JudikaturVwGH

Ra 2022/21/0133 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
EU-Recht
30. November 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des D J, vertreten durch Dr. Reinhard Schwarzkogler, Rechtsanwalt in 4650 Lambach, Marktplatz 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Mai 2022, W202 2225437 1/29E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der im Juni 1997 in Österreich geborene Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, hält sich seit seiner Geburt durchgehend in Österreich auf. Seit August 2002 verfügt er über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Niederlassungsbewilligung Familiengemeinschaft ausgenommen unselbständiger Erwerb“.

2 Im Laufe seines Aufenthaltes wurde der Revisionswerber beginnend mit dem Jahr 2014 zunächst mehrmals wegen verschiedener Jugendstraftaten, nämlich insbesondere wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (ausschließlich zum persönlichen Gebrauch), Sachbeschädigung, weiters wegen Raubes, Urkundenunterdrückung, dauernder Sachentziehung und fahrlässiger Körperverletzung zweimal, davon einmal als Zusatzstrafe, zu bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen und zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt.

3 In der Folge wurde der Revisionswerber im Hinblick auf Straftaten, die er als junger Erwachsener begangen hatte, zweimal rechtskräftig verurteilt. So verhängte das Landesgericht Wels mit Urteil vom 18. September 2017 über ihn wegen mehrerer Körperverletzungsdelikte, darunter auch eine absichtliche schwere Körperverletzung und eine versuchte schwere Körperverletzung, sowie wegen Sachbeschädigung und versuchter Nötigung eine Freiheitsstrafe in der Dauer von 24 Monaten, wovon 16 Monate bedingt nachgesehen wurden. Mit Urteil des Landesgerichtes Wels vom 18. Mai 2018 wurde der Revisionswerber wegen mehrerer Suchtmitteldelikte (Vorbereitung von Suchtgifthandel, Suchtgifthandel, unerlaubter Umgang mit Suchtgiften ausschließlich zum persönlichen Gebrauch), wegen Körperverletzung und schwerer Körperverletzung sowie wegen versuchter Nötigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 14 Monaten verurteilt, wobei die bedingte Nachsicht der mit seiner ersten Verurteilung im Jahr 2014 verhängten dreiwöchigen Freiheitsstrafe widerrufen wurde.

4 Das Landesgericht Wels verurteilte den Revisionswerber dann noch mit rechtskräftigem Urteil vom 7. August 2019 wegen Nötigung und falscher Beweisaussage als Bestimmungstäter zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 14 Monaten.

5 Mit Bescheid vom 2. Oktober 2019 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bezug auf die genannten Straftaten und die deshalb erfolgten strafgerichtlichen Verurteilungen gegen den Revisionswerber gestützt auf § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Serbien zulässig sei. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erließ das BFA überdies gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Es erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab und gewährte somit nach § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.

6 Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 21. November 2019 wurde der dagegen erhobenen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

7 Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 7. Juli 2021 wurde mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25. Jänner 2022 die Rechtssache der Gerichtsabteilung W283 abgenommen und der Gerichtsabteilung W202 zugewiesen.

8 Mit (mittlerweile rechtskräftigem) Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 3. November 2021 wurde der Revisionswerber schließlich noch wegen Nötigung als Beteiligter zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt, wobei seine bedingte Entlassung aus der vorangegangenen Strafhaft widerrufen und angeordnet wurde, dass der Strafrest von drei Monaten zu vollziehen sei.

9 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. Mai 2022 wies das BVwG ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung die Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 5 FPG gestützt und dem Revisionswerber eine Frist von 14 Tagen „ab Haftentlassung“ für die freiwillige Ausreise gewährt werde. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

10 Das BVwG traf Feststellungen zu den erwähnten Straftaten des Revisionswerbers. Weiters hielt es fest, dass der Revisionswerber in Österreich geboren worden sei und sich „Zeit seines Lebens“ in Österreich aufhalte. Er spreche fließend Deutsch und gebrochen Serbisch, habe in Österreich die Pflichtschule absolviert sowie zuletzt einen Kurs als Staplerfahrer besucht. Er sei zeitweise als Angestellter, Lehrling und Arbeiter beschäftigt gewesen und habe sonst vom Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe gelebt. Die Eltern, Großeltern, Tanten, Cousinen und Neffen des Revisionswerbers sowie seine Schwester lebten in Österreich. Zu seinem Vater habe er nicht viel Kontakt, seine engsten Bezugspersonen seien seine Mutter, mit der er im gemeinsamen Haushalt lebe, seine Schwester, seine Cousine und seine Freundin, die österreichische Staatsbürgerin sei. In seinem Herkunftsstaat verfüge der Revisionswerber über keine wesentlichen Anknüpfungspunkte; er sei in den letzten Jahren nur ein oder zweimal dort gewesen und es lebe dort eine Großmutter väterlicherseits.

11 In rechtlicher Hinsicht ging das BVwG davon aus, dass der dem Revisionswerber im Jahr 2002 erteilte unbefristete Aufenthaltstitel nach den Übergangsbestimmungen des § 81 Abs. 2 NAG iVm § 11 Abs. 3 [Z 1 iVm Abs. 2 lit. A Z 5] NAG DV als Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ weitergelte. Daher sei § 52 Abs. 5 FPG einschlägig. In Anbetracht der Delinquenz des Revisionswerbers, insbesondere im Bereich der Suchtmittelkriminalität sowie in Bezug auf Gewalt bzw. Körperverletzungsdelikte, stelle sein Aufenthalt eine „schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne der genannten Bestimmung dar, weshalb die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes zulässig sei.

12 Der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG legte das BVwG zugrunde, dass die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG weiter beachtlich seien und in diesen Konstellationen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen zulässig sein könne. Eine solche „gravierende“ Straffälligkeit könne sich so das BVwG in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses weiter auch aus einer „hohen Quantität an [...] ‚minderschweren‘ Straftaten“ bei gleichzeitiger negativer Zukunftsprognose ergeben.

13 Dem Revisionswerber sei in diesem Sinne eine „gravierende Straffälligkeit“ vorzuwerfen. Der Umstand, dass er die Straftaten zum überwiegenden Teil im Alter von unter 21 Jahren begangen habe, trete in Anbetracht der „Brutalität und Energie seines strafrechtlichen Verhaltens, welches zu seiner vierten und fünften Verurteilung [gemeint wohl: mit Urteil des Landesgerichtes Wels vom 18. September 2017 und mit Urteil des Landesgerichtes Wels vom 18. Mai 2018, siehe Rn. 3] geführt hat“ in den Hintergrund. Hervorzuheben sei auch, dass Suchtgiftdelinquenz, insbesondere Suchtgifthandel, ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstelle und der Revisionswerber mehrmals gegen dasselbe Rechtsgut gerichtete Delikte (Körperverletzung, Nötigung) begangen habe. Außerdem sei in Anbetracht seiner kontinuierlichen Straffälligkeit und des Umstandes, dass der Revisionswerber das Ausmaß seines Fehlverhaltens unterschätze er habe in der Beschwerdeverhandlung angesprochen auf seine Straftaten gelacht und diese bagatellisiert von einer negativen Zukunftsprognose auszugehen.

14 Zu den in Österreich lebenden Angehörigen stehe der Revisionswerber in keinem Abhängigkeitsverhältnis und er werde, zumal er arbeitsfähig sei, Serbisch und auch Englisch spreche und zu seiner in Serbien lebenden Großmutter Kontakt aufnehmen könne, in seinem Herkunftsstaat Fuß fassen können.

15 Vor diesem Hintergrund überwögen daher die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes des Revisionswerbers seine persönlichen Interessen an seinem Verbleib im Bundesgebiet.

16 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

17 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision zu Recht aufgezeigt wird von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

18 Das BVwG hat nämlich dem Umstand, dass der Revisionswerber in Österreich von klein auf aufgewachsen sowie langjährig rechtmäßig niedergelassen ist und deshalb der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG erfüllt wurde, bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht die gebotene Bedeutung zugemessen.

19 Der genannte § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind wie das BVwG grundsätzlich zutreffend festhielt die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. etwa VwGH 5.10.2022, Ra 2022/21/0075, Rn. 11, und VwGH 30.3.2023, Ra 2021/21/0172, Rn. 9, jeweils mwN).

20 Eine demnach für die Aufenthaltsbeendigung in einem solchen Fall geforderte besonders gravierende bzw. schwere Straffälligkeit im Sinn der Begehung besonders verwerflicher Straftaten und eine daraus abzuleitende spezifische Gefährdung, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt (vgl. erneut VwGH 5.10.2022, Ra 2022/21/0075, nunmehr Rn. 12), ist der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses jedoch nicht nachvollziehbar zu entnehmen.

21 Das BVwG ging bei der Interessenabwägung zwar davon aus, dass der Revisionswerber den überwiegenden Teil der von ihm begangenen Straftaten im Alter unter 21 Jahren begangen hatte. Es zeigte aber vor dem Hintergrund, dass dies insbesondere auch auf die vom BVwG als besonders gravierend eingestuften Straftaten zutrifft, die den Urteilen des Landesgerichtes Wels vom 18. September 2017 und vom 18. Mai 2018 (siehe Rn. 3) zugrunde lagen, und dass die diesen Verurteilungen zugrunde liegenden Tatzeiträume (2016 und 2017) zum Entscheidungszeitpunkt bereits mehrere Jahre zurücklagen, nicht nachvollziehbar auf, aus welchen Gründen eine aus besonders verwerflichen Straftaten (nach wie vor) abzuleitende spezifische Gefährdung anzunehmen sei, die es erlaubt hätte, gegen den in Österreich geborenen Revisionswerber, der sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht hat und hier über familiäre Bindungen verfügt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu erlassen. Insbesondere hätte das BVwG nicht außer Acht lassen dürfen, dass die kürzer zurückliegenden, vom Revisionswerber im Alter von über 21 Jahren begangenen Straftaten keine Suchtmittel und Körperverletzungsdelikte betrafen.

22 Vor allem hat das BVwG in diesem Zusammenhang aber auch übersehen, dass für die umfassende Interessenabwägung, wie sie in ehemals dem § 9 Abs. 4 BFA VG unterliegenden Konstellationen geboten ist, in der Regel die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer Beschwerdeverhandlung erforderlich ist (vgl. VwGH 25.10.2023, Ra 2021/21/0296, Rn. 15, mit Hinweis auf VwGH 26.7.2022, Ra 2021/21/0358, Rn. 16, mwN; siehe auch VwGH 30.11.2023, Ra 2021/21/0111, Rn. 14). Im vorliegenden Fall erfolgte nach Durchführung der mündlichen Verhandlung ein Richterwechsel, ohne dass jedoch die Verhandlung wiederholt worden wäre. Dadurch hat das BVwG seine Verhandlungspflicht missachtet (siehe etwa VwGH 16.2.2023, Ra 2022/18/0142, Rn. 11/12, mwN). Insbesondere gehen damit auch die Erwägungen des BVwG, die die Einschätzung, dass der Revisionswerber sein Fehlverhalten bagatellisiert habe, auf dessen Verhalten während der mündlichen Verhandlung stützten, ins Leere.

23 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

24 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht im Rahmen des gestellten Begehrens auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. November 2023

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