JudikaturVwGH

Ra 2023/18/0176 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der J D, in Friesach, vertreten durch Mag. Philipp Tschernitz, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Glasergasse 2/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 2022, W215 2213356 1/13E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige der Republik Kasachstan, reiste im Alter von 15 Jahren gemeinsam mit ihrer Großmutter in das Bundesgebiet ein und stellte mit dieser am 20. April 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Die Revisionswerberin begründete ihren Antrag im Wesentlichen damit, sich ihrer Großmutter anschließen zu wollen; sie habe weder eigene Fluchtgründe noch Probleme mit den kasachischen Behörden. Sie habe immer bei ihrer Großmutter gelebt und wolle dies auch weiterhin.

2 Mit Bescheid vom 14. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Kasachstan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Nachdem im Verfahren der Großmutter der Revisionswerberin zeit und inhaltsgleich entschieden wurde, erhoben die Revisionswerberin und ihre Großmutter gemeinsam Beschwerde. Mit Erkenntnis vom 31. März 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde der Großmutter nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Begründend schenkte das BVwG dem Fluchtvorbringen der Großmutter der Revisionswerberin keinen Glauben. Dieses Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.

4 Mit dem verfahrensgegenständlich angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG auch die Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass es der Revisionswerberin nicht gelungen sei, die Voraussetzungen für internationalen Schutz darzutun. Die Revisionswerberin habe bis zuletzt weder Fluchtgründe noch Probleme mit kasachischen Behörden behauptet, weshalb keine Verfolgungsgefahr anzunehmen sei. In Anbetracht ihrer familiären Kontakte in Kasachstan, ihrer Schulbildung, der Möglichkeit, im Fall ihrer Rückkehr nach Kasachstan ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, und der fehlenden Gefahr, in eine aussichtslose Lage zu geraten, lägen die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Abwägung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 Abs. 1 BFA VG vor und kam zu dem Ergebnis, dass die näher dargestellten öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen der Revisionswerberin am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden. Dabei berücksichtigte das BVwG insbesondere die über siebeneinhalbjährige Aufenthaltsdauer der Revisionswerberin, die sehr guten Deutschkenntnisse, die bisherige Schullaufbahn, ihre Zukunftspläne und das Vorliegen einer Einstellungszusage. Die Rückkehrentscheidung bilde auch keinen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Schutz des Familienlebens. Die Revisionswerberin habe zwar einen Freund, lebe mit diesem jedoch weder im gemeinsamen Haushalt noch bestehe ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Die Großmutter der Revisionswerberin sei nach Abschluss ihres Asylverfahrens bereits wieder nach Kasachstan zurückgekehrt.

6 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 15. März 2023, E 2877/2022 7, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

7 Die vorliegende außerordentliche Revision macht zu ihrer Zulässigkeit geltend, das BVwG habe der ihm auferlegten Ermittlungspflicht nicht entsprochen. Das BVwG hätte den Umstand, dass die Revisionswerberin mit ihrer Großmutter eingereist sei, zum Anlass nehmen müssen anzunehmen, „dass etwas nicht stimme“. Wäre dem nachgegangen worden, hätte sich herausgestellt, dass die Revisionswerberin Opfer häuslicher Gewalt und Opfer einer Vergewaltigung gewesen sei. Ihr hätte sohin ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt werden müssen. Zudem habe das BVwG die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung in unvertretbarer Weise vorgenommen, weil es nicht ausreichend berücksichtigt habe, dass die Revisionswerberin als Minderjährige eingereist sei, sie nur aus finanziellen Gründen nicht mit ihrem Freund zusammenwohne, keine Leistungen aus der Grundversorgung mehr beziehe, die Schule wieder besuche und Unterstützungserklärungen vorlägen. Die vorgelegte Einstellungszusage sei nicht ausreichend gewichtet worden und komme angesichts der siebeneinhalbjährigen Aufenthaltsdauer der Revisionswerberin die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, nach welcher einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt, nicht zum Tragen.

8 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.

9 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

10 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

11 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung betont, dass dem Vorbringen des Asylwerbers zentrale Bedeutung zukommt. Das geht auch aus § 18 Abs. 1 AsylG 2005 deutlich hervor, wonach das BFA und das BVwG in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diese Pflicht bedeutet aber nicht, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. VwGH 9.3.2023, Ra 2023/20/0041 bis 0043, mwN). Die Frage, ob das BVwG im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflichten weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 27.3.2023, Ra 2022/18/0157, mwN).

13 Angesichts dessen, dass die Revisionswerberin weder vor dem BFA noch in ihrer Beschwerde oder sonst vor dem BVwG im Rahmen der mündlichen Verhandlung angegeben hat, Opfer häuslicher Gewalt gewesen oder vergewaltigt worden zu sein, ist eine grob fehlerhafte Vorgehensweise des BVwG nicht ersichtlich.

14 Soweit sich die Revisionswerberin gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA VG wendet und ins Treffen führt, dass sich die Revisionswerberin im Entscheidungszeitpunkt bereits mehr als sieben Jahre in Österreich aufgehalten habe, ist ihr zwar darin zuzustimmen, dass deshalb jene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, nach welcher einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 18.3.2021, Ra 2021/18/0091, mwN), im Revisionsfall nicht maßgeblich ist. Die Revision übersieht aber, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer jedoch nicht allein maßgeblich ist, sondern vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. etwa VwGH 27.2.2023, Ra 2023/18/0033, mwN).

15 Das BVwG hat die Dauer des Aufenthalts der Revisionswerberin von etwa siebeneinhalb Jahren in seinem Entscheidungszeitpunkt und während dieser Zeit gesetzte Integrationsschritte in die Interessenabwägung einbezogen und mit den gegen den Verbleib der Revisionswerberin sprechenden öffentlichen Interessen abgewogen. Dass es dabei von den Leitlinien der höchstgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. dazu etwa VwGH 21.10.2022, Ra 2022/18/0162, mwN) abgewichen wäre, vermag die Revision nicht darzutun. Zur vorgelegten Einstellungszusage ist anzumerken, dass das BVwG die bedingte Einstellungszusage eines Unternehmens in Neumarkt als Servicekraft (der vorgelegte Arbeitsvertrag wurde lediglich seitens der potenziellen Arbeitgeberin unterfertigt) in seiner Interessenabwägung ebenso berücksichtigt, ihr jedoch mit näherer Begründung (es handle sich um ein Gefälligkeitsschreiben einer ihrer besten Freundinnen) keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat. Unter anderem wurden auch die sehr guten Deutschkenntnisse der Revisionswerberin gewürdigt und ihre bisherige Schullaufbahn, welche sie ihren eigenen Aussagen in der mündlichen Verhandlung nach jedoch abbrechen wolle (vgl. Verhandlungsprotokoll Seite 10). Im Übrigen stehen dem Revisionsvorbringen, es sei mangelnden finanziellen Möglichkeiten geschuldet, dass die Revisionswerberin und ihr Freund bisher keinen gemeinsamen Haushalt begründet hätten, die Aussagen der Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung entgegen, wonach sie noch nicht zusammenleben wollen (vgl. Verhandlungsprotokoll Seite 10).

16 Zum Vorbringen der Revision im Hinblick auf die zum Einreisezeitpunkt vorliegende Minderjährigkeit der Revisionswerberin ist auszuführen, dass es zwar der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entspricht, bezogen auf die Situation von Kindern dem Bewusstsein um die Unsicherheit ihres Aufenthalts im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht beizumessen (vgl. VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072; VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210). Das hinderte das BVwG aber nicht, in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Revisionswerberin schon im Oktober 2017 volljährig geworden ist, Teile ihrer Integrationsschritte (die Begründung von Freundschaften) auch unter dem Blickwinkel des bekannten unsicheren Aufenthalts zu beurteilen.

17 Sofern die Revision auf nach dem Entscheidungszeitpunkt eingetretene Änderungen im Privatleben der Revisionswerberin kein Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung, zwischenzeitlicher Schulbesuch sowie dem Vorliegen von Unterstützungserklärungen verweist, steht einer Berücksichtigung dieses Vorbringens das aus § 41 VwGG ableitbare Neuerungsverbot im Revisionsverfahren entgegen.

18 Wenn sie die Abwägung „wegen Willkür“ bemängelt, ist ihr lediglich entgegenzuhalten, dass auch der Verfassungsgerichtshof in seinem im gegenständlichen Fall ergangenen Ablehnungsbeschluss vom 15. März 2023 festgehalten hat, das BVwG habe sich mit der Frage der Gefährdung der Revisionswerberin in ihren Rechten nach Art. 8 EMRK auseinandergesetzt. Ihm könne unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgehe, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Revisionswerberin ihr Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art. 8 EMRK überwiege.

19 Insoweit sich die Revisionswerberin im Revisionspunkt in der Einhaltung von Verfahrensvorschriften verletzt sieht, ist festzuhalten, dass diese als solche keinen Revisionspunkt darstellen, sondern zu den Revisionsgründen (§ 28 Abs. 1 Z 5 VwGG) zählen (vgl. etwa VwGH 9.5.2022, Ra 2021/01/0184 bis 0190, mwN). Soweit die Revision im weiteren die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet, ist auszuführen, dass der Verwaltungsgerichtshof zur Prüfung einer Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, die gemäß Art. 144 Abs. 1 B VG als Prozessvoraussetzungen für ein Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof umschrieben sind, gemäß Art. 133 Abs. 5 B VG nicht berufen ist (vgl. VwGH 21.4.2022, Ra 2022/19/0004, mwN). Insbesondere ist eine solche Behauptung nicht geeignet, die Zulässigkeit der Revision darzutun.

20 Zur Frage, ob der Revisionswerberin der Status der Asylberechtigten oder subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen wäre, enthält die Revision kein relevantes Vorbringen. Dem einzig näher präzisierten Vorwurf, die Revisionswerberin geriete in eine ausweglose Lage, wodurch sie in ihrem „Recht auf Leben“ verletzt werde und der gesamte Sachverhalt in diese Richtung hin zu interpretieren gewesen sei, ist zu erwidern, dass das BVwG eine derartige Gefährdung mit näherer Begründung verneint hat. Dem hält die Revision in ihrer Zulassungsbegründung nichts Stichhaltiges entgegen.

21 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 3. Juli 2023

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