JudikaturVwGH

Ra 2020/21/0200 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
14. Februar 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des A A, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. April 2020, L510 2230243 1/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen sowie eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der 1998 in Österreich geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ mit Gültigkeit bis 10. Juli 2019, dessen Verlängerung er fristgerecht beantragte.

2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 21. September 2016 wurde der Revisionswerber wegen des teilweise als Beitragstäter begangenen Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs. 1 Z 2 und 5, 129 Abs. 1 Z 1 und Z 2, 130 Abs. 2 sowie §§ 15 Abs. 1 und 12 dritte Alternative StGB, des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs. 1 StGB, des teilweise versuchten unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach §§ 136 Abs. 1 und 2; 15 Abs. 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe innerhalb eines Zeitraumes von September 2013 bis Juni 2016 zum Teil alleine, zum Teil im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Mittätern zumindest einen Bargeldbetrag in Höhe von insgesamt € 16.019, und diverse Wertgegenstände von unbekanntem Wert, mit Bereicherungsvorsatz gewerbsmäßig, überwiegend durch Einbruch näher genannten Personen weggenommen, wobei es sich um etwa 70 teilweise beim Versuch gebliebene Angriffe gehandelt habe. Ferner habe der Revisionswerber im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter einen Maschendrahtzaun beschädigt, näher genannten Personen eine Gartenschere und eine Gartenharke sowie einen Schlüsselbund dauernd entzogen. Des Weiteren habe er ein Moped, ein Motorrad und zwei Personenkraftwagen ohne Einwilligung der Berechtigten in Gebrauch genommen, wobei dies teilweise beim Versuch geblieben sei. Schließlich habe der Revisionswerber eine verbotene Waffe, nämlich einen Schlagring, unbefugt besessen.

3 Mit rechtskräftigem Urteil vom 5. Oktober 2017 verhängte das Landesgericht Ried im Innkreis gegen den Revisionswerber wegen des teils als Beitragstäter begangenen Vergehens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1; 12 dritte Alternative StGB eine unbedingte Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten. Der Revisionswerber habe im Mai 2017 wiederholt, teilweise gemeinsam mit einer Mittäterin einer näher genannten Person Bargeld in Höhe von insgesamt € 1.500, durch Eindringen in dessen Firmengebäude mittels eines widerrechtlich erlangten Schlüssels gestohlen, wobei er teilweise einen Beitrag durch Aufpasserdienste geleistet habe.

4 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 25. Jänner 2018 wurde der Revisionswerber wegen des als Beteiligter verübten Vergehens des versuchten schweren Betruges nach §§ 12 dritte Alternative, 15 Abs. 1, 146, 147 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall StGB verurteilt, wobei unter Bedachtnahme auf das Urteil vom 5. Oktober 2017 von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen wurde. Der Revisionswerber habe durch seine Anwesenheit in Kenntnis des Tatplanes den unmittelbaren Täter, der die Kassierin einer Tankstelle durch die Vorgabe der Zahlungsfähigkeit und willigkeit sowie durch die Vorspiegelung, ihm würde die vorgelegte Kreditkarte gehören, zur Ausfolgung von zwei Getränken im Wert von € 1,50 zu verleiten versucht habe, bei der Ausführung psychisch unterstützt und dadurch einen sonstigen Tatbeitrag geleistet.

5 Zuletzt wurde der Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 10. Dezember 2019 wegen des (teils versuchten) Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 und 2, 130 Abs. 2 zweiter Fall; 15 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten verurteilt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Mittätern anderen Personen im Juli 2019 und im Oktober 2019 in mehreren Angriffen fremde bewegliche Sachen, insbesondere Bargeld, mit Bereicherungsvorsatz weggenommen bzw. wegzunehmen versucht, indem sie in Gebäude eingebrochen seien und teilweise Behältnisse aufgebrochen hätten.

6 Im Hinblick auf diese Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 24. Februar 2020 gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei, gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab.

7 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 22. April 2020 ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung „mit der Maßgabe“ als unbegründet ab, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf drei Jahre herabgesetzt werde, und es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

8 In seiner Begründung stellte das BVwG die Schullaufbahn des Revisionswerbers in Österreich, die Zeiträume seiner Erwerbstätigkeit, die strafgerichtlichen Verurteilungen sowie ferner fest, dass seine Eltern, in deren Haushalt er zuletzt gewohnt habe, drei Brüder und seine Freundin im Bundesgebiet leben, wobei Feststellungen zu deren Aufenthaltsrecht in Österreich sowie zur Intensität der Beziehung zur Freundin unterblieben. Unter Berufung auf die mehr als einmal auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Straftaten und den Umstand, dass weder das bereits verspürte Haftübel noch seine Familie und seine Freundin den Revisionswerber von der Begehung weiterer Einbrüche hätten abhalten können, ging das BVwG davon aus, dass keine positive Zukunftsprognose getroffen werden könne, zumal eine Phase des Wohlverhaltens nicht vorliege, weil sich der Revisionswerber aktuell noch in Haft befinde. Angesichts des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Revisionswerbers stelle sein Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 52 Abs. 5 FPG iVm § 53 Abs. 3 Z 1 FPG dar. In Anbetracht des daraus resultierenden öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung trete das Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet „massiv“ in den Hintergrund, sodass auch eine Trennung von der Familie in Kauf zu nehmen sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

10 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG wie in der Revision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

Das BVwG hat nämlich dem Umstand, dass der Revisionswerber in Österreich geboren und aufgewachsen sowie langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht die gebotene Bedeutung zugemessen.

11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG (die durch das FrÄG 2018 aufgehoben wurden) im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG weiterhin beachtlich, und es sind daher in diesen Fällen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen zulässig. Orientierung für eine derartige Gefährdung bieten die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 53 Abs. 3 FPG, wobei auch andere Formen gravierender Straffälligkeit in Frage kommen (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12, und mehrere daran anschließende Entscheidungen; vgl. auch EGMR, 15.11.2012, Shala gg. Schweiz , 52873/09, Z 55, wonach es bei einem im Kindesalter eingereisten Fremden „einigermaßen außergewöhnlicher Umstände“, die etwa in der „außerordentlichen Schwere“ der begangenen Straftaten liegen könnten, bedarf, um in einer solchen Situation die Außerlandesbringung zu rechtfertigen); das gilt umso mehr für Fälle, in denen wie hier die Voraussetzungen der Z 2 des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA VG erfüllt sind (siehe dazu etwa VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0246, Rn. 20, mit dem Hinweis auf VwGH 22.1.2021, Ra 2020/21/0506, Rn. 18/19; vgl. zu solchen Fällen auch VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0088, und VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0272; vgl. in diesem Sinn auch EGMR 23.6.2008, Maslov gg. Österreich , 1638/03, Z 75, wonach bei Fremden, die ihre gesamte oder den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend (rechtmäßig) im Vertragsstaat verbracht haben, nur sehr gewichtige Gründe [„very serious reasons“] eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen; ebenso EGMR 12.1.2021, Khan gg. Dänemark , 26957/19, Z 60; EGMR 12.1.2021, Munir Johana gg. Dänemark , 56803/18, Z 46; EGMR 22.12.2020, Z gegen Schweiz , 6325/15, Z 59).

12 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste also angesichts der Geburt des Revisionswerbers in Österreich eine spezifische Gefährdung von ihm ausgehen, die im Einzelfall trotz dieses langjährigen Aufenthalts und der damit verbundenen Integration, insbesondere der familiären Kontakte, dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFA VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist.

13 Eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen eines Drittstaatsangehörigen erlaubt, ist hier trotz der einschlägigen Rückfälle des Revisionswerbers insgesamt nicht gegeben. Einer solchen Annahme steht nämlich entgegen, dass den Verurteilungen einerseits keine Gewalt bzw. Körperverletzungsdelikte zugrunde lagen und andererseits zugunsten des Revisionswerbers bei den ersten drei strafgerichtlichen Verurteilungen das jugendliche Alter bzw. der Umstand, dass er noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hatte, zu berücksichtigen gewesen wäre. Auch die Höhe der verhängten Freiheitsstrafen bewegte sich jeweils im unteren Bereich des Strafrahmens und erreicht nicht jenes Maß, das eine gravierende Straffälligkeit erkennen ließe. Vor diesem Hintergrund ist von keiner derart massiven Gefährdung auszugehen, die es erlaubt hätte, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen den in Österreich geborenen Revisionswerber zu erlassen, der nach den Feststellungen des BVwG, denen keine Anknüpfungspunkte des Revisionswerbers zur Türkei zu entnehmen sind, sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht hat und hier über familiäre Bindungen verfügt.

14 Da das BVwG somit die Bedeutung der Aufenthaltsverfestigung des Revisionswerbers bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. Februar 2022

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