JudikaturJustiz7Ob235/16h

7Ob235/16h – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. März 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** S*****, vertreten durch Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt in St. Jakob in Haus, gegen die beklagte Partei G***** AG, *****, vertreten durch Dr. Stefan Rainer und Dr. Andreas Ruetz, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen 43.687,14 EUR sA über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 29. November 2016, GZ 4 R 167/16i 61, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 4. Oktober 2016, GZ 6 Cg 55/15x 56, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden – soweit sie nicht hinsichtlich der Abweisung von 5.441,46 EUR durch das Erstgericht bereits in Rechtskraft erwachsen sind – in Ansehung der Bekämpfung von 38.245,68 EUR samt 4 % Zinsen seit 12. 11. 2014 aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger hat bei der Beklagten einen Unfallversicherungsvertrag abgeschlossen, welchem die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 2006) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise wie folgt:

G. Was versteht man unter 'Dauernder Invalidität'?

Wie wird der Invaliditätsgrad bemessen?

1. Dauernde Invalidität liegt vor, wenn die versicherte Person durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist.

[…]

2. Die dauernde Invalidität muss

– innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eintreten und

– innerhalb von 15 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt und bei uns geltend gemacht werden.

3. [...]

Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten zur Bemessung des Invaliditätsgrades ausschließlich, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, die folgenden Bewertungsgrundlagen (Gliedertaxe):

eines Armes … 70 %

[…]

Sind mehrere Körperteile oder Sinnesorgane durch den Unfall beeinträchtigt, werden die ermittelten Invaliditätsgrade zusammengerechnet. Mehr als 100 % werden nicht berücksichtigt.

[…]

4. Steht der Grad der dauernden Invalidität nicht eindeutig fest, sind sowohl die versicherte Person als auch wir berechtigt, den Invaliditätsgrad jährlich bis vier Jahre ab dem Unfallstag ärztlich neu bemessen zu lassen.

[…]

R.Was gilt bei Meinungsverschiedenheiten?

1. Im Fall von Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber in welchem Umfang die eingetretene Beeinträchtigung auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, ferner über die Beeinflussung der Unfallfolgen durch Krankheit oder Gebrechen entscheidet die Ärztekommission.

Der Anspruchsberechtigte ist berechtigt, innerhalb von sechs Monaten nach Zugang unserer Erklärung über die Anerkennung einer Leistungspflicht (siehe Abschnitt I, 'Fälligkeit der Leistung'), und der Bekanntgabe seiner Forderungen und Vorlage eines medizinischen Gutachtens Widerspruch zu erheben und die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen.

Das Recht, die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, steht auch uns zu.

[…].

Die Versicherungssumme für dauernde Invalidität im Ausmaß von 40 % bis 69 % beträgt 150.000 EUR. Die Versicherungssumme ist indexgebunden und errechnete sich zum Unfallzeitpunkt mit 155.470,20 EUR.

Der Kläger erlitt am 24. 12. 2009 einen schweren Schiunfall.

Mit 31. 1. 2011 wurde im Auftrag der Beklagten ein unfallchirurgisches Gutachten erstattet, das dem Kläger bezogen auf den linken Arm eine dauernde Invalidität von 5 % bestätigt (Armwert 70 %). Ein weiteres im Auftrag der Beklagten am 24. 2. 2011 erstattetes neurologisches Gutachten attestierte dem Kläger aus neurologischer Sicht eine Teilinvalidität im Ausmaß von 45 %, wobei eine geringe Besserung nicht ausgeschlossen wurde. Es wurde eine gutachterliche Neuuntersuchung empfohlen.

Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 30. 12. 2011 mit, dass sie aufgrund der medizinischen Unterlagen laut Rücksprache mit dem Versicherungsarzt die medizinische Auskunft erhalten habe, dass der neurologische Endausheilungszustand noch nicht erreicht worden und noch eine Besserung bis zur Endbegutachtung im November 2013 zu erwarten sei. Aus diesem Grund sei bereits eine Akontozahlung von 20.883 EUR geleistet worden.

Mit 29. 10. 2013 wurde im Auftrag der Beklagten ein neuropsychologisches Gutachten, mit 5. 11. 2013 ein neurologisch psychiatrisches Gutachten zur Frage der unfallkausalen Dauerinvalidität des Klägers erstattet. Es wurde eine Dauerinvalidität aus neurologisch psychiatrischer Sicht in Höhe von 35 % und unter Hinzunahme der von unfallchirurgischer Seite zuerkannten Dauerinvalidität (5%ige Armminderung) eine Gesamt-Dauerinvalidität von 38,5 % eingeschätzt.

Daraufhin übermittelte die Beklagte am 19. 11. 2013 dem Kläger ein Schreiben, wonach ausgehend von der sich aus den eingeholten Gutachten ergebenden Dauerinvalidität von 38,5 % und der zugrunde zu legenden Versicherungssumme von 62.188 EUR die Entschädigung 23.942,40 EUR betrage, wovon die bereits im April 2011 geleistete Akontozahlung in der Höhe von 20.833 EUR abgezogen werde. Die Beklagte teilte mit, dass innerhalb von sechs Monaten nach Zugang des Schreibens gegen das Entschädigungsangebot Einspruch erhoben werden könne, wobei sie auf die hiefür vorgesehene Ärztekommission (Abschnitt R, AUVB 2006) hinwies und bekanntgab, dass sie in diesem Fall auf ihr Recht ausdrücklich nicht verzichte. Weiters bezog sich die Klägerin auf eine dem Schreiben angeschlossene Entschädigungsquittung und bat, diese ausgefüllt und unterschrieben zu retournieren; dann könne sie das Geld auch rasch überweisen.

Nach Zugang dieses Schreibens ersuchte die im Auftrag des Klägers tätige V***** GmbH die Beklagte mit E Mail vom 21. 11. 2013 unter Bezugnahme auf das „Entschädigungsschreiben“ vom 19. 11. 2013 um Überweisung des Differenzbetrags.

Die Überweisung des Differenzbetrags wurde von der Beklagten noch am selben Tag veranlasst.

Mit 13. 8. 2014 wurden im Auftrag der V***** GmbH ein psychologisches und ein neurologisch psychiatrisches Gutachten zur Frage der vom Kläger unfallkausal erlittenen Invalidität erstattet. Diese Gutachten attestierten dem Kläger aus neurologischer und psychiatrischer Sicht eine Invalidität von 40 % (von 100 %), sodass sich unter Einschluss des unfallchirurgischen Gutachtens eine Gesamt-Dauerinvalidität von 43,5 % errechnete.

Am 11. 11. 2014 sandte die V***** GmbH an die Beklagte per E Mail die Gutachten. Unter Verweis auf die sich aus dem Gutachten ergebende Gesamtinvalidität von 43,5 % wurde um entsprechende Abrechnung des Schadens vom 24. 12. 2009 und um Überweisung des Differenzbetrags ersucht.

Die Beklagte lehnte mit dem an die V***** GmbH adressierten E Mail vom 11. 11. 2014 weitere Leistungen an den Kläger ab. Sie führte zur Begründung aus, dass sie im Abrechnungsschreiben vom 19. 11. 2013 auf die Einspruchsfrist von sechs Monaten und die bedingungsgemäß vorgesehene Ärztekommission hingewiesen habe, der Kläger jedoch die Leistungen ohne Einspruch angenommen habe. Die nun vorgelegten Gutachten vom August 2014 seien weit nach der am 24. 12. 2013 beendeten 4 Jahresfrist veranlasst worden. Da die Neubemessung nicht fristgerecht begehrt worden sei, bleibe es bei der Erstbemessung.

Mit seiner am 30. 4. 2015 eingebrachten Klage begehrt der Kläger die Zahlung von 43.687,14 EUR sA. Ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 43,5 % errechne sich die Versicherungsleistung in Höhe von 67.629,54 EUR. Nach Berücksichtigung der Akontozahlung hafte der geltend gemachte Betrag aus. Die Begutachtung des Klägers im November 2013 habe eine Gesamtinvalidität von 38,5 % ergeben. Zur Überprüfung dieser Abrechnung habe der Kläger weitere Gutachten eingeholt, welche eine 40%ige Invalidität bestätigen würden. Unter Einbeziehung der unfallchirurgischen Invalidität des linken Armes ergebe sich daher eine Gesamtinvalidität von 43,5 %. Die Ansprüche des Klägers seien nicht verjährt. Eine Erklärung gemäß § 12 Abs 3 VersVG habe die Beklagte nicht abgegeben. Der Anspruch sei fällig, die Beklagte habe die Durchführung eines Verfahrens vor der Ärztekommission nicht beantragt.

Die Beklagte bestreitet. Die 4 Jahresfrist zur Neubemessung der Invalidität sei eine Ausschlussfrist, die am 24. 12. 2013 geendet habe. Die vom Kläger im August 2014 gewünschte Neubemessung sei daher verfristet. Die Beklagte habe mit Schreiben vom 19. 11. 2013 auf die erfolgte abschließende Beurteilung hingewiesen und den Entschädigungsanspruch des Klägers beziffert. Sie habe den Kläger in ihrem Schreiben zudem darauf hingewiesen, dass es ihm binnen sechs Monaten ab Zustellung dieses Schreibens freistünde, Einspruch zu erheben und die Ärztekommission in Anspruch zu nehmen. Der Kläger habe das Entschädigungsangebot ohne Einspruch angenommen, weshalb der Differenzbetrag ausbezahlt worden sei. Allfällige über die zum Stichtag 24. 12. 2013 hinausgehenden Entschädigungsansprüche seien verfallen, weshalb die Anrufung der Ärztekommission durch die Beklagte weder möglich noch tunlich gewesen sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Erfolge eine Antragstellung und Neubemessung nicht innerhalb von vier Jahren ab dem Unfalltag, so bleibe es gemäß Pkt G.4 der AUVB 2006 bei der bisherigen Bemessung des Invaliditätsgrades. Der Antrag des Klägers auf Neubemessung vom 11. 11. 2016 sei erst nach Ablauf der vierjährigen Frist gestellt worden und damit verspätet.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil im Umfang der Bekämpfung von 38.245,86 EUR sA. Die vierjährige Ausschlussfrist sei am 24. 12. 2013, ohne dass zu diesem Zeitpunkt vom Kläger ein Antrag auf Neubemessung gestellt worden wäre, abgelaufen. Ließen die Parteien diese Frist ungenutzt verstreichen, so bleibe der Grad der Invalidität maßgeblich, wie er sich aus den Tatsachenmitteilungen der ersten Invaliditätsfeststellung ergebe.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte begehrt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Mit Pkt G.4 AUVB 2006 (in Folge AUVB) wortgleiche oder vergleichbare Klauseln waren bereits Gegenstand zahlreicher oberstgerichtlicher Entscheidungen. Derartige Klauseln enthalten eine Ausschlussfrist: Wird die Antragstellung auf Neubemessung innerhalb von vier Jahren ab dem Unfalltag versäumt, bleibt es bei der bisherigen Bemessung des Invaliditätsgrades (RIS Justiz RS0122119 [T2]). Ein allenfalls von der Erstbemessung abweichender Invaliditätsgrad ist nur dann zu bemessen und zu berücksichtigen, wenn dies bis zu vier Jahren ab dem Unfalltag vom Versicherten oder vom Versicherer begehrt wird (RIS Justiz RS0082173 [T1]; RS0082292 [T11]; RS0109447 [T2]).

Der Zweck der Regelung liegt in der möglichst raschen Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden (RIS Justiz RS0082216 [T1]). Beide Parteien – Versicherungsnehmer/Versicherter und auch Versicherer – sollen innerhalb eines überblickbaren Zeitraums Klarheit über den Grad der Invalidität erlangen können, um letztlich Beweisschwierigkeiten zu vermeiden und eine alsbaldige Klärung der Ansprüche herbeizuführen. Die durch Setzung der Ausschlussfrist vorgenommene Risikobegrenzung soll also im Versicherungsrecht eine Ab und Ausgrenzung schwer aufklärbarer und unübersehbarer (Spät )Schäden herbeiführen. Maßgeblich ist der Invaliditätsgrad bis maximal zum Ablauf der Vierjahresfrist (hier der 24. 12. 2013) (7 Ob 47/16m mwN).

Zutreffend gingen die Vorinstanzen davon aus, dass eine (weitere) Neubemessung der Invalidität nach dem 24. 12. 2013 nicht möglich ist.

2. Keine Berücksichtigung fand aber das Vorbringen des Klägers, er strebe keine Neubemessung der Invalidität an, sondern er begehre eine Überprüfung der Ende 2013 erfolgten Neubemessung des Invaliditätsgrades von 38,5 %.

2.1 Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen: Will sich der Versicherungsnehmer mit dem Ergebnis der Neubemessung nicht zufrieden geben, dann steht ihm die Möglichkeit offen, innerhalb der Verjährungsfrist des § 12 VersVG Klage zu erheben (7 Ob 221/12v, 7 Ob 102/15y). Dies ist mit der vom Kläger am 30. 4. 2015 erhobenen Klage geschehen.

3. Die Beklagte hält dem entgegen, dass der Kläger entgegen Pkt R.1 AUVB gegen die Neubemessung nicht Widerspruch erhoben und die Entscheidung der Ärztekommission beantragt habe. Der geltend gemachte Anspruch sei daher verfallen.

3.1 Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach Vertragsauslegungs grundsätzen (§§ 914 ff ABGB) auszulegen. Die Auslegung hat sich daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren. Die einzelnen Klauseln der Versicherungsbedingungen sind, wenn sie – wie hier – nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihren Wortlaut auszulegen. In allen Fällen ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu berücksichtigen. Unklarheiten gehen im Sinn des § 915 ABGB in aller Regel zu Lasten des Versicherers (RIS Justiz RS0008901 [T5, T12]; RS0017960; RS0050063 [T3, T6]; RS0112256 [T10]).

3.2 Gemäß Pkt R.1 AUVB ist der Anspruchsberechtigte berechtigt, innerhalb von sechs Monaten nach Zugang der Erklärung des Versicherers unter bestimmten Voraussetzungen die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen.

Zur vergleichbaren Bedingungslage hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass die im Unfallversicherungsvertrag zugunsten beider Parteien zum Zweck der Herbeiführung einer raschen und günstigen Entscheidung über die Höhe des Invaliditätsgrades vorgesehene Einrichtung einer Ärztekommission einen Schiedsgutachtervertrag im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG (vgl auch § 64 Abs 1 VersVG) darstelle, dem zwar keine prozesshindernde Wirkung zukomme, der aber bewirke, dass der Anspruch des Versicherungsnehmers in materiell rechtlicher Hinsicht grundsätzlich nicht fällig ist, solange das Ärztekommissionsverfahren nicht durchgeführt wurde (RIS Justiz RS0081371, RS0082250; 7 Ob 214/09k). Die Ärztekommission ist fakultativ zugunsten beider Parteien des Unfallversicherungsvertrags eingerichtet (7 Ob 19/12p).

3.3 Die Vertragsbestimmung regelt lediglich ein Recht. Aus der Nichtausübung dieses Rechts, die bloß fakultativ eingerichtete Ärztekommission anzurufen, kann schon dem insoweit eindeutigen Wortlaut nach, kein „Verfall“ des Anspruchs abgeleitet werden.

3.4 Nach der Rechtsprechung ist eine Leistungsklage des Versicherungsnehmers vor Ablauf der vorgesehenen Sechsmonatsfrist möglich, es sei denn der Versicherer würde innerhalb der Frist auf seinem Recht der Anrufung der Ärztekommission bestehen. Mit Rücksicht auf den Zweck der Einrichtung der Ärztekommission, Meinungsverschiedenheiten rasch beizulegen, ist von einem Versicherer, der noch vor Ablauf der vorgesehenen Sechsmonatsfrist vom Versicherungsnehmer klageweise in Anspruch genommen wird, zur Vermeidung von Verzögerungen zu verlangen, dass er den Einwand seinerseits die Ärztekommission anrufen zu wollen, ungesäumt erhebt. Widrigenfalls ist ein Verzicht der Beklagten, ihrerseits die Ärztekommission zu beantragen, anzunehmen (7 Ob 222/09m, 7 Ob 19/12p).

Die Frage, ob dem Versicherer, der erst nach ungenütztem Verstreichenlassen der Sechsmonatsfrist durch den Versicherungsnehmer vom Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit Kenntnis erlangt, weiterhin der Einwand zukommt, die Ärztekommission anrufen zu wollen und bejahendenfalls, ab wann die Frist für den Versicherer läuft, muss hier nicht geklärt werden, weil die Beklagte gar nicht erklärte, einen entsprechenden Antrag stellen zu wollen.

3.5 Zusammengefasst bedeutet dies: Der geltend gemachte Anspruch ist weder nach Pkt R.1 AUVB „verfallen“, noch kann sich die Beklagte auf mangelnde Fälligkeit berufen.

4. Gemäß § 12 Abs 3 VersVG ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Anspruch auf die Leistung nicht innerhalb eines Jahres gerichtlich geltend gemacht wird. Die Frist beginnt erst, nachdem der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber den erhobenen Anspruch in einer dem Abs 2 entsprechenden Weise sowie unter Angabe der mit Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolge abgelehnt hat.

Die Rechtsbelehrung des Versicherers muss eindeutig klarstellen, dass durch die Unterlassung der rechtzeitigen Klagsführung der Versicherungsanspruch, also der materielle Anspruch auf die Deckung, zur Gänze verloren geht (RIS Justiz RS0080355).

Ob das Schreiben vom 19. 11. 2013 eine den Anforderungen des § 12 Abs 2 VersVG entsprechende Ablehnung darstellt, muss nicht geklärt werden, weil es jedenfalls schon keine Rechtsbelehrung im eben angeführten Sinn enthält. Die Beklagte kann sich daher auf die Unterlassung der rechtzeitigen Klagsführung gemäß § 12 Abs 3 VersVG nicht berufen.

5. Nach den Feststellungen ersuchte der Kläger nach Zugang des Schreibens vom 19. 11. 2013 unter Bezugnahme darauf um Überweisung des Differenzbetrags, welche am 27. 11. 2013 vorgenommen wurde. Die Beklagte macht hier geltend, dass der Kläger das Entschädigungsangebot angenommen habe und beruft sich somit erkennbar auf eine vergleichsweise Bereinigung des Versicherungsfalls.

5.1 Ein Vergleich ist die unter beiderseitigem Nachgeben einverständliche neue Festlegung strittiger oder zweifelhafter Rechte (RIS Justiz RS0032681). Ein Recht ist dann strittig oder zweifelhaft, wenn die Parteien sich nicht darüber einigen können, ob und in welchem Umfang es entstanden ist oder noch besteht (RIS Justiz RS0032654). Es reicht, wenn bloß die Höhe des Anspruchs zweifelhaft ist (RIS Justiz RS0032537). Gegenüber dem Versicherer abgegebene Abfindungserklärungen sind bei Annahme durch diesen als Vergleich im Sinne der Vorschriften der §§ 1380 ff ABGB zu beurteilen (vgl RIS-Justiz RS0032483).

Ein Vergleich bedarf zu seiner Gültigkeit aber keiner bestimmten Form und kann daher auch schlüssig zustande kommen (RIS Justiz RS0014333). Für die Schlüssigkeit eines Verhaltens im Hinblick auf einen rechtsgeschäftlichen Willen legt § 863 ABGB einen strengen Maßstab an (RIS Justiz RS0014146). Für die Maßgeblichkeit einer stillschweigenden Willenserklärung ist der Eindruck entscheidend, den der Erklärungsempfänger von der Erklärung haben musste (RIS Justiz RS0014158).

5.2. Das Erstgericht traf keine Feststellungen dazu, welchen Inhalt die im Schreiben vom 19. 11. 2013 angesprochene Entschädigungsquittung aufwies und ob sie vom Kläger unterfertigt retourniert wurde, sodass die Frage eines allfällig durch ausdrückliche Erklärungen zustande gekommenen Vergleichs nicht geklärt werden kann.

5.3. Mit dem allein festgestellten vorbehaltslosen Abruf der von der Beklagten errechneten Versicherungsleistung ist aber jedenfalls keine vergleichsweise Bereinigung des Versicherungsfalls verbunden.

Der Kläger ersuchte zwar um Zahlung der nach Einholung von Gutachten errechneten und angebotenen Versicherungsleistung. Auch wenn er die beigelegte Entschädigungsquittung nicht wie von der Beklagten als Voraussetzung für ihre Zahlung gefordert unterfertigt an die Beklagte retourniert hätte, wäre die Beklagte zur Auszahlung der angebotenen Versicherungsleistung gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 VersVG infolge Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung des Versicherers nötigen Erhebungen verpflichtet gewesen. Vor diesem Hintergrund konnte die Beklagte nicht auf eine endgültige Bereinigung des Versicherungsfalls vertrauen, wenn sie von der Vertreterin des Klägers zur Auszahlung der Versicherungsleistung ohne Rücksendung einer unterfertigten Entschädigungsquittung aufgefordert wurde. Dazu wäre vielmehr eine nähere Abklärung erforderlich gewesen, ob auch der von der Beklagten beabsichtigten Generalbereinigung des Versicherungsfalls zugestimmt wird (7 Ob 117/15d). Dies ist hier nicht erfolgt. Eine vergleichsweise Bereinigung kann daher nur dann angenommen werden, wenn dies die Entschädigungsquittung vorsah und sie vom Kläger unterfertigt wurde.

6. Insgesamt folgt daher, dass der vom Kläger innerhalb der Frist des § 12 Abs 1 VersVG geltend gemachte Anspruch, nämlich das Ergebnis der vor Ablauf der vierjährigen Frist erfolgten Neubemessung überprüfen zu lassen, zulässig ist.

Die Rechtssache ist aber noch nicht spruchreif: Zum einen fehlen – wie ausgeführt – Feststellungen, die die Beurteilung des Zustandekommens des von der Beklagten behaupteten Vergleichs erlauben. Wird dies verneint, dann ist zu beachten, dass – wie ebenfalls bereits dargestellt – der Invaliditätsgrad bis maximal zum Ablauf der vierjährigen Frist (24. 12. 2013) relevant ist, das Erstgericht stellte aber lediglich den (unerheblichen) aktuellen Invaliditätsgrad aufgrund der Befundungen im August 2014 fest. Es wird daher auch hier eine entsprechende Ergänzung der Feststellungen vorzunehmen haben.

7. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Rechtssätze
8
  • RS0112256OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Auslegung von AVB's hat sich am Verständnis eines verständigen durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu orientieren, ein Maßstab, der den Kriterien der §§ 914 f ABGB weitgehend entspricht. Unklarheiten sind zu Lasten des Versicherers auszulegen, weil dies die Interessen des Vertrauensschutzes erfordern, der "erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen" muss aber stets beachtet werden. Risikoeinschränkende Klauseln besitzen in dem Maße keine Vertragskraft, als deren Verständnis von einem Versicherungsnehmer ohne juristische Vorbildung nicht erwartet werden kann.

  • RS0050063OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach Vertragsauslegungsgrundsätzen auszulegen. Die Auslegung hat sich daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (vgl VR 1992/277; VR 1992/284).

  • RS0008901OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Allgemeine Vertragsbedingungen sind so auszulegen, wie sie sich einem durchschnittlichen Angehörigen aus dem angesprochenen Adressatenkreis erschließen. Ihre Klauseln sind, wenn sie nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen.