JudikaturVwGH

Ra 2022/21/0003 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des J K, vertreten durch Mag. Elisabeth Mace, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Mariahilfer Straße 124/15, gegen das am 18. Oktober 2021 mündlich verkündete und mit 22. November 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, G313 2230253 1/14E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

1 Der Revisionswerber, ein im Jänner 1981 geborener kroatischer Staatsangehöriger, reiste als Kleinkind nach Österreich ein. Seine Mutter und Geschwister leben in Österreich, er besuchte hier die Schule und war von 1996 bis 2000 als Lehrling beschäftigt. Von 2001 bis 2008 bezog er Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe und in der Folge eine Invaliditätspension.

2 Der Revisionswerber wurde während seines Aufenthaltes mehrfach straffällig.

3 So wurde er in den Jahren 2001, 2003, 2005, 2011 und 2017 wegen mehrerer Vermögensdelikte (teilweise versuchter gewerbsmäßiger Diebstahl gewerbsmäßiger Einbruchsdiebstahl, versuchter Diebstahl, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel) und im Jahr 2017 auch wegen Verleumdung zu bedingten bzw. teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen (wobei die bedingte Strafnachsicht in Bezug auf die im Jahr 2001 und die im Jahr 2017 verhängten Freiheitsstrafen jeweils später widerrufen wurde) sowie zu einer Geldstrafe rechtskräftig verurteilt.

4 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 16. Jänner 2008 wurde über den Revisionswerber wegen des teilweise versuchten unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 1 und 2 erster Fall SMG; § 15 StGB eine bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verhängt. Das Landesgericht für Strafsachen Wien verurteilte den Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil vom 24. Mai 2012 dann auch wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten. Eine weitere Verurteilung wegen eines Suchtmitteldeliktes (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2a SMG) erfolgte mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 13. Mai 2019, mit dem über den Revisionswerber eine unbedingte Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten verhängt wurde.

5 Schließlich wurde der Revisionswerber im Jahr 2019 noch wegen Körperverletzung zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten verurteilt.

6 Mit Bezug auf diese Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 6. März 2020 gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.

7 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen, am 18. Oktober 2021 mündlich verkündeten und mit 22. November 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

9 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG aus den nachstehend angeführten Gründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

10 Die Revision, in der wiederholt vorgebracht wird, der Revisionswerber sei als Kleinkind nach Österreich eingereist und lebe seit damals durchgehend hier, was vom BVwG bei der Beurteilung seiner „Integrationsverbindung“ außer Acht gelassen worden sei, zeigt im Ergebnis zutreffend auf, dass das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht berücksichtigte, dass die Umstände des Falles eindeutig nahelegen, der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG sei erfüllt.

11 Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung überhaupt nicht erlassen werden dürfe, wenn er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht. Fallbezogen ist zur Klarstellung noch zu ergänzen, dass die ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen auch auf Unionsbürger anzuwenden waren (vgl. zum Ganzen VwGH 23.6.2022, Ro 2021/21/0014, Rn. 19, mwN).

12 Das BFA legte im Bescheid vom 6. März 2020 dar, bisher sei von der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den Revisionswerber im Hinblick auf die „ehemals“ (gemeint: bis zum Inkrafttreten des FrÄG 2018 mit 1. September 2018) geltende Bestimmung des § 9 Abs. 4 BFA VG wegen „Aufenthaltsverfestigung“ Abstand genommen worden. Es ging jedoch im Ergebnis (nach dem oben Gesagten zu Unrecht) davon aus, dass die in der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht mehr in Kraft stehenden Bestimmung zum Ausdruck gekommenen Wertungen für die gemäß § 9 BFA VG durchzuführende Interessenabwägung gar keine Rolle mehr spielen. Das BVwG befasste sich im angefochtenen Erkenntnis demgegenüber überhaupt nicht mit den Wertungen des genannten ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestandes, wiewohl es die Feststellung traf, der Revisionswerber sei bereits „als Kleinkind“ nach Österreich eingereist.

13 Das BVwG legte seinen Erwägungen zum Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich nämlich zugrunde, es habe nicht festgestellt werden können, dass sich der Revisionswerber seit seiner Einreise durchgängig in Österreich aufgehalten habe. In der Beweiswürdigung stützte sich das BVwG diesbezüglich auf die Annahme, der Revisionswerber weise (erst) seit dem Jahr 2001 durchgehende Wohnsitzmeldungen im Inland auf. Abgesehen davon, dass es im Allgemeinen nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichtes ist, sich auf negative Feststellungen zu beschränken (vgl. VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0060, Rn. 10), erweist sich die Prämisse, der Revisionswerber habe sich nicht durchgängig im Bundesgebiet aufgehalten, angesichts des Inhaltes der dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten als nicht nachvollziehbar. So gehen aus dem Behördenakt abgesehen von einer zweimonatigen Unterbrechung im Jahr 1983 durchgehende Hauptwohnsitzmeldungen des Revisionswerbers in Wien seit Ende April 1981 hervor und es ist ersichtlich, dass die Bundespolizeidirektion Wien gegenüber der Niederlassungsbehörde damit im Einklang stehend wiederholt ihre Auffassung artikulierte, der Revisionswerber sei bereits im Alter von drei Monaten eingereist und seither durchgehend im Bundesgebiet aufhältig. Dem entsprechend brachte der Revisionswerber in seiner Stellungnahme vom 9. Juni 2019 vor, seit 38 Jahren, also seit seinem Geburtsjahr 1981, in Österreich zu leben. Das BVwG setzte sich allerdings weder mit diesem Vorbringen noch mit den genannten, sich aus dem Akteninhalt ergebenden für einen durchgängigen Aufenthalt seit dem Frühjahr 1981 sprechenden Indizien auseinander.

14 Soweit das BVwG erkennbar davon ausging, der Aufenthalt des Revisionswerbers sei aufgrund der Erteilung von Niederlassungsbewilligungen (erst) ab dem Jahr 2011 rechtmäßig gewesen, übersieht es überdies, dass sich der Aufenthalt des Revisionswerbers dem Inhalt der dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten zufolge zunächst auf Sichtvermerke und dann bereits ab Juli 1999 auf schon damals und in der Folge wiederholt verlängerte Niederlassungsbewilligungen stützte. Ab dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union mit 1. Juli 2013 gründete sich sein Aufenthalt dann auf seine Stellung als Unionsbürger. Vor dem Hintergrund der Aktenlage und der bisher getroffenen Feststellungen des BVwG ist es somit, wie soeben gezeigt, zumindest sehr naheliegend, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG erfüllt war, wobei diesbezüglich darauf hinzuweisen ist, dass es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keiner ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA VG bedarf (vgl. etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0243, Rn. 13).

15 Demnach wäre nach der in Rn. 11 dargestellten Rechtsprechung maßgeblich gewesen, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt.

16 Das Vorliegen einer derart massiven Gefährdung ist aufgrund der festgestellten strafrechtlichen Delinquenz des Revisionswerbers aber auch nicht erkennbar. So lagen seine Verurteilungen wegen gewerbsmäßig begangener Vermögensdelikte zum Entscheidungszeitpunkt schon mehr als 15 Jahre zurück. Auch unter Berücksichtigung der Suchtmitteldelinquenz des Revisionswerbers ist fallbezogen nicht ersichtlich, dass besonders verwerfliche Straftaten und eine daraus abzuleitenden spezifische Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen vorlägen. Im vom BVwG an zwei Stellen des Erkenntnisses angesprochenen Erkenntnis VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0314, in dem auf das große öffentliche Interesse an der Verhinderung von Suchtmitteldelinquenz hingewiesen wird, standen im Übrigen schwerwiegendere Suchtmitteldelikte (Suchtgifthandel und Vorbereitung zum Suchtgifthandel) als vorliegend in Rede; überdies spielten die ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG in diesem Fall keine Rolle. Aus dieser Entscheidung ist daher für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen.

17 Das angefochtene Erkenntnis ist somit schon aus den genannten Gründen mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes behaftet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das übrige Revisionsvorbringen einzugehen war.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, soweit der als Schriftsatzaufwand verzeichnete Betrag den Pauschalsatz nach § 1 Z 1 lit a erster Satz der genannten Verordnung übersteigt; für den gesondert geltend gemachten ERV Zuschlag zuzüglich Umsatzsteuer bieten die genannten Bestimmungen keine Grundlage (vgl. VwGH 24.8.2023, Ra 2021/22/0076, Rn. 26, mwN).

Wien, am 22. Februar 2024

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