren Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Drittel des Mindestlohns beträgt; sowie türkische Staatsbürger, die nicht über eine allgemeine Krankenversicherung verfügen, oder Unterhaltsberechtigte ohne Einkommensermittlung, Kinder unter 18 Jahren, Personen, die Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld beziehen. - Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist. Was die Kosten betrifft, so beträgt die allgemeine Krankenversicherungsprämie für Personen, deren Einkommen über einem Drittel des Bruttomindestlohns liegt, 3 % dieses Bruttomindestlohns. Die Höhe der von den Versicherten im Jahr 2023 zu zahlenden allgemeinen Krankenversicherungsprämie beträgt rund 300 Lira pro Monat (EUAA 8.4.2023).

Selbstbehalt (Zuzahlungen)

Beim Selbstbehalt (i.e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).

Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SRSP 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SRSP 20.6.2020).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022b). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022b).

Quellen

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf, Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]

Duvar - Duvar (23.5.2022): Top Turkish medical group: Seven doctors going abroad every day, https://www.duvarenglish.com/no-monkeypox-cases-detected-in-turkey-health-ministry-news-60868, Zugriff 6.11.2023

EUAA - European Union Agency for Asylum (8.4.2023): Medical Country of Origin Information [ACC 7765], https://medcoi.euaa.europa.eu/Source/Detail/23301, Zugriff 3.11.2023 [Login erforderlich]

FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.3.2022b): Brain-Drain: Die Abwanderung türkischer Ärztinnen und Ärzte, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/brain-drain-die-abwanderung-turkischer-aerztinnen-und-aerzte?utm_source=newsletter utm_medium=email utm_campaign=Newsletter 2021-12-08T17:03:25+01:00, Zugriff 6.11.2023

IOM - International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS 2022 Türkei DE.pdf, Zugriff 6.11.2023

MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (3.2022): Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei, Berichtszeitraum: März 2021 – März 2022, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_3_2022_Turkey.pdf, Zugriff 6.11.2023

MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__Türkei.pdf, Zugriff 6.11.2023

MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_Türkei__final.pdf, Zugriff 6.11.2023

ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins [Link funktioniert nicht mehr. - Quelle liegt bei der Staatendokumentatino auf.], Zugriff 6.11.2023

TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (7.12.2023): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Health-Expenditure-Statistics-2022-49676, Zugriff 10.1.2024

Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z.B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2023).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/

TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).

Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).

Quellen

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DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 6.12.2023

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Independent - Independent, The (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtdışında-yaşayan-binlerce-kişiye-türkiye-girişlerinde-sosyal-medya-paylaşımları, Zugriff 10.1.2024

MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023

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VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail

ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

SCF - Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/, Zugriff 11.1.2024

TRMFA - Republic of Turkey - Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (2022): PKK, https://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 11.1.2024 [Login erforderlich]

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TÜRKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

– Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Verwaltungsakte des BFA;

– Mündliche Verhandlung am 14.06.2023, 23.08.2023 und 20.03.2024;

– Einsicht in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers;

Einsicht in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel (siehe 2.2. und 2.3.)

2.1. Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus den Akteninhalten.

2.2. Zu den Beschwerdeführern:

Die Feststellungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit, der Identität der Beschwerdeführer sowie hinsichtlich ihrer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet ergeben sich aus den türkischen Personalausweisen (Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX ) sowie den Akteninhalten. Seitens der Beschwerdeführer liegen auch Kopien der türkischen Reisepässe vor (Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX , Nr. XXXX ).

Die Feststellungen zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den familiären und privaten Verhältnissen der Beschwerdeführer gründen sich auf den in diesen Punkten glaubwürdigen Angaben im Asylverfahren.

Dass die Beschwerdeführer über keine nennenswerten Deutschkenntnisse verfügen, beruht den persönlichen Wahrnehmungen des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die Erst- bis Viertbeschwerdeführer. Weiters wurden seitens des Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin keine Bestätigungen über den Besuch von Deutschqualifizierungsmaßnahmen oder Zeugnisse einer abgelegten Deutschprüfung vorgelegt. Der Erstbeschwerdeführer gab an, dass er lediglich in Deutschland zwei Monate lang einen Deutschkurs besucht habe, in Österreich jedoch nicht. Auch die Zweitbeschwerdeführerin erklärte, dass sie noch keinen Deutschkurs besucht habe. Die Dritt- und Vierbeschwerdeführer erklärten in der mündlichen Verhandlung, dass sie „bisschen“ die deutsche Sprache sprechen, woraufhin die mündliche Verhandlung in türkischer Sprache fortgeführt wurde. Der Schulnachricht vom 02.02.2024 der 3. Klasse Volksschule betreffend den Viertbeschwerdeführer ist beim Unterrichtsfach „Deutsch“ die Beurteilung „nicht beurteilt“ zu entnehmen. Betreffend die Dritt- und Fünftbeschwerdeführer liegen Schulbesuchsbestätigungen vom 02.02.2024 (Vorschulstufe Fünftbeschwerdeführer, 2. Klasse Mittelschule Drittbeschwerdeführer) und eine Schulnachricht zum 1. Halbjahr der 2. Klasse Volksschule betreffend den Fünftbeschwerdeführer vor. Bei den Beurteilungen im Unterrichtsfach „Deutsch“ enthalten die Schulbesuchsbestätigung die Beurteilungen „teilgenommen“. Aus der Schulnachricht des Fünftbeschwerdeführers kann unter anderem entnommen werden, dass er sich beim Schreiben Mühe gebe, obwohl es ihm sehr schwer falle und er schon einige Buchstaben erkennen könne. Der Sechstbeschwerdeführer besucht weder den Kindergarten, noch die Schule und ist nicht anzunehmen, dass er im Wege der Eltern oder Geschwister, welche selbst über keine nennenswerten Deutschkenntnisse verfügen, die deutsche Sprache erlernt. Insgesamt ist daher erkennbar, dass die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer bis auf wenige Worte die deutsche Sprache nicht beherrschen und der Erstbeschwerdeführer Deutschkenntnisse auf einfachem Niveau aufweist.

Dass die Beschwerdeführer an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden, beruht auf den dahingehenden konstanten Ausführungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Aus dem Gesundheitszustand folgt auch die Arbeitsfähigkeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und war der Erstbeschwerdeführer in Österreich bereits erwerbstätig.

Die Feststellungen zum Wohnsitz der Fünftbeschwerdeführer gehen aus dem zentralen Melderegister hervor.

Die Schulbesuche der Dritt- und Vierbeschwerdeführer in der Türkei beruhen auf den dahingehend konstanten Angaben der Erst- bis Viertbeschwerdeführer sowie der Bestätigung der XXXX Grundschule in XXXX betreffend den Viertbeschwerdeführer und dem Zertifikat der XXXX Sekundarschule betreffend den Drittbeschwerdeführer.

Dass die Erst- bis Viertbeschwerdeführer über Slowenin nach Deutschland gelangten und sowohl in Slowenien, als auch in Deutschland Anträge auf internationalen Schutz stellten bzw. nach der Geburt der Fünft- und Sechstbeschwerdeführer in Deutschland auch für diese Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden und die Beschwerdeführer nach dem negativen Ausgang der Asylverfahren in Deutschland im Juli 2020 freiwillig in die Türkei zurückgekehrt sind, geht aus den Auskünften des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom XXXX , der Terminkarte des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten vom XXXX , den fünf Kopien der Ein- und Ausreiseformulare, dem Eurodac-Treffer-Ergebnis sowie dem Schreiben der slowenischen Asylbehörden vom XXXX hervor.

Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich strafrechtlich unbescholten sind, geht aus der Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich hervor. Die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer sind aufgrund ihres Altern noch nicht deliktsfähig.

Dass der Erstbeschwerdeführer von 27.07.2023 bis 26.07.2024 über eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als gastgewerbliche Hilfskraft im Ausmaß von zehn Stunden pro Woche verfügte, ist dem XXXX XXXX , zu entnehmen. Die Berufstätigkeit des Erstbeschwerdeführers geht aus der eingeholten Auskunft des Sozialversicherungsträgers sowie der Lohn- und Gehaltsabrechnung vom August 2023 hervor.

Die Zweitbeschwerdeführerin war beim Sozialversicherungsträger nie als erwerbstätig gemeldet und hat selbst nicht vorgebracht in Österreich einer Beschäftigung nachgegangen zu sein.

Dass die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer die Mittel- bzw. Volksschule in Österreich besuchen beruht auf den Schulbesuchsbestätigungen 2023/24 der Volksschule XXXX , Volksschule XXXX und der XXXX Mittelschule für Wirtschaft und Technik. Zum Sechstbeschwerdeführer erklärte die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung am 14.06.2023, dass dieser noch keinen Kindergarten besuche.

Der Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber ist dem Fremdeninformationssystem zu entnehmen.

2.3. Zum Vorbringen:

Vorweg ist festzuhalten, dass die Zweitbeschwerdeführerin vorbrachte, dass für sie und die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe vorliegen und sie aufgrund der Probleme des Erstbeschwerdeführers die Türkei verlassen habe. Auch vom Erstbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe für die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer vorgebracht.

Zu den von der Zweitbeschwerdeführerin einmal angesprochen wirtschaftlichen Erwägungen ist anzumerken, dass etwaige wirtschaftliche oder private Schwierigkeiten objektiv nicht dazu geeignet sind, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK zu begründen. Der bloße Wunsch, in Österreich ein besseres Leben aufgrund eines erhofften leichteren Zugangs zum Arbeitsmarkt zu haben, vermag die Gewährung von Asyl jedenfalls nicht zu rechtfertigen. Die Zweitbeschwerdeführerin vermochte es auch nicht darzulegen, dass ihre persönlichen Verhältnisse ein Resultat ihrer persönlichen Merkmale (wie etwa Abstammung oder Religionszugehörigkeit) seien (zur fehlenden asylrechtlichen Relevanz wirtschaftlich motivierter Ausreisegründe siehe auch Erk. d. VwGH vom 6.3.1996, Zi. 95/20/0110 oder vom 20.6. 1995, Zl. 95/19/0040).

Zum Erstbeschwerdeführer:

Die Feststellungen, dass der Erstbeschwerdeführer seinen Militärdienst in der Türkei bis dato noch nicht abgeleistet hat, am 15.08.2022 von der Polizei aufgegriffen wurde und er nach der medizinischen Untersuchung im Hinblick auf den abzuleistenden Militärdienst die Türkei verlassen hat, ohne das Ergebnis abzuwarten, ergibt sich aus dem Protokoll der Gendarmerie – Dienststelle XXXX vom 15.08.2022, den zwei E-Devlet-Auszügen ohne Datum und seinen damit in Einklang stehenden Angaben in der mündlichen Verhandlung.

Die Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers bei der DBP seit der zweiten Hälfte des Jahres 2022 (Periode 2022/2) beruht auf dem Mitgliedsausweis Nr. XXXX und den Auszügen aus dem Register der politischen Parteien vom 21.02.2023 und 24.03.2023.

Zur erstmals vor dem BFA behaupteten Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers bei der HDP seit 2015 legte er - trotz Ankündigung - keinen Mitgliedsausweis oder eine sonstige Bestätigung vor. Dem vorgelegten Flugblatt vom 30.1. (ohne Jahresangabe), mit dem ein allgemeiner Aufruf zur Versammlung der Organisation der HDP in der Kreisstadt XXXX erfolgte, kann eine Mitgliedschaft ebenfalls nicht entnommen werden. Das Flugblatt enthält keinerlei Hinweise auf die Person des Erstbeschwerdeführers.

Der Erstbeschwerdeführer behauptete zudem, dass er seine Mitgliedskarte der HDP den deutschen Behörden übergeben und nicht wieder zurückbekommen habe. Ihm war es aber durchaus möglich, in Bezug auf die DBP einen Auszug aus dem Register der politischen Parteien zu erstellen und ist nicht ersichtlich, weshalb ihm dies nicht auch im Hinblick auf die HDP möglich sein sollte. Im Übrigen verwies der Erstbeschwerdeführer vor dem BFA auf Mitgliedsbeitragszahlungen seinerseits und kündigte an, Nachweise darüber vorzulegen. Diesbezügliche Nachweise hat er ebenfalls nicht in Vorlage gebracht. Ein Mitgliedsausweis, Einzahlungsbestätigungen oder ein Auszug aus dem Register der politischen Parteien liegen im Hinblick auf die HDP sohin nicht vor.

In der Beschwerde wurde ebenso darauf verwiesen, dass der Erstbeschwerdeführer Sympathisant und nach wie vor aktives Mitglied der HDP sei, weshalb er Probleme mit den staatlichen Behörden sowie mit türkisch-nationalistischen Gruppierungen in seinem Heimatort bekommen habe.

In der mündlichen Verhandlung am 14.06.2023 erklärte der Erstbeschwerdeführer, dass er aktives Mitglied der HDP gewesen sei, diese Partei jetzt anders heiße und er nun dort Mitglied sei. Er sei jetzt Mitglied der DBP, wobei er auch bei dieser Partei Angst habe, dass sie von der Regierung nicht zugelassen werde. Die nächste Partei heiße Yesil Sol Parti (grün-links-orientierte Partei).

Es zeigt sich demnach, dass immer wieder zwischen den Behauptungen, dass der Erstbeschwerdeführer nach wie vor Mitglied der HDP sei bzw. er dies seit dem Wechsel zur Partei DBP nicht mehr sei, gewechselt wird, was vor dem Hintergrund, dass er eine Parteimitgliedschaft bei der HDP als Auslöser für Verfolgungshandlungen in der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnte und auch keine Beweismittel für eine (ehemalige) Mitgliedschaft bei der HDP in Vorlage gebracht hat, eindeutig gegen eine offizielle Mitgliedschaft bei der HDP spricht.

Es wäre zu erwarten, dass der Erstbeschwerdeführer von Anfang an keine sich bietende Gelegenheit zu einem solchen Vorbringen, nämlich eine Mitgliedschaft in einer politischen Partei, aufgrund der er Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei und die eine mögliche Bedeutung für sein Schutzbegehren haben könnte, ungenützt vorübergehen lassen würde (vgl. VwGH 07.06.2000, 2000/01/0205). Demgegenüber beschränkte er sich aber in seinem Vorbringen vorerst auf lediglich allgemeine Diskriminierungen, den nicht abgeleisteten Militärdienst und wirtschaftliche Gründe. Darüber hinaus entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (vgl. VwGH 11.11.1998, 98/01/0356).

Von einer tatsächlichen (früheren) Mitgliedschaft bei der HDP ist demnach nicht auszugehen und stellte er auch sein behauptetes ausgeübtes Engagement für diese Partei sowie darauf gründende Folgen für ihn im Laufe des Verfahrens divergierend dar.

Wie bereits festgehalten kam im Rahmen der Erstbefragung seitens des Erstbeschwerdeführers eine Mitgliedschaft bei einer politischen Partei oder ein sonstiges Engagement für die kurdischen Belange nicht zur Sprache. Er bezog sich zur Frage nach seinen Fluchtgründen zwar auf die mangelnden Rechte der Kurden in der Türkei sowie auf seinen noch ausstehenden Militärdienst, welchen er nicht ableisten wolle, weil er gegen sein eigenes Volk kämpfen müsse. Er erwähnte zu diesem Zeitpunkt jedoch weder Probleme aufgrund eines politischen Engagements, noch äußerte er sich sonst zur politischen Partei HDP und bestätigte explizit, dass er keine weiteren Fluchtgründe habe. Zum Falle einer Rückkehr in die Türkei führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass er eine Gefängnisstrafe wegen des nicht abgeleisteten Militärdienstes sowie Armut befürchte.

In weiterer Folge wurde der Erstbeschwerdeführer am 11.11.2022 und am 15.02.2023 vor dem BFA einvernommen. Dabei führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass er ab 2015 Mitglied bei der HDP gewesen sei und er gemeinsam mit seinem Vater Menschen besucht habe, um diese von einem Parteieintritt zu überzeugen. Zudem hätten sie sich dafür eingesetzt, mehr Wähler zu bekommen und auch an Kundgebungen sowie Veranstaltungen der Partei teilgenommen. Ca. zwei Monate vor seiner Ausreise sei in einer Sitzung besprochen worden, dass die Partei geschlossen werde und sie sich für die Nachfolgepartei engagieren sollten. Weiters sei berichtet worden, wie es dem Vorsitzenden Selahattin Demirtas gehe und sei sein Vater zum Vorstand der neuen Partei DBP gewählt worden. In Österreich habe der Erstbeschwerdeführer dann ein Mitgliedsformular der DBP ausgefüllt und in die Türkei geschickt, weshalb er auch kein HDP-Mitglied mehr sei. Als DBP Mitglied habe er von Österreich aus Freunde in der Türkei angerufen und ihnen gesagt, dass sie sich bei der neuen Partei engagieren sollen.

Konkret gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlungen oder Probleme aufgrund der beschriebenen politischen Aktivitäten oder der Mitgliedschaft bei der HDP bzw. DBP brachte der Erstbeschwerdeführer vor dem BFA nicht vor und bestätigte vielmehr, dass er ausschließlich wegen seines fehlenden Wehrdienstes direkt gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlugen ausgesetzt gewesen sei. Dabei blieb der Erstbeschwerdeführer jedoch nicht und vermeinte unmittelbar anschließend, dass er wegen des Militärdienstes, seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines politischen Engagements in der Partei verfolgt oder bedroht worden sei, wobei er keine konkreten Vorfälle benannte. Zu allfälligen Rückehrbefürchtungen erklärte der Erstbeschwerdeführer wiederum nur, dass er Angst habe, wegen des Militärdienstes festgenommen und inhaftiert zu werden (AS 193). Befürchtungen in Zusammenhang mit einem politischen Engagement kamen nicht zur Sprache.

In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass der Erstbeschwerdeführer im Rahmen der Tätigkeit für die HDP an Demonstrationen teilgenommen habe.

In der mündlichen Verhandlung am 14.06.2023 vermeinte der Erstbeschwerdeführer, dass er die Türkei im September 2022 verlassen habe, weil eine Verhandlung wegen des Politikums gegen ihn stattgefunden hätte. Die Nachfrage, was er mit „Verhandlung wegen des Politikums“ meine, beantwortete der Erstbeschwerdeführer ausweichend, indem er auf seine frühere Mitgliedschaft bei der HDP verwies, welche jetzt DBP heiße und er Angst habe, dass diese Partei von der Regierung nicht zugelassen bzw. verboten werde. Auf die erneute Frage, welche Verhandlung gegen den Erstbeschwerdeführer stattfinden hätte sollen, vermeinte der Erstbeschwerdeführer, dass er vom Militär eingezogen hätte werden müssen, aber noch nichts offiziell in Gange sei. Ein Verfahren gebe es aber wegen politischer Betätigung. Dies resultiere daraus, dass er sich gemeinsam mit seinem Vater bei der HDP engagiert und sie neue Mitglieder angeworben hätten. Damit hätten sie eine Politik gegen die Regierung betrieben. Der Erstbeschwerdeführer sei von seinem Rechtsanwalt darüber informiert worden, dass ein Verfahren gegen sie eingeleitet worden sei und im Oktober 2022 eine Verhandlung stattfinden sollte, weshalb der Rechtsanwalt die Ausreise aus der Türkei empfohlen habe.

Die Frage, ob der Vater des Erstbeschwerdeführers bei dieser Gerichtsverhandlung anwesend gewesen sei, verneinte der Erstbeschwerdeführer und erklärte, dass gegen diesen kein Verfahren eingeleitet worden sei. Er erklärte jedoch, dass sein Bruder anwesend gewesen und zu vier Jahren Haft verurteilt worden sei. Dagegen habe sein Bruder Berufung erhoben und das Verfahren sei nunmehr in der nächsten Instanz anhängig. Gleichzeitig habe sein Bruder auch ein Ausreiseverbot erhalten. Der Grund für die Verurteilung sei, dass sie Kurden und HDP Mitglieder seien. Sie wüssten bis heute nicht, „welche Strafe“ bzw. warum sie angeklagt worden seien.

Im Weiteren wurde der Erstbeschwerdeführer gefragt, worum es in dem von ihm in Vorlage gebrachten Schreiben des Strafgerichtes XXXX vom 13.04.2023 geht. Der Erstbeschwerdeführer erklärte, dass darin festgehalten sei, dass ein Festnahmebescheid erlassen worden sei. Sie seien zu ihm nach Hause gekommen, hätten ihn nicht angetroffen und sei deshalb die Festnahme angeordnet worden. Es läge auf der Hand, dass er wegen seines politischen Engagements verhaftet werden sollte. Man müsse ihn festnehmen, dann werde er verhört und dann komme es zur Anklageschrift.

Zusammengefasst erklärte der Erstbeschwerdeführer sohin zunächst, dass er gemeinsam mit seinem Vater Menschen besucht habe, um diese von einem Parteieintritt zur HDP zu überzeugen, und dass sie sich dafür eingesetzt hätten, mehr Wähler zu bekommen. Zudem hätten sie an Kundgebungen und Veranstaltungen der Partei teilgenommen. In der Beschwerde wurde keine Mitgliederakquirierung vorgebracht und ausschließlich darauf verwiesen, dass der Erstbeschwerdeführer an Demonstrationen teilgenommen habe. In der mündlichen Verhandlung kam wiederum nur die Mitgliederakquirierung zur Sprache, wobei der Erstbeschwerdeführer sein Engagement dahingehend konkretisierte, dass er vor 2016 – als die HDP viele Mitglieder verloren hätte – die Aufgabe gehabt hätte, ehemalige Mitglieder und neue Mitglieder in die Partei zu holen. Dazu hätten sie Leute zu Hause besucht und auch Veranstaltungen ausgerichtet, um sich bekannter zu machen. Im Verlauf der weiteren Befragung erklärte der Erstbeschwerdeführer, dass sich das Vereinshaus in XXXX befunden habe, woraufhin der Beschwerdeführer gefragt wurde, ob er bis 2016 dann immer von Istanbul nach XXXX gefahren sei. Der Erstbeschwerdeführer vermeinte daraufhin, dass er nach seiner Rückkehr aus Deutschland in XXXX gewohnt habe und er von dieser Zeit spreche. Vor 2016 sei er normales Mitglied gewesen und bei Veranstaltungen bzw. Versammlungen anwesend gewesen. Die folgende Frage, welches Mitglied er dann nach 2016 gewesen sei, beantwortete der Erstbeschwerdeführer lediglich mit „Ich war Mitglied“.

Die Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers wurde daher in zweierlei Ausmaß beschrieben (einerseits überwiegend Mitgliederakquirierung, andererseits Teilnahme an Demonstrationen), wobei letztlich hinsichtlich des Ausmaßes des Engagements differenziert wurde nach vor 2016 (Ausreise nach Deutschland) und nach Juli 2020 (Rückkehr in die Türkei) in „normales Mitglied“ und „Mitglied“, wobei erklärend angemerkt wurde, dass er vor 2016 bei Veranstaltungen und Versammlungen gewesen sei, was bedeuten würde, dass die Mitgliederakquirierung erst nach Juli 2020 begonnen habe. Das Engagement des Erstbeschwerdeführers für die HDP wurde bis zu diesem Zeitpunkt jedoch nie in die beschriebenen Zeitabschnitte eingeteilt.

Kontinuierliche, konstante Angaben zu seinen Tätigkeiten für die HDP liegen sohin bei Weitem nicht vor, weshalb maßgebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erstbeschwerdeführers hinsichtlich seines politischen Engagements bestehen.

Erstmals kamen in der mündlichen Verhandlung auch Folgen für den Erstbeschwerdeführer aufgrund seiner behaupteten Mitgliedschaft bzw. seines behaupteten Engagements für die HDP zur Sprache (eingeleitetes Strafverfahren), obwohl davon auszugehen ist, dass ein Asylwerber, wohl keine sich bietende Möglichkeit ungenützt verstreichen lässt, um alle Beweggründe, die ihn zum Verlassen des Heimatlandes bewogen haben, ehestmöglich vorzubringen. Es handelt sich daher um ein erst sehr spät im Verfahren vorgebrachtes Vorbringen (vgl. 28.01.2016, Ra 2015/21/0199), was für sich alleine bereits die mangelnde Glaubwürdigkeit des Vorbringens indiziert.

Zudem deuten mehrere Ungereimtheiten auf ein konstruiertes Vorbringen hin. Der Erstbeschwerdeführer gab im Wesentlichen an, dass er gemeinsam mit seinem Vater Mitglieder für die HDP gewinnen hätte wollen, erwähnte jedoch nie, dass daran auch sein Bruder beteiligt gewesen sei oder dieser sich in sonstiger Weise für die HDP engagiert habe. Als Auswirkung für seine Person behauptet der Erstbeschwerdeführer, dass eine Verhandlung wegen der politischen Betätigung im Oktober 2022 angesetzt gewesen sei. Der Beschwerdeführer bezog sich dabei auch auf seinen Vater, indem er zB erklärte, dass das Verfahren wegen politischer Tätigkeit ein Resultat seines Engagements mit seinem Vater für die HDP gewesen sei und „ihnen“ das vorgeworfen werde. Weiters merkte der Erstbeschwerdeführer an: „Der Rechtsanwalt hat uns darüber unterrichtet, dass ein Verfahren gegen uns eingeleitet wurde und wir das Land verlassen sollen.“ Dabei bezog sich der Erstbeschwerdeführer offensichtlich auf sich und seinen Vater. Auf die Frage, ob sein Vater bei der Gerichtsverhandlung gewesen sei, entgegnete der Erstbeschwerdeführer jedoch, dass gegen diesen noch kein Verfahren eingeleitet worden sei.

Der Erstbeschwerdeführer bejahte jedoch die anschließend gestellte Frage, ob sein Bruder bei dieser Verhandlung gewesen sei und führte aus, dass dieser an der Verhandlung teilgenommen und dort angegeben habe, dass der Erstbeschwerdeführer nach Deutschland geflohen sei. Sein Bruder sei zu vier Jahren Haftstrafe verurteilt worden, wobei dieser dagegen Berufung erhoben habe und das Verfahren in der nächsten Instanz noch offen sei. Sein Bruder habe zudem ein Ausreiseverbot erhalten. Die Verurteilung beruhe darauf, dass sie Kurden seien und HDP-Mitglieder. Bis heute wüssten sie aber die „Strafe“ nicht bzw. weshalb sie angeklagt worden seien.

Der Erstbeschwerdeführer erwähnte bis zu diesem Zeitpunkt nie, dass er gemeinsam mit seinem Bruder für die HDP aktiv gewesen sei und nannte ausschließlich seinen Vater, der ihn bei der Mitgliederakquirierung geholfen habe. Warum er erst auf die Nachfrage des erkennenden Richters seinen Bruder ins Spiel brachte, ist daher nicht schlüssig nachvollziehbar.

Die Frage nach dem Bruder des Beschwerdeführers stützte sich unter anderem auf vom Erstbeschwerdeführer vorgelegte Unterlagen zu einem Strafverfahren vor dem 15. Schwurgericht XXXX zur Aktenzahl XXXX .

Es handelt sich dabei um Verhandlungsprotokolle der zweiten und vierten Sitzung eines Strafverfahrens vom 13.04.2023 und 27.02.2024, wobei daraus weder hervorgeht, was den Angeklagten konkret vorgeworfen wird bzw. auf welche gesetzliche Grundlage die Anklage gestützt ist. Abgesehen davon, ist der Inhalt der Verhandlungsprotokolle nicht mit dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers in Einklang zu bringen. Der Erstbeschwerdeführer hat im gesamten Verfahren mit keinem Wort erwähnt, dass neben ihm und seinem Vater noch weitere Personen angeklagt worden seien. Den Verhandlungsprotokollen sind jedoch mehrere Angeklagte, nämlich der Erstbeschwerdeführer, XXXX , XXXX sowie XXXX (Bruder des Erstbeschwerdeführers) zu entnehmen. In Bezug auf seinen Bruder hat der Erstbeschwerdeführer vor dem BFA lediglich ausgeführt, dass gegen diesen ein Ausreiseverbot ausgesprochen worden sei und dieser auch vorhabe wegen des Militärdienstes und politischer Aktivitäten zu flüchten. Ein anhängiges Strafverfahren betreffend seinen Bruder erwähnte der Erstbeschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt nicht. Vielmehr verwies er auf einen Cousin, welcher eine Haftstrafe im Ausmaß von acht Jahren erhalten habe, weil er im Alter von zehn Jahren für zehn Tage von den Soldaten in die Berge mitgenommen worden sei.

Der Vater des Erstbeschwerdeführers, welcher den Angaben des Erstbeschwerdeführers folgend im Wesentlichen dieselben politischen Aktivitäten wie der Erstbeschwerdeführer ausgeübt habe, scheint jedoch nicht als Angeklagter auf bzw. sei laut Angaben des Erstbeschwerdeführers gegen diesen kein Strafverfahren eingeleitet worden. Stattdessen führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass sein Vater sich jeden Tag in der Parteizentrale der DBP aufhalte und es diesem gut gehe. Warum zwischen dem Erstbeschwerdeführer und seinem Vater ein Unterschied in Bezug auf eine Strafverfolgung gemacht werden sollte, obwohl sie grundsätzlich ein ähnliches Engagement für die HDP gezeigt hätten und der Vater des Erstbeschwerdeführers darüber hinaus auch noch zum Vorstand der DBP gewählt worden sei, ist ebenfalls nicht schlüssig erklärbar.

Weiters lässt die Aktenzahl des in Vorlage gebrachten Protokolls darauf schließen, dass das Strafverfahren erst im Jahr 2022 eingeleitet wurde, was angesichts dessen, dass der Erstbeschwerdeführer bereits seit 2015 Mitglied der HDP gewesen sei und er sich laufend für die HDP engagiert habe, einen sehr späten Zeitpunkt darstellt, bzw. vermochte der Erstbeschwerdeführer nicht nachvollziehbar darzulegen, weshalb erst zu diesem Zeitpunkt ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei. Der Erstbeschwerdeführer hat sich zwar von 2016 bis Juli 2020 nicht in der Türkei aufgehalten, konnte 2020 jedoch problemlos wieder in die Türkei einreisen und sich über zwei Jahre hinweg – seinen Angaben folgend – verstärkt seinem politischen Engagement widmen, ohne irgendwelchen Repressalien ausgesetzt zu sein. In der mündlichen Verhandlung am 14.06.2023 vermeinte der Erstbeschwerdeführer zudem, dass die Wahlen im Jahr 2022 der Grund für die Einleitung des Strafverfahrens gegen ihn gewesen seien. Auf welche Wahlen er sich dabei bezogen hat, ließ er offen und ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Präsidentschaftswahl und Parlamentswahl erst im Jahr 2023 bzw. Kommunalwahlen 2019 bzw. 2024 stattgefunden haben. Nicht nur, dass er als vermeintlich politisch interessierte Person über die Wahlen nicht informiert zu sein scheint, hat er damit auch keinen nachvollziehbaren Grund für die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn dargetan.

In der Einvernahme vor dem BFA am 15.02.2023, also zu einem Zeitpunkt, an dem das Strafverfahren bereits eingeleitet worden sei, führte der Erstbeschwerdeführer auch aus, dass er dreimal wegen seines nicht abgeleisteten Wehrdienstes festgenommen worden sei, sonst aber keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei. Dass er ein gegen ihn eingeleitetes Strafverfahren aufgrund seiner vermeintlichen politischen Tätigkeiten nicht erwähnte, spricht ebenfalls dafür, dass ein Strafverfahren gegen ihn wegen eines politischen Engagements erst gar nicht eingeleitet worden sei.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung am 20.03.2024 wurde der Erstbeschwerdeführer erneut zum Strafverfahren vor dem 15. Schwurgericht XXXX zur Aktenzahl XXXX – insbesondere zum Verfahrensgegenstand – befragt, woraufhin dieser erklärte, dass dieser dem Urteil zu entnehmen sei. Auf den Vorhalt des erkennenden Richters, dass seitens des Erstbeschwerdeführers kein Urteil eines türkischen Gerichtes vorgelegt wurde, vermeinte der Erstbeschwerdeführer wiederum, dass die Verfahren immer wieder verschoben worden seien, weil er nicht anwesend gewesen sei. Weiters führte er zum Verfahrensgegenstand aus, dass er illegal in den Irak gefahren sei, um dort zu arbeiten, wobei er sich anschließend korrigierte und ausführte, dass es nicht wegen dem Arbeiten, sondern wegen der Partei gewesen sei. Er habe im Irak für die HDP-Partei gearbeitet und sei dort unterstützend für die Partei und bei Versammlungen tätig gewesen. Zur Tätigkeit der HDP im Irak befragt, antwortete der Erstbeschwerdeführer, dass es auch dort Kurden und diese Partei gebe. Als er in die Türkei zurückgekehrt sei, hätten sie ihn festgenommen. Auf die Frage, wann er festgenommen worden sei, korrigierte sich der Erstbeschwerdeführer erneut und vermeinte, dass er nicht festgenommen worden, sondern ein Verfahren gegen ihn eröffnet worden sei, in dem er bei der ersten Vernehmung auch anwesend gewesen sei; bei den weiteren Vernehmungen jedoch nicht mehr.

Der Erstbeschwerdeführer stellte das Strafverfahren vor dem vor dem 15. Schwurgericht XXXX zur Aktenzahl XXXX sohin zunächst als Folge einer illegalen Ausreise in den Irak zu Arbeitszwecken dar, was grundsätzlich mit seinen Angaben zu seiner beruflichen Tätigkeit nach seiner Rückkehr von Deutschland in die Türkei in Einklang steht. Demnach habe er Möbel und Elektrowaren von der Türkei in den Irak transportiert. Damit wich er jedoch eklatant vom bisher zu diesem Strafverfahren getätigten Angaben ab, was er zu korrigieren versuchte indem er unmittelbar anschließend wieder erklärte, dass dieses Strafverfahren mit seiner Tätigkeit für die HDP zusammenhänge. Wobei auch hier Widersprüche in Bezug auf die bisher beschriebenen Tätigkeiten für die HDP auffallen, zumal der Erstbeschwerdeführer erstmals behauptete, dass er im Irak für die HDP tätig gewesen sei. Fraglich ist auch die widersprüchliche Behauptung einer Festnahme, welche letztlich doch zu einer Einleitung eines Strafverfahrens modifiziert wurde.

Zusammengefasst kann daher festgehalten werden, dass der Erstbeschwerdeführer weder seine Mitgliedschaft zur HDP noch das behauptete politische Engagement für diese Partei konstant und glaubwürdig vorbringen konnte und auch das vermeintlich darauf eingeleitete Strafverfahren gegen den Erstbeschwerdeführer aufgrund vieler Widersprüchlichkeiten und Auffälligkeiten an sich sowie zwischen dem Inhalt der in Vorlage gebrachten Verhandlungsprotokolle und den Angaben des Erstbeschwerdeführers nicht für glaubwürdig befunden werden kann.

Das Bundesverwaltungsgericht geht in Anbetracht der unterbliebenen Vorlage von Originalen auch davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, wonach die Verhandlungsprotokolle vom 13.04.2023 und 27.02.2024 authentisch sind, nicht als besonders hoch einzuschätzen ist und die Vorlage der gerichtlichen Unterlagen in Kopie für sich alleine nicht die aufgetretenen Ungereimtheiten im Vorbringen des Erstbeschwerdeführers aufwiegen können. Insoweit kommt den vorgelegten Verhandlungsprotokollen vom 13.04.2023 und 27.02.2024 angesichts der bisherigen Ausführungen und Angaben des Beschwerdeführers lediglich eine untergeordnete Bedeutung zu und sind als nicht authentisch zu qualifizieren.

Aus dem Verhandlungsprotokoll vom 27.02.2024 geht im Übrigen hervor, dass die Verhandlung auf 27.02.2024 vertagt wurde. Bis dato hat der Erstbeschwerdeführer jedoch keine weiteren Gerichtsunterlagen zu diesem Strafverfahren vorgelegt, obwohl er über einen E-Devlet-Zugang verfügt, über welchen er in Bezug auf seinen noch zu leistenden Wehrdienst auch Abfragen tätigte.

Was die seit der zweiten Hälfte des Jahres 2022 bestehende Mitgliedschaft zur DBP (auf lokaler Ebene agierenden Schwesterpartei der HDP) angeht, so ist festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer bereits in Österreich aufhältig war, als er das Anmeldeformular in die Türkei geschickt hat. Zudem ist er für diese Partei in keinster Weise durch politisch Aktivitäten nach außen in Erscheinung getreten. Vielmehr hat er angegeben, dass er lediglich Freunde bei Telefonaten davon überzeugen wollte, sich bei dieser Partei zu engagieren.

Eine asylrelevante Verfolgung des Erstbeschwerdeführers aufgrund seiner politischen Einstellung konnte er sohin nicht glaubwürdig dartun.

Der Beschwerdeführer hat darüber hinaus noch weitere Gerichtsunterlagen vorgelegt, wobei auch diese eine asylrelevante Verfolgung des Erstbeschwerdeführers nicht belegen.

Gemäß dem Verhandlungsprotokoll des 2. Land- Strafgericht XXXX vom 13.02.2023 wurde ein vor dem 2. Land- Strafgericht XXXX zur Nr. XXXX anhängiges Strafverfahren im Rahmen der zweiten Sitzung beendet. Begründend wurde ausgeführt, dass auf die Anordnung zur Vorführung des Angeklagten (Erstbeschwerdeführer) mit dem Hinweis geantwortet worden sei, dass der Erstbeschwerdeführer dauerhaft nach Deutschland ausgereist sei. Es sei daher als notwendig erachtet worden, die Sache zu beenden und an das örtliche Gericht zurückzuschicken. Ungeachtet dessen, dass auch aus diesem Verhandlungsprotokoll weder die Gründe für die Anklageerhebung, noch deren gesetzliche Grundlage hervorgehen und es auch hierbei um eine nicht überprüfbare Kopie handelt, wäre selbst bei Annahme der Authentizität des gerichtlichen Schriftstückes für den Erstbeschwerdeführer nichts zu gewinnen, zumal das Strafverfahren aufgrund seiner Abwesenheit für beendet erklärt wurde und dem Erstbeschwerdeführer daher keine strafgerichtliche Verurteilung in dieser Angelegenheit drohen würde.

Aus den weiters vorgebrachten gerichtlichen Unterlagen geht hervor, dass gegen den Erstbeschwerdeführer in der Türkei Anklage wegen „Betrug durch Nutzung der Informationssysteme von Banken oder Kreditinstituten als Werkzeug“ erhoben und für den 08.03.2023 eine Verhandlung vor dem 4. Schwurgericht XXXX zur Aktenzahl XXXX anberaumt wurde. Der Erstbeschwerdeführer ist trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Verhandlung am 08.03.2023 nicht vor dem 4. Schwurgericht XXXX erschienen. Infolge dessen wurde vom 4. Schwurgericht XXXX die Anklageschrift sowie eine neuerliche Ladung für den 08.05.2023 samt Anordnung, mit dem Gericht Kontakt aufzunehmen, an die Adresse des Erstbeschwerdeführers in XXXX übermittelt. Weiters wurde ein Zwangsvorführungsbefehl erlassen sowie ein Anordnungsschreiben an das Land-Strafgericht XXXX am 08.03.2023 verfasst sowie elektronisch übermittelt. Darin wird ersucht, ein Protokoll über den gesuchten Erstbeschwerdeführer an das 4. Schwurgericht XXXX zu übermitteln.

Diesbezüglich kann – unabhängig von einer Glaubwürdigkeitsprüfung – keine Asylrelevanz erkannt werden und ist auf die Ausführungen in der rechtlichen Begründung zu verweisen.

Insgesamt fehlt sohin ein konstantes glaubwürdiges Vorbringen dahingehend, dass der Erstbeschwerdeführer Mitglied der HDP war und er deshalb Verfolgungshandlungen bzw. strafrechtlichen Konsequenzen ausgesetzt war.

Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführer in der Türkei aufgrund etwaiger politischer Tätigkeiten einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt war oder im Falle der Rückkehr ausgesetzt sein wird.

Im Übrigen unterliegt der Erstbeschwerdeführer aufgrund des nicht abgeleisteten Militärdienstes oder einer allfälligen strafrechtlichen Verfolgung wegen „Betrug durch Nutzung der Informationssysteme von Banken oder Kreditinstituten als Werkzeug“ keiner asylrelevanten Verfolgung (vgl. dazu die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung).

2.4. Zur Lage in der Türkei:

Die allgemeinen Feststellungen resultieren aus den behördlicherseits erhobenen Fakten aufgrund vorliegender Länderdokumentationsunterlagen. Die Länderfeststellungen basieren auf mannigfaltigen Quellen, denen keine Voreingenommenheit unterstellt werden kann. Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen wurde nicht in qualifizierter Form entgegengetreten.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

3.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

3.2. Zu Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide:

3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der Beschwerdeführer, im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist.

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.

Eine gegen die Beschwerdeführer gerichtete Verfolgungsgefahr aus solchen Gründen wurde im gesamten Verfahren nicht glaubhaft gemacht.

3.2.2.1. Der Erstbeschwerdeführer hat den Militärdienst in der Türkei noch nicht abgeleistet und gilt seit 05.05.2023 als wehrpflichtig.

Die Furcht vor der Ableistung des Militärdiensts stellt grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar, ebenso wenig wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdiensts oder wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung.

Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen ist, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Zl. 93/01/0377; VwGH 21.08.2001, Zl. 98/01/0600; 11.10.2000, Zl. 2000/01/0326).

Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrundeliegenden Sachverhaltes kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf Grundlage der bestehenden Rechtslage, insbesondere im Erkenntnis eines verstärkten Senats zur Zl. 93/01/0377 festgelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, Zl. 95/01/0104). Nach der zitieren Entscheidung lässt etwa der Umstand, dass der Asylwerber einberufen werden soll, keine Rückschlüsse darauf zu, dass er auf diese Weise eine individuell gegen ihn gerichtete, staatlichen Behörden seines Heimatlandes zuzurechnende Verfolgung aus Konventionsgründen zu erwarten hat.

Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes keine Form politischer Verfolgung dar, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente noch nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt und wurde vom Erstbeschwerdeführer eine solche nicht glaubwürdig dargetan. Der Erstbeschwerdeführer versuchte sich im Verfahren als aktives und engagiertes Mitglied der HDP darzustellen, gegen welches ein Strafverfahren wegen dieses Engagements eingeleitet worden sei. Wie oben ausführlich dargetan, ist ihm dies aufgrund zahlreicher Widersprüche und Ungereimtheiten nicht gelungen.

Der Umstand der Wehrpflicht und der Strafbarkeit der Wehrpflichtentziehung in der Türkei allein ist ferner nicht als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des Art. 15 Abs. 2 EMRK anzusehen, weil sich Art. 15 Abs. 2 EMRK nur auf Art. 4 Abs. 1 EMRK, nicht aber auch auf Art. 4 Abs. 2 iVm Abs. 3 lit. c EMRK bezieht. Auch ist nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Dienstes in asylerheblicher Weise benachteiligt würden. Bei einer Querschnittsbetrachtung der Quellen ist festzuhalten, dass Hinweise auf eine systematische Diskriminierung kurdischer Rekruten oder gar auf systematische Übergriffe bis hin zum Mord gegen kurdische Rekruten aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit vollkommen fehlen. Bei einer Gesamtwürdigung der Quellen ist sohin der Schluss geboten, dass eine dem türkischen Staat zurechenbare asylerhebliche Verfolgung kurdisch-stämmiger Rekruten nicht stattfindet, obwohl Einzelfälle von Übergriffen oder Suiziden dokumentiert sind und demnach auch vereinzelt derartiges stattfindet. Derartige vereinzelte Vorfälle bei der Ableistung des Wehrdiensts können jedoch nicht ausgeschlossen werden. Dennoch handelt es sich bei solchen tragischen Ereignissen um Einzelfälle. Bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung der vorliegenden Länderfeststellungen kann jedoch nicht erkannt werden, dass dem Erstbeschwerdeführer deshalb bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Zuge der Ableistung seines Militärdiensts in Form von Übergriffen oder Misshandlungen drohen würde.

Zu den Gründen, die es rechtfertigen, den Wehrdienst zu verweigern, wird unter anderem gezählt, dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der Statusrichtlinie fallen, also etwa Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen werden. Eine Strafverfolgung oder Bestrafung kann in diesem Fall nach Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie als Verfolgung gelten. Der EuGH hat in dem zuvor bereits zitierten Urteil Shepherd klargestellt, dass sich auf den Flüchtlingsschutz nicht nur derjenige berufen kann, der den Wehrdienst verweigert, weil er persönlich solche Verbrechen begehen müsste.

Es reicht vielmehr aus, dass der Betroffene an solchen Verbrechen nur indirekt beteiligt wäre, etwa, weil er nicht zu den Kampftruppen gehört, sondern z.B. einer logistischen oder unterstützenden Einheit zugeteilt ist. Allerdings ist nach den Darlegungen des EuGHs erforderlich, dass es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass der Betroffene sich bei der Ausübung seiner Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müsste (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0330).

Ein Zwang zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kann ebenfalls nicht erkannt werden, zumal den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Berichten keine Hinweise dahingehend entnommen werden konnten, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. Es ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes auch nicht damit zu rechnen, dass unerfahrene Wehrpflichtige zu Kampfeinsätzen herangezogen werden. In Ansehung des Erstbeschwerdeführers kann das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls kein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhtes Risiko einer Teilnahme an Kampfhandlungen erkennen. Dass die türkischen Streitkräfte zum Entscheidungszeitpunkt bei Kampfhandlungen massive Verluste und getötete Wehrpflichtige erleiden würden ist in Anbetracht der Berichtslage jedenfalls auszuschließen.

Es ist richtig, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung festhält, dass auch dem Zwang zum Vorgehen gegen Mitglieder der eigenen Volksgruppe – hier allenfalls gegenüber den Kurden – Asylrelevanz zukommen kann (VwGH 01.03.2007, Zl. 2003/20/0111). In Anbetracht der getroffenen Feststellungen ist evident, dass der Einsatzort der Wehrpflichtigen in der Türkei grundsätzlich im Zufallsverfahren unabhängig von der Volksgruppenzugehörigkeit entschieden wird und es dabei zu keiner individuellen Diskriminierung GFK-relevanter Natur kommt. Insbesondere bestehen keine Anzeichen dafür, dass kurdisch-stämmige Wehrpflichtige systematisch an der Grenze zu Syrien, dem Irak oder im Südosten der Türkei gegen Kurden eingesetzt werden und es fehlt in den in das Verfahren eingebrachten länderkundlichen Berichten auch jeder dahingehende Hinweis.

Den herangezogenen Länderberichten können auch keine Hinweise dahingehend entnommen werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden und ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes auch nicht damit zu rechnen, dass unerfahrene Wehrpflichtige zu Kampfeinsätzen herangezogen werden, zumal laut den herangezogenen Länderberichten die Armee vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf ohnehin eingestellt hat (NL-MFA 2.3.2022, S. 64f.). Die Möglichkeit, dass der Erstbeschwerdeführer im Südosten der Türkei im Kampf gegen Kurden oder an der Grenze zu Syrien oder dem Irak eingesetzt wird, ist daher als nicht naheliegend einzuschätzen. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Wehrpflicht in der Türkei nur mehr sechs Monate dauert und nur eine einmonatige militärische Ausbildung zwingend absolviert werden muss. Dass der Erstbeschwerdeführer in der einmonatigen Grundausbildung für Kampfeinsätze herangezogen würde, kann daher umso weniger als wahrscheinlich angenommen werden.

In diesem Zusammenhang ist noch ergänzend festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer auch nicht glaubhaft dargelegt hat, inwieweit er eine Gesinnung vertrete, die ihm eine Ableistung des Wehrdienstes – aus Gewissensgründen – unzumutbar mache. Das Vertreten einer allgemeinen liberalen Gesinnung und der Wunsch, nicht kämpfen zu wollen im Allgemeinen ist zu wenig (vgl. dazu AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss abgelehnt, vgl. VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3).

Eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung kann regelmäßig nur dann angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen und die daraus folgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, in seinem Recht aus Art. 9 EMRK verletzt wird (EGMR U 07.07.2011, Nr. 23459/03). Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob der Betreffende eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (VGH München, Beschluss vom 15.02.2016, 11 ZB 16.30012 mwN; Urteil vom 24.08.2017, 11 B 17.30392 mwN). Eine derartige ablehnende Gewissenshaltung hat der Erstbeschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt im Verfahren dargelegt.

Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (siehe hiezu auch die einschlägige Spruchpraxis deutscher Gerichte, etwa OVG NRW 19.04.2005, 8 A 273/04.A; Sächsisches OVG 07.04.2016, 3 A 557/13.A; VG Aachen 05.03.2018, 6 K 3554/17.A).

Im Urteil vom 26.02.2015 in der Rechtssache C-472/13 erkannte der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit der Strafverfolgung und Bestrafung, die einem Asylwerber in seinem Herkunftsland aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes drohen würden, eine Prüfung voraussetzt, ob ein solches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann (Rz 50).

Hier sei noch angemerkt, dass der Erstbeschwerdeführer im Jahr 2013 das wehrpflichtige Alter in der Türkei erreichte, im Jahr 2016 aber problemlos aus der Türkei ausreisen und im Jahr 2020 auch wieder in die Türkei einreisen konnte. In der mündlichen Verhandlung am 14.06.2023 bestätigte der Erstbeschwerdeführer, dass er bei der Einreise in die Türkei im Juli 2020 von der Polizei lediglich ca. eine Stunde befragt worden sei, er danach ein Protokoll unterschrieben habe und weiter nach XXXX gereist sei (VS 4, 14.06.2023). Während seines Aufenthaltes in der Türkei bis September 2022 kam es zu einem Aufgriff durch die Polizei, im Zuge dessen er lediglich eine Mitteilung zu seiner Fahnenflucht erhielt und anschließend wieder freigelassen wurde. Der Erstbeschwerdeführer hat sich anschließend zwar einer Untersuchung unterzogen, das Ergebnis jedoch nicht abgewartet und die Türkei erneut verlassen. Vor dem BFA erklärte der Erstbeschwerdeführer dahingehend, dass er in XXXX beim Einsteigen in das Flugzeug von der Polizei zum Militärdienst einvernommen worden sei und ihm eine Frist gewährt worden sei, um sich bei der Militärbehörde zu melden (AS 187). Bei dem Flug von Istanbul aus, habe es diesbezüglich keine Kontrolle gegeben (AS 187). Das bisherige Vorgehen der türkischen Behörden liefert sohin keinerlei Hinweise darauf, dass der Erstbeschwerdeführer als Fahnenflüchtiger Misshandlungen, Folter oder sonstigen Übergriffen oder Benachteiligungen seitens der türkischen Behörden ausgesetzt war oder sein wird.

Sollte der Erstbeschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei seinen Militärdienst nicht antreten, drohen ihm entsprechen den Länderberichten in erster Linie Verwaltungsstrafen, eventuell auch eine Haftstrafe (AA 28.7.2022, S. 13; vgl. DFAT 10.9.2020). Es liegen in diesem Zusammenhang jedoch keine Hinweise vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt – wie oben bereits angeführt – sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (vgl. dazu auch die einschlägige Spruchpraxis deutscher Gerichte, etwa OVG NRW 19.04.2005, 8 A 273/04.A; Sächsisches OVG 07.04.2016, 3 A 557/13.A; VG Aachen 05.03.2018, 6 K 3554/17.A). Wie ausgeführt, verhängen die türkischen Behörden bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Militärdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe; subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Dass dem Erstbeschwerdeführer eine unverhältnismäßig harte Sanktion wegen Wehrdienstverweigerung drohen würde, kann aus der Berichtslage daher nicht abgeleitet werden.

Der Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer als männlicher türkischer Staatsangehöriger der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei unterliegt und im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst wird ableisten müssen, stellt bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung sohin keine zur Gewährung von Asyl führende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention dar.

3.2.2.2. Des Weiteren ist zu einem allfällig eingeleiteten Strafverfahren vor dem 4. Schwurgericht XXXX wegen „Betrug durch Nutzung der Informationssysteme von Banken oder Kreditinstituten als Werkzeug“ bei Wahrunterstellung auszuführen, dass im Falle der Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat eine Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung ("prosecution") einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ("persecution") andererseits geboten ist.

Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie zufolge kann unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs stellt die staatliche Strafverfolgung in der Regel keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn dar. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt (vgl. VwGH vom 06. Juli 2011, 2008/19/0994, mwN). Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (VwGH 20.12.2016, Ra 2016/01/0126; 27.05.2015, Ra 2014/18/0133).

Fallbezogen ist diesbezüglich von Relevanz, ob das Verhalten des türkischen Staates, Sachverhalte wie Betrug unter Strafe zu stellen, per se eine ungerechtfertigte Verfolgung darstellt, was zweifelsfrei zu verneinen sein wird, zumal sich ähnliche Bestimmungen auch im österreichischen Strafrecht befinden.

Das Delikt, dessen Begehung der Erstbeschwerdeführer verdächtigt wird, stellte eine gerichtlich strafbare Handlung dar, welche von den türkischen Behörden entsprechend des in der Türkei in Geltung stehenden Strafgesetzes zu ahnden ist. Behördliche Ermittlungen wegen strafbarer Verhaltensweisen können nicht als Verfolgung im Sinne der Konvention qualifizieren werden, insoweit die Strafverfolgung eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Allfällige polizeiliche, staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Maßnahmen wider den Erstbeschwerdeführer stehen bzw. stünden dem Vorbringen im gegenständlichen Verfahren bzw. den vorgelegten Beweismitteln zufolge ausschließlich im Zusammenhang mit dem Verdacht der Begehung eines Betruges in Zusammenhang mit der Nutzung der Informationssysteme von Banken oder Kreditinstituten. Bei Betrug handelt es sich um ein kriminelles Delikt, aufgrund dessen es in rechtsstaatlichen Staaten regelmäßig zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen kann. Ein derartiges Delikt ist auch in anderen Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention mit Strafe bedroht (vgl. dazu insbesondere §§ 146 bis 148a österreichisches StGB, wonach Betrug ein Offizialdelikt ist und mit Freiheitsstrafe u. a. zwischen sechs Monaten und zehn Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird). Ein Einschreiten staatlicher Behörden ist in einem solchen Fall nicht als Verfolgung anzusehen, weil es sich hierbei um Schritte zur Aufklärung eines allgemein strafbaren Deliktes handelt, was keinem der oben erwähnten Konventionsgründen entspricht (VwGH 25.05.1994, Zl. 94/20/0053).

Es handelt sich somit bei den Maßnahmen gegen den Erstbeschwerdeführer grundsätzlich um ein legitimes Ziel der türkischen Justiz, im Rahmen der Strafrechtspflege (mögliche) strafbare Handlungen aufzuklären sowie verdächtige Personen aufzuspüren. Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes besteht daher kein Anlass zur Annahme, der nach dem türkischen Recht pönalisierte Betrug in Zusammenhang mit Informationssystemen von Banken oder Kreditinstituten, stelle "persecution" dar.

Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafdrohung wird – soweit im gegenständlichen Fall ersichtlich – im Rahmen des hier anzustellenden Vergleiches mit der im Bundesgebiet geltenden Rechtslage (exemplarisch: vgl. dazu §§ 146 bis 148a österreichisches StGB, wonach Betrug ein Offizialdelikt ist und mit Freiheitsstrafe u. a. zwischen sechs Monaten und zehn Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird) in einer Zusammenschau mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des türkischen Staates, sowie eines besonderen generalpräventiven Bedürfnisses im Hinblick auf das Bestreben, Straftaten gegen das Vermögen zu verhindern, nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes davon auszugehen sein, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen (§ 157 tStBG ein bis fünf Jahre/Geldstrafe bis zu 5000 Tagessätze; § 158 tStGB drei bis zehn Jahre/Geldstrafe bis 5000 Tagessätze) nicht unverhältnismäßig sind. Vor dem Hintergrund des Unrechtsgehaltes der vom Erstbeschwerdeführer begangenen Straftat wird auch im Rahmen des existierenden Strafrahmens und des oben angeführten Präventivbedürfnisses nicht von einer unverhältnismäßig hohen verhängten Strafe auszugehen sein.

Bezüglich der Frage, ob im gegenständlichen Fall von einem fairen Verfahren gesprochen werden kann, wird als Richtschnur wohl Artikel 5 EMRK ("Recht auf Freiheit und Sicherheit") und Artikel 6 EMRK ("Recht auf ein faires Verfahren") heranzuziehen sein. Es geht aus der Aktenlage nicht hervor, dass die in Art. 5 und 6 EMRK genannten Rechte seitens der türkischen Gerichte dem Erstbeschwerdeführer in dermaßen augenfälliger Weise nicht gewährt worden wären, dass von keinem fairen Verfahren mehr gesprochen werden konnte. Wie oben bereits erläutert, liegt dem Strafverfahren eine Anklage zugrunde und hat der Erstbeschwerdeführer keine Verstöße im Ermittlungsverfahren oder hinsichtlich der Geschäftsverteilung behauptet. Der Erstbeschwerdeführer wurde an seiner Adresse in der Türkei zu einer mündlichen Verhandlung geladen, ist bei der Verhandlung am 08.03.2023 jedoch nicht erschienen, weshalb neuerlich eine Ladung für den 08.05.2023 samt Anklageschrift an den Erstbeschwerdeführer übermittelt wurde. Weiters wurde die Kontaktaufnahme mit dem Gericht angeordnet sowie ein Zwangsvorführungsbefehl erlassen. Im Verfahren wurden sohin- soweit ersichtlich – die Grundsätze der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit bzw. wurde auch der Grundsatz des Anklageprozesses gewahrt.

Dem Erstbeschwerdeführer ist auch die Gelegenheit geboten worden, seinen Standpunkt im Prozess darzulegen, wovon er aufgrund des Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung keinen Gebrauch machte. Dass gegen ihn aufgrund des Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung ein Zwangsvorführungsbefehl erlassen wurde, stellt eine geeignete Maßnahme dar, um dem Erstbeschwerdeführer eine Aussage zu gewähren, weshalb auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs beachtet wurde. Trotz des unentschuldigten Fernbleibens wurde kein Urteil in Abwesenheit des Erstbeschwerdeführers gefällt und im Anordnungsschreiben vom 08.03.2023 bereits vermerkt, dass bei erneutem Fernbleiben ein neuer Termin seitens des Gerichtes bekanntgegeben werde.

Aus der vorgelegten Gerichtsanordnung gehen auch sonst keine gravierenden Verfahrensmängel hervor. So sind im gegenständlichen Verfahren auch keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass dieses Vorgehen der türkischen Behörden lediglich durch die ethnische Zugehörigkeit des Erstbeschwerdeführers zu den Kurden bestimmt war, sondern war es vielmehr der Bekämpfung von Straftaten gegen das Vermögen bzw. Banken und Kreditinstitute geschuldet. Da der Erstbeschwerdeführer auch keine beachtlichen oppositionspolitischen Aktivitäten entfaltete bzw. solche nicht glaubhaft vorbrachte und insbesondere nicht in hervorgehobener Position in Erscheinung trat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Erstbeschwerdeführers erfolgte.

Zur Unabhängigkeit der türkischen Gerichte ist noch anzumerken, dass diese zwar in Berichten kritisiert wird, jedoch keine Hinweise vorliegen, dass der türkischen Justiz generell jegliche Rechtskonformität abzusprechen ist. Den herangezogenen Länderberichten ist zu entnehmen, dass vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt hat. Aufgrund einer Anzeige oder einer Anklageerhebung kann sohin keinesfalls unmittelbar auf eine Verurteilung geschlossen werden.

Eine mit unverhältnismäßigen Mittel geführte oder diskriminierende Strafverfolgung kann das Bundesverwaltungsgericht vor diesem Hintergrund daher nicht erkennen. In jedem Fall kann von einem Strafprozess, der nur einer willkürlichen Bestrafung des Erstbeschwerdeführers dienen sollte, aufgrund der vorgenannten Umstände keine Rede sein.

Der Ausgang des offenen Strafverfahrens ist im Übrigen nicht absehbar und eine verlässliche Prognose hinsichtlich einer allfälligen Verurteilung kaum möglich. Hinweise darauf, dass der Erstbeschwerdeführer in dem in der Türkei offenen Strafverfahren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit schuldig gesprochen und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wird (zur Bedeutung des Kriteriums der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit VwGH 13.09.2016, Ra 2016/01/0054 mwN), sind nicht erkennbar. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, gegen einen allenfalls ergehenden Schuldspruch ein Rechtsmittel einzulegen und so eine Überprüfung des Strafverfahrens im Instanzenzug herbeizuführen. Ausgehend davon, dass der Erstbeschwerdeführer nicht vorbestraft ist, wird im Falle einer Verurteilung davon auszugehen, dass sie im Rahmen des angedrohten Strafmaßes (ein bis fünf Jahre oder drei bis zehn Jahre bzw. Geldstrafe bis zu 5000 Tagessätzen) eine untergeordnete, allenfalls eine Geldstrafe oder im untergeordneten Bereich anzusiedelnde Haftstrafe auffassen würde.

Auch wenn entsprechend der obigen Erwägungen keine maßgebliche Gefahr einer Verurteilung des Erstbeschwerdeführers zu einer langjährigen Haftstrafe erkannt werden kann, ist der Vollständigkeit halber auf Folgendes hinzuweisen:

Angesichts der Feststellungen zu den Haftbedingungen ist nicht davon auszugehen, dass in der Türkei derart inadäquate Haftbedingungen vorliegen, welche die Behandlung jedes türkischen Strafgefangenen als Art. 3 EMRK widerstreitend erscheinen ließe. Derartiges wurde im Verfahren auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Der Erstbeschwerdeführer ist im Übrigen gesund, sodass keine Notwendigkeit einer medizinischen Versorgung besteht und diesbezügliche Defizite daher nicht von Relevanz sind. Den Feststellungen zufolge wurde die materielle Ausstattung der Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Problematisch ist die Überbelegung. Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen vor. Es gab weiterhin Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft. Foltervorwürfe werden oftmals in Zusammenhang mit der Behandlung von Terrorverdächtigen erhoben. Im gegebenen Zusammenhang ist nun festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder Terrorverdächtiger ist, noch ihm eine Nähe zur Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) oder der Bewegung des Fetullah Gülen angelastet wird. Es kann schließlich nicht davon ausgegangen werden, dass Folter und Misshandlung in den türkischen Haftanstalten eine dermaßen verbreitete Praxis wäre, dass die reale Gefahr bestünde, als nicht wegen Terrorvorwürfen oder einer Beteiligung am versuchten Militärputsch exponierter Insasse jedenfalls derartigen Praktiken unterzogen zu werden. Es wird keine solche Intensität an Übergriffen aufgezeigt, dass von der realen Gefahr auszugehen wäre, dass der Erstbeschwerdeführer von Folter und Misshandlung persönlich betroffen wäre. Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen die Überbelegung der Gefängnisse eingeleitet (etwa der Neu- bzw. Ausbau der Haftanstalten) und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal zweifelsfrei absehbar, in welchem Gefängnistyp er eine verhängte Strafe verbüßen würde. Auch wenn die Haftbedingungen in der Türkei sohin nicht immer als mit europäischen Standards vergleichbar angesehen werden, so war dennoch nicht davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführer im Falle der Rückkehr alleine wegen der Haftbedingungen einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann das Bundesverwaltungsgericht somit nicht erkennen, dass dem Erstbeschwerdeführer die reale Gefahr einer Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte auf Grund der Haftbedingungen in der Türkei droht. Im Übrigen hat der Erstbeschwerdeführer selbst keine dahingehenden Befürchtungen geäußert.

3.2.2.3. Hinsichtlich des bloßen Umstandes der kurdischen Abstammung der Beschwerdeführer ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche aktuelle Anhängerschaft hinsichtlich der Beschwerdeführer nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Darüber hinaus leben Familienangehörige der Beschwerdeführer mit ebenfalls kurdischer Abstammung nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in der Heimatprovinz, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb den Beschwerdeführern auf Grund ihrer kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen beispielsweise die Eltern der und mehrere Geschwister des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin nach wie vor dort ansässig sind. Aus den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei, sind die Erstbeschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen.

Sofern darauf hingewiesen wurde, dass Kurden generell diskriminiert werden würden, ist festzuhalten, dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen wird (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Außerdem ist nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie). Was die Alltagsprobleme der Erstbeschwerdeführer betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin thematisierten Probleme aufgrund der kurdischen Sprache, häufige Ausweiskontrollen sowie mangelnde Toleranz bzw. abwertendes Benehmen der Türken gegenüber Kurden (AS 185 im Akt BF1, AS 173 im Akt BF2) erfüllen dieses Kriterium nicht.

Geschehnisse dieser Art sind noch nicht als asylrelevant zu qualifizieren und war dem Vorbringen auch kein stichhaltiger Hinweis dahingehend zu entnehmen, dass allfällige gravierendere Bedrohungen oder Eingriffe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten wären. Auch Beschimpfungen, Bewerfen eines Hauses mit Steinen und verbale Drohungen begründen keine Verfolgung von asylrelevanter Intensität (EGMR, Rs 18670/03, BERISHA HALJITI v. Mazedonien, 16.06.2005). Der Verwaltungsgerichtshof anerkennt in ständiger Rechtsprechung kurzzeitige Inhaftierungen, wenn sie ohne Folgen blieben, und Hausdurchsuchungen aufgrund mangelnder Intensität ebenfalls nicht als asylrechtlich relevante Verfolgung (VwGH E vom 14.10.1998, Zl. 98/01/0262; VwGH E vom 12.5.1999, Zl. 98/01/0365).

Weiters ist eine bloße Nachfrage durch Organe eines öffentlichen Sicherheitsdiensts nach dem Aufenthaltsort einer Person oder die Aufforderung, bei einer bestimmten Dienststelle oder einer anderen Behörde vorzusprechen oder polizeiliche Kontrollen, aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes per se keine Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist als Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)).

Dass die Beschwerdeführer Opfer derart gravierender Diskriminierungen aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit wurden, haben sie nicht glaubhaft vorgebracht. Befragungen im Zuge polizeilicher Ermittlungen stellten nach der Rechtsprechung – selbst wenn sich die betroffene Person durch diese Ermittlungen schikaniert gefühlt haben mag – in ihrer Gesamtheit keine asylrelevanten Verfolgungshandlungen dar (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

3.2.2.4. Nach den Länderfeststellungen löst auch der Umstand, dass eine Person (im Ausland) einen Asylantrag gestellt hat, bei der Rückkehr in die Türkei keine staatlichen Repressionen aus. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Eine Person wird in Polizeigewahrsam genommen und verhört, wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist. Wenn auf Grund eines Eintrags festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise hingegen festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Nachteilige Folgen für den Fall einer Rückkehr nach einer erfolglosen Asylantragstellung sind den herangezogenen umfassenden Länderfeststellungen hingegen nicht zu entnehmen. Insoweit erübrigt es sich auch weitergehende Ermittlungen diesbezüglich anzustellen.

3.2.2.5. Eine Rückkehrgefährdung aufgrund der Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers bei der DBP, einer lokalen Schwesterpartei der HDP, oder seiner Sympathie für die HDP ist ebenfalls nicht anzunehmen. Der Erstbeschwerdeführer war in der Türkei nie für die DBP tätig und wurde erst durch die Übermittlung eines Formulars von Österreich aus im Jahr 2022 Mitglied dieser auf lokaler Ebene tätigen Partei. In Österreich beschränkte sich der Erstbeschwerdeführer darauf, einige Freunde anzurufen und diesen nahezulegen, sich für die DBP zu engagieren. Eine Mitgliedschaft zur HDP konnte der Erstbeschwerdeführer wie in der Beweiswürdigung näher ausgeführt ebenso wenig glaubhaft vorbringen wie ein besonderes herausragendes Engagement für die HDP.

Entsprechend der Länderberichte sind die HDP und DBP ungeachtet der Repressalien gegen ihre leitenden Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker aktuell in der Türkei erlaubte politische Parteien, die im türkischen Parlament und auch auf kommunaler Ebene vertreten sind. Die bloße Sympathie für die HDP und DBP oder das Wählen der HDP oder DBP stellen demgemäß keine Straftat dar und ergibt sich aus den herangezogenen Quellen auch keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuelle Gefährdung oder drohende strafrechtliche Verfolgung alleine auf Grund des Wählens dieser Parteien. Die zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern und sind damit nicht geeignet, eine gegenwärtige individuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgung einfacher Sympathisanten der HDP oder Mitlieder der DBP in der Türkei darzutun. Der Erstbeschwerdeführer ist kein Mitglied der HDP und erst seit er in Österreich ist Mitglied der DBP. Er war bzw. ist sohin weder in leitender Stellung bei diesen Parteien tätig, noch deren Abgeordneter, Bürgermeister oder anderweitiger Funktionsträger. Es ist im Verfahren auch nicht hervorgekommen, dass sich der Erstbeschwerdeführer politisch besonders exponierte bzw. hat er diese nicht glaubwürdig vorgebracht.

3.2.3. Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, waren die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zu Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide:

3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat gemäß § 8 Abs. 3a AsylG eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

Somit ist vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende und durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 23.02.1995, Zl. 95/18/0049; 05.04.1995, Zl. 95/18/0530; 04.04.1997, Zl. 95/18/1127; 26.06.1997, ZI. 95/18/1291; 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0122; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Unter "realer Gefahr" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen ("a sufficiently real risk") im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören –, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen. Die Ansicht, eine Benachteiligung, die alle Bewohner des Staates in gleicher Weise zu erdulden hätten, könne nicht als Bedrohung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 gewertet werden, trifft nicht zu (VwGH 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; 08.06.2000, Zl. 99/20/0203; 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Selbst wenn infolge von Bürgerkriegsverhältnissen letztlich offen bliebe, ob überhaupt noch eine Staatsgewalt bestünde, bliebe als Gegenstand der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Frage, ob stichhaltige Gründe für eine Gefährdung des Fremden in diesem Sinne vorliegen (vgl. VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203).

Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (vgl. VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427; 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; siehe dazu vor allem auch EGMR 20.07.2010, N. gg. Schweden, Zl. 23505/09, Rz 52ff; 13.10.2011, Husseini gg. Schweden, Zl. 10611/09, Rz 81ff).

Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443; 13.11.2001, Zl. 2000/01/0453; 09.07.2002, Zl. 2001/01/0164; 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137).

3.3.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG nicht gegeben sind.

Dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Die Türkei befindet sich unbestritten unter der Kontrolle der türkischen Sicherheitskräfte und nur eine geringe laufende, vom Islamischen Staat oder der PKK ausgehende Anschlagskriminalität ist zu verzeichnen. Die von der PKK ausgehende Anschlagskriminalität ist zudem vorrangig gegen türkische Sicherheitskräfte gerichtet. Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt waren, noch einer seither besonders gefährdeten Bevölkerungs- oder Berufsgruppe oder der Gülen-Bewegung angehören.

Sofern die Beschwerdeführer zur Sicherheitslage in ihrer Heimatregion XXXX in der Provinz XXXX ausführten, dass im Jahr 2016 Gräben gegraben worden seien und ihr Haus von Sicherheitsbehörden zerstört worden sei, ist festzuhalten, dass mittlerweile ca. acht Jahre vergangen sind und die Beschwerdeführer aktuell nicht schon allein aufgrund einer bloßen Präsenz in ihrer Heimatprovinz mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch Anschlagskriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wären.

Aus den Länderberichten geht hervor, dass in der Herkunftsregion der Beschwerdeführer aktuell kein bewaffneter Konflikt ausgetragen wird, der eine gravierende Gefährdung im Rückkehrfall indizieren würde.

Den Länderberichten ist vielmehr zu entnehmen, dass die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei zwar ihren Höhepunkt erreicht hatte, anschließend das Gewaltniveau jedoch wieder sank (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13).

Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion prekärer, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende, groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).“

Insgesamt zeigt sich daher ein Bild, wonach die sicherheitsrelevanten Vorfälle im Allgemeinen gegenüber den Jahren 2015/2016 deutlich zurückgehen und es sich angesichts des Bevölkerungsdichte in der Herkunftsregion der Beschwerdeführer um vereinzelte sicherheitsrelevante Vorfälle handelt. Hauptsächlich richten sich Anschläge der PKK gegen Sicherheitskräfte und in der Regel nicht gegen Zivilisten. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen oder vergleichbarer Vorfälle zu werden, ist für Zivilisten sohin zwar nicht gänzlich auszuschließen, jedoch keineswegs als wahrscheinlich anzusehen, weshalb der Provinz XXXX wahllose, beliebige Gewalterfahrungen weitgehend ausgeschlossen werden können, und keinesfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit der bloßen Anwesenheit in der Region einhergehen.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen und ihren Kindern im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.

Beim Erstbeschwerdeführer und bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um junge, gesunde, arbeitsfähige Erwachsene, bei welchen die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin verfügen darüber hinaus über eine langjährige Schulbildung sowie der Erstbeschwerdeführer über Berufserfahrung als Koch. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Erstbeschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein wird, für sich und die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Ferner kann das Bundesverwaltungsgericht in Anbetracht des Aufenthaltes von mehreren Familienmitgliedern in der Türkei (Eltern der und mehrere Geschwister des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin) nicht erkennen, weshalb gerade die Beschwerdeführer dort keine Existenzgrundlage vorfinden sollten.

Dem Erstbeschwerdeführer ist es bereit bei der Rückkehr von Deutschland in die Türkei im Jahr 2020 gelungen den Lebensunterhalt für seine Familie aufzubringen, indem er als Transporteur (Möbel und Elektrowaren) tätig war. Zudem war ihnen der Vater des Erstbeschwerdeführers mit der Zurverfügungstellung von Wohnraum behilflich und unterstütze die Beschwerdeführer auch finanziell. Es ist auch nicht ersichtlich weshalb die Beschwerdeführer nicht wieder bei den Eltern des Erstbeschwerdeführers Unterkunft nehmen und – zumindest in der Anfangszeit – auch finanziell unterstützt werden könnten. Weiter betreiben die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin eine Landwirtschaft und ist der Bruder des Erstbeschwerdeführers berufstätig, weshalb anzunehmen ist, dass auch dieser Teil der Familie einen finanziellen Beitrag zum Unterhalt der Beschwerdeführer beitragen kann.

Darüber hinaus stehen den Beschwerdeführern die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit (u. a. Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter) offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Entsprechend der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden etwa in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen, wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen, gewährt.

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.

Auch von der Erdbebenkatastrophe in der Türkei im Februar 2023 werden die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nicht betroffen sein, zumal der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung am 14.06.2023 ausführte, dass das Haus der Familie nicht betroffen gewesen sei (VS 5).

Weiters ist anzumerken, dass es infolge des zuletzt stattgefundenen Erbebens jedenfalls nicht zu keinem landesweiten Katastrophenzustand gekommen ist, welcher im gesamten Staatsgebiet der Türkei zu einer Gefährdungslage iSd der Art. 2 und 3 EMRK geführt hat. Es handelt sich um eine lokal begrenztes Naturereignis, infolge dessen zahlreiche nationale und internationale Hilfsmaßnahmen angelaufen bzw. erfolgt sind. Es wurde auch nicht vorgebracht, dass es für die Beschwerdeführer allein aus diesem Grund ausgeschlossen wäre, sich im Herkunftsstaat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen und stünde es ihnen auch offen, ihren Wohnsitz in einen anderen Landesteil der Türkei, etwa nach Istanbul, zu verlegen. Weder aus dem Vorbringen noch aus den sonstigen Ermittlungen ergeben sich irgendwelche Hinweise, dass sich die mobilen und gesunden Beschwerdeführer sich beispielsweise in Istanbul, wo die Erst- bis Viertbeschwerdeführer schon gewohnt haben, nicht dauerhaft niederlassen könnten.

3.3.3. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Daher waren die Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

3.4. Zu Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide:

3.4.1. Gesetzliche Grundlagen:

Gemäß § 10 AsylG 2005 wird Folgendes normiert:

"§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,

der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt."

Der mit "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" betitelte § 57 AsylG 2005 lautet wie folgt:

"§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:

wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht, zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können."

Der mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelte § 9 BFA-VG lautet wie folgt:

"§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, 4. der Grad der Integration, 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit, 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, 8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, 9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt. "

Gemäß § 58 AsylG wird wie folgt normiert:

"§ 58. (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn

der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,

einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder

ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.

(2) Das Bundesamt hat einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde. § 73 AVG gilt.

(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Abs. 3) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Abs. 11 gilt.

(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.

(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.

(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Abs. 11 gilt.

(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige

sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,

bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder

gemäß § 95 FPG über einen Lichtbildausweis für Träger von Privilegien und Immunitäten verfügt oder gemäß § 24 FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist

soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.

(10) Anträge gemäß § 55 sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art. 8 EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß §§ 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist

das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder

der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.

Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.

(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.

(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn

ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß § 56 eingeleitet wurde und

die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Z 1, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben."

Der mit "Rückkehrentscheidung" betitelte § 52 FPG lautet wie folgt:

"§ 52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich

nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder

nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,

dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels, Einreisetitels oder der erlaubten visumfreien Einreise entgegengestanden wäre,

ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,

ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,

der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder

das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.

Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt – EU” verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.

(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.

(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

(9) Das Bundesamt hat mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.

(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.

(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde."

3.4.2. Es liegen keine Umstände vor, dass den Beschwerdeführern allenfalls von Amts wegen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG zu erteilen gewesen wären, und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts vorgebracht.

3.4.3. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer "Familie" voraussetzt. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd. Art. 8 EMRK erreichen. Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. "legitimate family" bzw. "famille légitime") oder einer unehelichen Familie ("illegitimate family" bzw. "famille naturelle"), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, Serife Yigit, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewährung von Unterhaltsleistungen (EGMR 22.04.1997, X., Y. und Z., Zl. 21830/93; 22.12.2004, Merger u. Cros, Zl. 68864/01). So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff.). In der bisherigen Spruchpraxis des EGMR wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:

die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),

die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00).

In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).

Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u. a., Zl. 26940/10).

Die Ausweisung eines Fremden, dessen Aufenthalt lediglich auf Grund der Stellung von einem oder mehreren Asylanträgen oder Anträgen aus humanitären Gründen besteht, und der weder ein niedergelassener Migrant noch sonst zum Aufenthalt im Aufenthaltsstaat berechtigt ist, stellt in Abwägung zum berechtigten öffentlichen Interesse einer wirksamen Einwanderungskontrolle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privatleben dieses Fremden dar, wenn dessen diesbezüglichen Anträge abgelehnt werden, zumal der Aufenthaltsstatus eines solchen Fremden während der ganzen Zeit des Verfahrens als unsicher gilt (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi, Zl. 21878/06).

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen beeinträchtigt das Recht auf Privatsphäre eines Asylantragstellers dann in einem Maße, der sie als Eingriff erscheinen lässt, wenn über jemanden eine Ausweisung verhängt werden soll, der lange in einem Land lebt, eine Berufsausbildung absolviert, arbeitet und soziale Bindungen eingeht, ein Privatleben begründet, welches das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich solcher beruflicher und geschäftlicher Art zu begründen (Wiederin in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg., 2002, Rz 52 zu Art 8 EMRK).

Nach der Rechtsprechung des EGMR (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi v. the United Kingdom, 21878/06 bzgl. einer ugandischen Staatsangehörigen die 1998 einen Asylantrag im Vereinigten Königreich stellte) ist im Hinblick auf die Frage eines Eingriffes in das Privatleben maßgeblich zwischen niedergelassenen Zuwanderern, denen zumindest einmal ein Aufenthaltstitel erteilt wurde und Personen, die lediglich einen Asylantrag gestellt haben und deren Aufenthalt somit bis zur Entscheidung im Asylverfahren unsicher ist, zu unterscheiden (im Falle der Beschwerdeführerin Nnyanzi wurde die Abschiebung nicht als ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Privatleben angesehen, da von einem grundsätzlichen Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer effektiven Zuwanderungskontrolle ausgegangen wurde).

Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat, unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Ausweisungsentscheidung) auch in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in einem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).

Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung ist zwar nicht ausschlaggebend, ob der Aufenthalt des Fremden zumindest vorübergehend rechtmäßig war (EGMR 16.09.2004, Ghiban / BRD; 07.10.2004, Dragan / BRD; 16.06.2005, Sisojeva u.a. / LV), bei der Abwägung jedoch in Betracht zu ziehen (vgl. VfGH 17.03.2005, G 78/04; EGMR 08.04.2008, Nnyazi / GB). Eine langjährige Integration ist zu relativieren, wenn der Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten, insbesondere etwa die Vortäuschung eines Asylgrundes (vgl VwGH 2.10.1996, 95/21/0169), zurückzuführen ist (VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168). Darüber hinaus sind auch noch Faktoren wie etwa Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, sowie der Grad der Integration welcher sich durch Intensität der Bindungen zu Verwandten und Freunden, Selbsterhaltungsfähigkeit, Schulausbildung bzw. Berufsausbildung, Teilnahme am sozialen Leben, Beschäftigung manifestiert, aber auch die Bindungen zum Herkunftsstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (VfGH 29.09.2007, B1150/07 unter Hinweis und Zitierung der EGMR-Judikatur).

Gemäß der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 07.10.2010, B 950/10 sind betreffend der Frage der Integration einer Familie in Österreich insbesondere die Aufenthaltsdauer der Familie in Österreich, ein mehrjährigen Schulbesuch von minderjährigen Kindern, gute Deutschkenntnisse und eine sehr gute gesellschaftliche Integration der gesamten Familie zu berücksichtigen.

Es ist weiters als wesentliches Merkmal zu berücksichtigen, wenn – anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte (vgl. zB VfGH 12.6.2010, U614/10) – die Integration der Beschwerdeführer während eines einzigen Asylverfahrens (dessen Dauer im durch den Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall sieben Jahre betrug), welches nicht durch eine schuldhafte Verzögerung durch den Beschwerdeführer und seine Familie geprägt war, erfolgte.

Bei der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zur Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes ist immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls im Detail abzustellen. Eine Ausweisung hat daher immer dann zu unterbleiben, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

3.4.4. In Österreich lebt ein Neffe des Erstbeschwerdeführers, wobei der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht vorgebracht haben, dass sie zu diesem in einem besonderen Naheverhältnis stehen, welches über das üblicherweise zwischen Verwandte dieser Art bestehende Verhältnis hinausgehen würde. Die Beschwerdeführer wohnen mit dem Neffen des Erstbeschwerdeführers nicht in einem gemeinsamen Haushalt und sind von diesem weder in finanzieller noch in sonstiger Hinsicht abhängig. Ein Familienleben im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung besteht zwischen den Erst- bis Sechstbeschwerdeführer und dem Neffen des Erstbeschwerdeführers besteht demnach nicht.

In Abwägung der erörterten Umstände, insbesondere der fehlenden Abhängigkeitsverhältnisse (siehe dazu VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0425) sowie angesichts eines nicht bestehenden gemeinsamen Wohnsitzes und der fehlenden Beziehungsintensität, besteht zu dem in Österreich aufhältigen Verwandten daher keine faktische Familienbindung im Sinn der Rechtsprechung des EGMR.

Aufgrund dessen, dass die Beschwerdeführer gleichermaßen von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, liegt auch insoweit kein Eingriff in das schützenswerte Familienleben vor (VwGH 19.12.2012, Zl. 2012/22/0221 mwN).

Da somit im gegenständlichen Fall ein ungerechtfertigter Eingriff in das Familienleben der Beschwerdeführer zu verneinen ist, bleibt zu prüfen, ob mit der Ausweisung ein Eingriff in dessen Privatleben einhergeht.

Die Beschwerdeführer reisten im September 2022 rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und stellten in der Folge Anträge auf internationalen Schutz. Seither sind sie als Asylwerber in Österreich aufhältig.

Das Gewicht des seit September 2022 dauernden Aufenthaltes der Beschwerdeführer in Österreich ist sohin bereits dadurch abgeschwächt, dass die Beschwerdeführer ihren Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchten. Sie konnten alleine durch die Stellung eines Antrages jedenfalls nicht in begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung eines Aufenthaltes ausgehen.

Entsprechend der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, kommt einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahre für sich betrachtet auch noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessensabwägung zu (VwGH vom 20.06.2017 Ra 2017/22/00378, jüngst VwGH vom 10.04.2019 Ra 2019/18/0049). Nur bei ganz außergewöhnlichen integrativen Leistungen kann bei einer Aufenthaltsdauer von etwa drei Jahren von einer Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Erteilung eines Aufenthaltstitels ausgegangen werden (VwGH vom 28.01.2016 Ra 2015/21/0191 mit weiteren Hinweisen, VwGH a.a.O.).

Die Beschwerdeführer verfügen über keine nennenswerten Deutschkenntnisse und pflegen übliche soziale Kontakte. Diesbezüglich ist auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, wonach selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Der Erstbeschwerdeführer verfügt von 27.07.2023 bis 26.07.2024 über eine Beschäftigungsbewilligung und war von 29.07.2023 bis 03.11.2023 geringfügig in der Gastronomie beschäftigt. Was diese Berufstätigkeit betrifft so ist festzuhalten, dass auch daraus nicht auf eine hinreichende berufliche Integration geschlossen werden kann. Zwar kommt dieser Tätigkeit im Rahmen der Interessensabwägung eine gewisse Bedeutung zu, wobei es zu bedenken gilt, dass der Erstbeschwerdeführer diese lediglich ca. drei Monate ausübte und er sich während der Aufnahme dieser Tätigkeit seines unsicheren Aufenthaltes in Österreich bewusst sein musste. Diesbezüglich ist auch darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, dass der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612 und VwGH 29.06.2010, 2010/18/0195 jeweils mit weiteren Nachweisen).

Der Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich nicht straffällig geworden sind, bewirkt keine Erhöhung des Gewichtes der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel und die Begehung von Straftaten eigene Gründe für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellen (VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verbrachten andererseits den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat. Sie wurden dort sozialisiert, besuchten dort die Schule und war der Erstbeschwerdeführer in der Türkei auch berufstätig. Der Erstbeschwerdeführer war in der Türkei als angelernter Koch und später als Transporteur erwerbstätig und halten sich in der Türkei nach wie vor die Eltern und mehrere Geschwister des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin auf. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sprechen die Mehrheitssprache ihrer Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau und deutet daher nichts darauf hin, dass es dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.

Der sohin in Anbetracht der erst kurzen Zeit des Aufenthaltes in Österreich, der fehlenden beruflichen Integration sowie des mangelnden Spracherwerbs relativ schwachen Rechtsposition des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüber.

Soweit Kinder von einer Ausweisung betroffen sind, sind nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (EGMR U 18.10.2006, Üner gegen Niederlande, Nr. 46.410/99; GK 6.7.2010, Neulinger und Shuruk gegen Schweiz, Nr. 1615/07).

Maßgebliche Bedeutung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter (EGMR U 31.7.2008, Darren Omoregie ua. gegen Norwegen, Nr. 265/07; U 17.2.2009, Onur gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 27.319/07; siehe dazu auch VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072) befinden.

Zur gebotenen Berücksichtigung des Kindeswohles im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK, betont der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2020/18/0288, mwN) die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf selbiges bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung. Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen die Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. etwa VwGH 5.5.2021, Ra 2021/18/0050, mwN).

Um von einem – für die Abwägungsentscheidung relevanten – Grad an Integration (§ 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG 2014) ausgehen zu können, muss sich die Minderjährige während ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet bereits soweit integriert haben, dass aus dem Blickwinkel des Kindeswohles mehr für den Verbleib im Bundesgebiet als für die Rückkehr in den Herkunftsstaat spricht, und dieses private Interesse mit dem öffentlichen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit des Zusammenhalts der Gesellschaft in Österreich korreliert. Aus der Sicht der Minderjährigen bedeutet dies vor allem, dass sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Aus- und/oder Weiterbildung entsprechend dem vorhandenen Bildungsangebot wahrnehmen und sich mit dem sozialen und kulturellen Leben in Österreich vertraut machen, um - je nach Alter fortschreitend - am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teilnehmen zu können (vgl VwGH 25.04.2019, Ra 2018/22/0251).

Bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, sind im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA-VG „die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder“, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl VwGH 24.09.2019, Ra 2019/20/0274; 25.04.2019, Ra 2018/22/0251; 13.11.2018, Ra 2018/21/0205).

Der Umstand, ob sich Kinder in einem anpassungsfähigen Alter befinden, ist relevant für die Interessenabwägung bzw. das dabei zu berücksichtigende Kindeswohl (vgl. VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205). Dies führt aber nicht dazu, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt und einem Vorliegen maßgeblicher integrationsbegründender Umstände die noch gegebene Anpassungsfähigkeit der Kinder die Aufenthaltsdauer entscheidungserheblich relativieren bzw. das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verstärken würde. Der Umstand der Anpassungsfähigkeit spielt allerdings auch bei der Beurteilung eine Rolle, ob Minderjährige einen Eingriff in ihr Privatleben durch eine gemeinsame Ausreise mit dem Obsorgeberechtigten hinzunehmen haben, weil dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Obsorgeberechtigten eine überragende Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 7.3.2019, Ra 2019/21/0044).

Gemäß § 138 ABGB ist das Wohl des Kindes (Kindeswohl) in allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten, insbesondere der Obsorge und der persönlichen Kontakte, als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten. § 138 ABGB dient auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, als Orientierungsmaßstab (vgl. VwGH vom 24.09.2019, Ra 2019/20/0274).

Insbesondere ist der Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Z 1), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Z 4) sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Z 12) nachzugehen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen ist (Z 5) und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden sind, die Kinder durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Z 6). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Z 9).

Im Rahmen der nach § 9 BFA-VG 2014 vorzunehmenden Interessenabwägung kommt den Kriterien des § 138 ABGB hingegen nach der Rechtsprechung des VwGH (vgl. VwGH 14.12. 2020, Ra 2020/20/0408) lediglich die Funktion eines "Orientierungsmaßstabs" für die Behörde bzw. das VwG zu. Zudem sei nochmals klargestellt, dass die Berücksichtigung des Kindeswohls im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung darstellt; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG 2014 vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, die fallbezogen umfänglich ermittelt, festgestellt und bewertet wurden. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG 2014 vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH vom 09.03.2022, Ra 2022/14/0044, mwN).

Eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit wird in der Rechtsprechung für Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren angenommen (vgl. 18.10.2017, Ra 2017/19/0422). In seinem Beschluss vom 30.06.2015, Ra 2015/21/0059, sprach der Verwaltungsgerichtshof auch bei einem vierjährigen Kind vom anpassungsfähigen Alter. Jedenfalls ist bei einem Alter unter sieben Jahren davon auszugehen, dass die Sozialisation des Kindes erst begonnen und jedenfalls noch kein derart fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, dass sie nicht auch im Herkunftsstaat fortgesetzt werden könnte. Im Alter von ca. drei bis vier Jahren steht ein Kind - wenn überhaupt - erst ganz am Beginn der Phase der ersten Verselbständigung und der damit verbundenen Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises (vgl. etwa Gachowetz/Schmidt/Simma/Urban, Asyl- und Fremdenrecht im Rahmen der Zuständigkeit des BFA (2017), 290 und jeweils mwN VwGH 25.02.2010, 2006/18/0363, sowie VwGH 05.04.2002, 2001/18/0176).

Aus dieser Judikaturlinie ergibt sich für die minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer Folgendes:

Zunächst ist im Sinne des Kindeswohls zu beachten, dass ein Kind grundsätzlich Anspruch auf "verlässliche Kontakte" zu beiden Elternteilen hat (vgl. VwGH vom 22.02.2022, Ra 2021/21/0322). Die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer werden gemeinsam mit ihren Eltern in den Herkunftsstaat zurückkehren, weshalb eine Trennung von diesen nicht stattfindet.

Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer wurden in der Türkei geboren und reisten mit den Erst- und Zweitbeschwerdeführern im Jahr 2016 im Alter von drei bzw. fünf Jahren nach Deutschland. In Deutschland kamen die Fünft- und Sechstbeschwerdeführer zur Welt. Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer besuchten in Deutschland den Kindergarten und der Drittbeschwerdeführer zwei Jahre sowie der Viertbeschwerdeführer ein Jahr lang die Schule. Nach der Rückkehr in die Türkei im Juli 2020 besuchten die Dritt- und Viertbeschwerdeführer in der Türkei die Schule bis zur Ausreise im September 2022. Im September 2022 kamen die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer im Alter von zehn, neun, fünf und drei Jahren mit ihren Eltern nach Österreich. Hier besuchen die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer die Volks- bzw. Mittelschule. Aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse der Erst- bis Vierbeschwerdeführer ist anzunehmen, dass innerhalb der Familie Türkisch bzw. Kurdisch gesprochen wird. Zudem indizieren die vorliegenden Schulbestätigungen und Zeugnisse der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer keine Deutschkenntnisse, welche über Einstiegskenntnisse hinausgehen, wobei anzunehmen ist, dass bei einem weiteren regelmäßigen Schulbesuch die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer mittelfristig in der Lage sein werden, sich mit häufig gebrauchten, einfachen Formulierungen in routinemäßigen Situationen verständigen zu können. In der mündlichen Verhandlung bestätigten die Dritt- und Viertbeschwerdeführer selbst, dass sie mit ihren (Schul-)Freunden überwiegend Türkisch sprechen (VS 17 und 18, 14.06.2023). Der Sechstbeschwerdeführer ist erst ab dem Schuljahr 2024/2025 schulpflichtig und besucht aktuell nicht den Kindergarten, weshalb er über stichwortartige Kenntnisse der deutschen Sprache hinausgehende Kenntnisse erst während seines Schulbesuchs erwerben wird.

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer pflegen im Rahmen des Schulbesuches zwar altersentsprechende Kontakte zu Mitschülern und Freunden, ein besonders berücksichtigungswürdiges Naheverhältnis zu Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie wurde allerdings nicht dargetan. Sie sind auch nicht Mitglieder in Vereinen (zB Sportverein).

Die Viert- bis Sechstbeschwerdeführer befinden sich auch in einem anpassungsfähigen Alter (VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422). Der Drittbeschwerdeführer wird im Oktober 2024 dreizehn Jahre alt und befinden sich gemäß der Judikatur der Höchstgerichte zwar nicht mehr im anpassungsfähigen Alter, das in der Rechtsprechung der Höchstgerichte zwischen sieben und elf Jahren angenommen wird (vgl. VfGH 07.10.2014, U 2459/2012 ua., sowie VwGH 19.09.2012, 2012/22/0143 ua.), jedoch hat er ca. sieben Jahre (bis zum sechsten Lebensjahr und vom neunten bis zum elften Lebensjahr) seines bisherigen Lebens in der Türkei verbracht und dort seine erste Sozialisierung erfahren, weshalb die Anpassungsfähigkeit nach wie vor gegeben ist und die Wiedereingliederung nach der Rechtsprechung ebenfalls als möglich und zumutbar erscheinen lässt (vgl. dazu VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422; 30.07.2015, Ra 2014/22/0055; 23.06.2015, Ra 2015/22/0026).

Der Schulbesuch der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer in Österreich bildet zwar das vergleichsweise stärkste Interesse an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet, es ist jedoch anzunehmen, dass in Anbetracht der zahlreichen Familienangehörigen in der Herkunftsregion (der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verfügen über zahlreiche Geschwister samt Familie) Kontaktmöglichkeiten zu anderen Kindern gegeben sind und neben dem Halt im Familienverband mit dem Schulbesuch in der Türkei auch soziale Kontakte außerhalb der Familie geknüpft werden können. Dass die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer in Österreich eine besonders intensive Nahebeziehung zu ihren Mitschülern, Freunden oder Pädagogen pflegen würden, ist nicht dargelegt worden.

Die Beschwerdeführer stehen entsprechend der Angaben der Erst- bis Viertbeschwerdeführer mit ihren Verwandten in der Türkei jedenfalls regelmäßig in Kontakt. Den Dritt- und Viertbeschwerdeführern ist eine Eingliederung in das türkische Schulsystem im Übrigen bereites nach der Rückkehr aus Deutschland gelungen und gibt es seitens der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer auch keine Sprachbarriere, welche die Eigliederung in das Schulsystem als schwierig erweisen könnte. Ein Schulbesuch ist den Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer in der Türkei sohin möglich und zumutbar.

In Anbetracht des erst ca. zweijährigen Aufenthaltes der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer im Bundesgebiet kann auch nicht davon gesprochen werden, dass sie wesentliche Teile ihrer Kindheit und Jugend in Österreich verbracht hätten (vgl. zum Aspekt der Aufenthaltsdauer VfSlg. 19.357/2011).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes deutet zusammenfassend nichts darauf hin, dass es den Dritt- bis Sechstbeschwerdeführern in Begleitung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren.

Dies folgt aus ihrem anpassungsfähigen Lebensalter bzw. ist hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers die grundsätzliche Sozialisierung bereits in der Türkei erfolgt. Weiters fehlen wichtige Bezugspersonen im Bundesgebiet außerhalb der Kernfamilie. Die engsten Bezugspersonen der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer (die Eltern) bleiben diesen erhalten. Dass die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer die Schule in Österreich nicht weiter besuchen können, ist – wie oben dargetan – vertretbar und ein weiterer Schulbesuch bzw. eine Einschulung (Sechstbeschwerdeführer) in der Herkunftsregion möglich und zumutbar. Die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer verfügen in der Türkei neben einer gesicherten Lebensgrundlage auch über familiäre Anknüpfungspunkte, zumal sowohl die Großeltern mütterlicherseits, als auch väterlicherseits sowie zahlreiche Tanten und Onkel samt Familie dort leben. Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, dass die kindliche Entwicklung oder Förderung im Falle der Rückkehr grob beeinträchtigt wäre. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind in der Lage für ihre Grundbedürfnisse zu sorgen und ist das Wohlergehen der Kinder gesichert.

In Anbetracht der gemeinsamen Rückkehr im Familienverband kann auch davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Anwesenheit sämtlicher Bezugspersonen keine das Kindeswohl beeinträchtigende Entwurzelung eintritt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162).

Insgesamt ist daher auch für die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer die Rückkehr gemeinsam mit ihren Eltern in die Türkei zumutbar, weshalb auch die gegen diese erlassenen Rückkehrentscheidungen in dieser Fallkonstellation keine Verletzung ihres Privatlebens iSd Art. 8 EMRK darstellen.

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde daher zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes der Beschwerdeführer im Bundesgebiet das persönliche Interesse der Beschwerdeführer am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.

Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in den Beschwerden nicht substantiiert vorgebracht worden, dass im gegenständlichen Fall Rückkehrentscheidungen auf Dauer unzulässig wären. Die belangte Behörde ist des Weiteren auch nach Abwägung aller dargelegten persönlichen Umstände der Beschwerdeführer zu Recht davon ausgegangen, dass den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG von Amts wegen nicht zu erteilen ist. Schließlich sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde in den angefochtenen Bescheiden gemäß § 52 Abs. 9 iVm § 46 FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Türkei unzulässig wäre.

3.4.5. Die in Spruchpunkte VI. der angefochtenen Bescheide festgelegte Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen entspricht § 55 Abs. 2 FPG. Dass besondere Umstände, die die Beschwerdeführer bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Diesbezüglich finden sich auch keinerlei Ausführungen in den Beschwerden.

Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Rückkehrentscheidungen und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, waren die Beschwerden gegen die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

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