Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätinnen Dr. Wiesinger und Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Wagner, über die Revision des D A, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Dr. Thomas Lechner und Dr. Martin Dellasega, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2023, L516 2245006 1/20E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1981 geborene türkische Revisionswerber kam (spätestens) im Jahr 1989 im Zuge der Familienzusammenführung nach Österreich und hält sich seitdem durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet auf, seit 2013 verfügt er über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. In Österreich leben die Eltern des Revisionswerbers, mit denen er einen gemeinsamen Haushalt führt, sowie seine beiden erwachsenen Brüder, die mit ihren Familien in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen. Der Revisionswerber hat eine Lebensgefährtin und ist aus zwei früheren Beziehungen Vater von zwei minderjährigen Töchtern (geboren 2015 und 2021), die beide österreichische Staatsbürgerinnen sind. Die ältere Tochter lebt bei Pflegeeltern, die jüngere Tochter bei ihrer Mutter. Zu beiden Kindern hat der Revisionswerber keinen Kontakt. In der Türkei leben zwei Schwestern des Revisionswerbers.
2 In den Zeiträumen Juni 2001 bis Februar 2009, September 2011 bis August 2015, Mai bis Oktober 2020 und zuletzt ab Juli 2022 war der Revisionswerber durchgehend berufstätig. In den dazwischenliegenden Zeiträumen bezog der Revisionswerber mehrmals Arbeitslosengeld, Notstandshilfe bzw. Überbrückungshilfe.
3 Der Revisionswerber wurde beginnend ab dem Jahr 1999 bis 2011 zunächst als Jugendlicher, später als Erwachsener wegen zahlreicher Vergehen insbesondere (fahrlässiger) Körperverletzung, Raufhandel und (versuchter) Nötigung insgesamt fünf Mal rechtskräftig verurteilt, wobei im Rahmen des ersten Schuldspruchs unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren von der Verhängung einer Strafe abgesehen wurde. In der Folge wurden jeweils unbedingte Geldstrafen und einmal eine Geldstrafe als Zusatzstrafe gegen den Revisionswerber verhängt. In den Jahren 2017 und 2018 wurde der Revisionswerber zwei Mal jeweils wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht, und zwar zunächst zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten und anschließend zu einer unbedingten Freiheitstrafe in der Dauer von zwei Wochen, verurteilt.
4 Mit dem rechtskräftigen Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 11. Februar 2021 wurde der Revisionswerber, nach erfolgter Strafberufung (auch) durch die Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 19. November 2020, wegen des Verbrechens der schweren Nötigung sowie des Vergehens der Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Revisionswerber seine ehemalige Lebensgefährtin und Mutter seiner jüngeren Tochter brutal am Körper verletzt sowie sie mit Gewalt und gefährlicher Drohung mit dem Tode zur Unterlassung wahrheitsgemäßer Angaben über seine vorausgegangenen Tätlichkeiten gegenüber der Polizei und ihren Freunden genötigt habe.
5Noch im selben Jahr wurde der Revisionswerber mit dem weiteren rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 24. März 2021 wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels gemäß § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG unter Bedachtnahme auf das Urteil vom 19. November 2020 zu einer unbedingten (Zusatz )Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Jahr verurteilt. Der Revisionswerber wurde am 18. April 2022 unter Setzung einer Probezeit in der Dauer von drei Jahren und Anordnung der Bewährungshilfe bedingt aus der Strafhaft entlassen.
6Mit Bezug auf seine Straffälligkeit hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 30. Juni 2021 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFAVG eine Rückkehrentscheidung erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, über den Revisionswerber gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein sechsjähriges Einreiseverbot verhängt, einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFAVG die aufschiebende Wirkung aberkannt und ihm somit gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt.
7 Infolge der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde erließ das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) das als „Beschluss“ bezeichnete Teilerkenntnis vom 10. August 2021, mit dem der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde.
8 Des Weiteren wurde der Beschwerde sodann mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. April 2023 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung noch insoweit stattgegeben, als das BVwG die Dauer des Einreiseverbots auf vier Jahre herabsetzte und dem Revisionswerber eine 14tägige Frist für die freiwillige Ausreise erteilte. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
9Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
10 Die Revision erweist sich wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibtentgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
11 Das BVwG hat nämlich wie die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen zu Recht geltend macht die Annahme, vom Revisionswerber gehe aufgrund seiner Straffälligkeit eine das Einreiseverbot trotz seines seit mindestens 34 Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich, wobei ihm vor Begehung der ersten Straftat die Staatsbürgerschaft hätte verliehen werden können, weshalb der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG (idF vor dem FrÄG 2018) erfüllt wurde rechtfertigende spezifische Gefährdung aus, mangelhaft begründet.
12 Der genannte § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFAVG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0015, Rn. 9, mwN).
13 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste angesichts der Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich von mindestens 34 Jahren eine spezifische Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten von ihm ausgehen, die im Einzelfall trotz seines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts (zuletzt mit „Daueraufenthalt EU“) und der damit verbundenen Integration, dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFAVG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist (vgl. idS VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 12 iVm Rn. 11).
14 Das BVwG ging bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG, wie sich aus der Wiedergabe einschlägiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erkennbar ergibt, zwar davon aus, dass dem Revisionswerber vor dem Beginn seiner Delinquenz die österreichische Staatsbürgerschaft hätte verliehen werden können und daher der ehemalige Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG idF vor dem FrÄG 2018 verwirklicht sei. Angesichts der wie das BVwG annahm elf strafgerichtlichen Verurteilungen, wobei auch im Erwachsenenalter beim Revisionswerber kein Gesinnungswandel eingetreten sei, sondern sich seine Gewalttätigkeit und Kriminalität sogar gesteigert hätten, sodass der Revisionswerber zuletzt im Jahr 2021 zwei Mal rechtskräftig jeweils wegen der Begehung von Verbrechen verurteilt worden sei, sei beim Revisionswerber jedoch insgesamt von der Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlichen Interessen auszugehen, sodass das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung die familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers in Österreich überwiege. Die durch die Aufenthaltsbeendigung bewirkte Trennung des Revisionswerbers von seinen Familienangehörigen und seiner Lebensgefährtin sei im großen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Straftaten der in Rede stehenden Art in Kauf zu nehmen, wobei das BVwG im Hinblick auf die persönlichen Interessen des Revisionswerbers am Verbleib in Österreich eine Reduktion der Einreiseverbotsdauer auf vier Jahre als angemessen erachtete.
15 Die strafgerichtliche Delinquenz des Revisionswerbers ab dem Jahr 2018 darf zwar insbesondere im Hinblick auf das Fehlverhalten gegenüber der Mutter seiner jüngeren Tochter nicht verharmlost werden, und es ist dem BVwG einzuräumen, dass eine Aufenthaltsbeendigung (samt Einreiseverbot) insbesondere bei Begehung der Verbrechen des Suchtgifthandels und der schweren Nötigung in Verbindung mit den übrigen Delikten nicht auszuschließen ist. Dies hätte allerdings einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Aspekten dieses Falles bedurft.
16In diesem Zusammenhang hätte das BVwG zunächst schon nicht vom Vorliegen elf strafgerichtlicher Verurteilungen ausgehen dürfen. Dabei lässt es nämlich außer Acht, dass in zwei Fällen nur Zusatzstrafen zu Vorverurteilungen verhängt wurden, die jeweils als Einheit zu werten gewesen wären (vgl. etwa VwGH 29.1.2025, Ra 2022/21/0205, Rn. 13, mwN). Darüber hinaus wäre vom BVwG zu Gunsten des Revisionswerbers zu berücksichtigen gewesen, dass seine ersten drei Verurteilungen im Zeitpunkt des angefochtenen Erkenntnisses nicht nur, wie auch das BVwG einräumte, als Jugendlicher begangenen wurden, sondernzum Teil schon mehr als 20 Jahre zurücklagen, er sich im Zeitraum von April 2011 bis April 2015 wohlverhalten hat und auch beruflichen Tätigkeiten nachgegangen ist, und der Revisionswerber bis zu seiner achten Verurteilung im Jahr 2018 keine Strafhaft zu verbüßen hatte. Schließlich hätte das BVwG bei der Beurteilung der Schwere des der letzten Verurteilung u.a. zugrundeliegenden Suchtgiftdelikts und der daraus ableitbaren Gefährdung einbeziehen müssen, dass kein qualifizierter Suchtgifthandel iSd der Abs. 2, 4 oder 5 des § 28a SMG gegeben war und die (Zusatz)Strafe bei einem Strafrahmen nach § 28a Abs. 1 SMG von bis zu fünf Jahren unbedingter Freiheitsstrafe im unteren Bereich ausgemessen wurde (vgl. etwa VwGH 31.8.2021, Ra 2021/21/0075, Rn. 15).
17Aufgrund der genannten Begründungsmängel war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
19Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. August 2025