JudikaturJustiz1Ob138/16z

1Ob138/16z – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. November 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ. Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer Zeni Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** P*****, vertreten durch Dr. Winfried Sattlegger und andere Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagten Parteien 1. Dr. H***** S*****, und 2. H***** Versicherung AG, *****, beide vertreten durch Dr. Christoph Arbeithuber, LL.M., Rechtsanwalt in Linz, und 3. C***** nv, *****, Belgien, vertreten durch die Kletzer Messner Mosing Schnider Schultes Rechtsanwälte OG, Wien, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei K***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Josef Weixelbaum, Rechtsanwalt in Linz, wegen 12.699,46 EUR sA und Feststellung, über die „Revision“ der erst und zweitbeklagten Parteien gegen das Teilzwischenurteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 26. April 2016, GZ 2 R 65/16s 82, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 9. Februar 2016, GZ 2 Cg 32/13z 73, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision und der darin enthaltene Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss werden zurückgewiesen.

Die erst und zweitbeklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit 1.032,91 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 172,15 EUR an USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die Klägerin ließ sich von ihrem Gynäkologen, dem Erstbeklagten, im Februar 2011 ein Intrauterinpessar (eine „Spirale“; IUD) mit der Handelsbezeichnung „G*****“ als Dauerempfängnisverhütungsmittel einsetzen. Diese wanderte nach dem lege artis erfolgten Einsetzen in den Bauchraum, verwuchs dort mit dem Dünndarm und musste operativ entfernt werden. Über das Risiko eines Abwanderns in den Bauchraum hatte der Gynäkologe nicht aufgeklärt. Für die daraus resultierenden Folgen begehrt die Klägerin Schadenersatz und die Feststellung der Haftung.

Das Berufungsgericht änderte das die Klage abweisende Ersturteil in Ansehung der Erst und Zweitbeklagten teilweise ab und sprach aus, das Zahlungsbegehren bestehe dem Grunde nach zu Recht. Die Entscheidung über das Feststellungsbegehren hob es mit Beschluss auf und trug dem Erstgericht insoweit die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf, ohne den Rekurs für zulässig zu erklären.

In ihrem allein als „Antrag gemäß § 508 ZPO und ordentliche Revision” bezeichneten Rechtsmittel erklären Erst und Zweitbeklagte die Berufungsentscheidung „zur Gänze“ anzufechten, beantragen die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde und verzeichnen Kosten ausgehend von einer auch das Feststellungsbegehren umfassenden Bemessungsgrundlage.

Rechtliche Beurteilung

1. Dass das Berufungsgericht die Revision gegen das von ihm gefällte Teilzwischenurteil (doch) für zulässig erklärte, hat mit der Anfechtbarkeit des von ihm gefassten Aufhebungsbeschlusses nichts zu tun; insbesondere wird dadurch nicht ein – insoweit fehlender – Zulassungsausspruch ersetzt (vgl schon 8 Ob 76/84 [„zum Rechtskraftvorbehalt“]; 7 Ob 17/09i = SZ 2010/18 ua). Das ungeachtet seiner Bezeichnung in diesem Umfang als Rekurs zu behandelnde Rechtsmittel ist daher gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO als unzulässig zurückzuweisen (7 Ob 103/14v uva; RIS Justiz RS0043898; RS0043854).

2.1. Erst und Zweitbeklagte zeigen in ihrer Revision keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO auf, weshalb sie – ungeachtet des nicht bindenden nachträglichen Zulässigkeitsausspruchs des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) – als nicht zulässig zurückzuweisen ist. Das ist wie folgt kurz zu begründen (§ 510 Abs 3 ZPO):

2.2. Nach ständiger Rechtsprechung umfasst die Verpflichtung des Arztes aus dem Behandlungsvertrag auch die Pflicht, den Patienten über die Art und Schwere sowie die möglichen Gefahren und die schädlichen Folgen einer Behandlung zu unterrichten (RIS-Justiz RS0038176). Die Aufklärung soll den Patienten in die Lage versetzen, die Tragweite seiner Erklärung, in die Behandlung einzuwilligen, zu überschauen (RIS-Justiz RS0026413). Der Patient kann nämlich nur dann wirksam seine Einwilligung geben, wenn er über die Bedeutung des vorgesehenen Eingriffs und seine möglichen Folgen hinreichend aufgeklärt wurde (RIS-Justiz RS0026499). Für die nachteiligen Folgen einer ohne ausreichende Aufklärung vorgenommenen Behandlung des Patienten haftet der Arzt selbst dann, wenn ihm bei der Behandlung – wie im vorliegenden Fall – kein Kunstfehler unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0026783), es sei denn, er beweist, dass der Patient auch bei ausreichender Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte (RIS-Justiz RS0038485). Dies wurde hier gar nicht behauptet.

Bei Vorliegen sogenannter typischer Gefahren ist die ärztliche Aufklärungspflicht verschärft (vgl RIS-Justiz RS0026340 [T12]; RS0026581 [T2]; zuletzt 10 Ob 40/15b; 3 Ob 138/16i). „Typisch” bezieht sich dabei nicht darauf, ob eine Komplikation häufig oder sogar sehr selten auftritt (vgl „unabhängig von der prozentmäßigen statistischen Wahrscheinlichkeit” RIS-Justiz RS0026230 [T1]), sondern darauf, ob das selbst bei Anwendung allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung nicht sicher vermeidbare Risiko speziell dem geplanten Eingriff anhaftet und erheblich ist (dh geeignet, die Entscheidung der Patienten zu beeinflussen); der uninformierte Patient wird überrascht, weil er nicht mit der aufgetretenen Komplikation rechnete (RIS-Justiz RS0026340 [T5]; RS0026581 [T4, T5, T14]).

2.3. Für die Beurteilung der Frage, ob Typizität vorliegt, bedarf es Feststellungen, anhand derer sich die zuvor genannten Voraussetzungen als gegeben oder nicht gegeben beurteilen lassen. Erst auf Basis eines solchen, dem Tatsachenbereich zuzuordnenden Sachsubstrats (vgl 8 Ob 620/91; 8 Ob 43/10x; 7 Ob 46/11g) lässt sich die mögliche Folge einer Behandlung unter den in der Rechtswissenschaft verwendeten Fachbegriff „typisches Behandlungsrisiko“ subsumieren (vgl insofern zur Auslegung des Obersatzes 4 Ob 1690/95 = RIS Justiz RS0026329 [T8]; 9 Ob 12/07s). Ob die „Spirale” im konkreten Fall durch die Gebärmutterwand (hindurch) oder über die Eileiter in den Bauchraum abgewandert ist, ist aber, weil beides unter das Risiko des „Abwanderns“ einzuordnen ist, unerheblich.

Das Erstgericht gelangte, nachdem es Feststellungen zu den mit „Spiralen” und denjenigen der Drittbeklagten einhergehenden Komplikationen getroffen hatte, (noch) in dem den Feststellungen gewidmeten Teil seines Urteils zum Ergebnis, es könne nicht „festgestellt werden, dass es sich beim Abwandern in die Bauchhöhle nach korrektem Legen um ein typisches mit der Anwendung verbundenes Risiko handelt“. Die Revisionswerber werfen dem Berufungsgericht, das beim Abwandern der „Spirale” in den Bauchraum im Gegensatz dazu von einem behandlungstypischen Risiko ausgeht, vor, es weiche vom Sachverhalt ab und habe die Feststellungen des Erstgerichts „umgewürdigt“. Die Auslegung der in einer Gerichtsentscheidung enthaltenen Feststellungen ist grundsätzlich jeweils einzelfallbezogen und bildet demnach in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage (RIS-Justiz RS0118891; 7 Ob 166/16m). Nur wenn die Auslegung der Feststellungen des Erstgerichts durch die zweite Instanz – anders als hier – korrekturbedürftig ist, ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zulässig (7 Ob 132/14h = RIS Justiz RS0118891 [T5]). Das Berufungsgericht hat im vorliegenden Fall die Frage, ob es sich beim „Abwandern“ der „Spirale” nach korrektem „Setzen“ um ein „typisches Behandlungsrisiko“ handelt, anhand des vom Erstgericht festgestellten Sachverhalts – und nicht auf Grundlage von davon abweichenden Feststellungen – gelöst. Es hat aber dabei – anders als das Erstgericht und – den Grundsätzen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum behandlungstypischen Risiko folgend, den Faktor Komplikationshäufigkeit (Inzidenz oder Risikodichte) nicht miteinbezogen.

2.4. Ob und in welchem Umfang ein Arzt den Patienten aufklären muss, ist eine stets anhand der zu den konkreten Umständen des Einzelfalls getroffenen Feststellungen zu beurteilende Rechtsfrage (RIS-Justiz RS0026763 [T2]; RS0026529) und demnach grundsätzlich nicht revisibel (RIS-Justiz RS0026529 [T20, T31] ua). Dabei war hier zu berücksichtigen, dass die ärztliche Aufklärungspflicht umso weiter reicht, je weniger der Eingriff aus der Sicht eines vernünftigen Patienten vordringlich oder geboten ist (RIS-Justiz RS0026375; RS0026772; RS0026313). Für diese Frage ist aber ohne Belang, ob der Erstbeklagte „ex ante betrachtet keine realistische Möglichkeit“ hatte „den ex post sich herausstellenden Verlauf abzusehen“, weil der tatsächlich „stattgehabte Verlauf“ nicht die Richtschnur für den Umfang der gebotenen Aufklärung ist. Vielmehr ist die Frage zu stellen, ob ein ordentlicher und pflichtgetreuer Durchschnitts (fach )arzt in der konkreten Situation des behandelnden Gynäkologen als Sachverständiger iSd § 1299 ABGB gemessen am jeweiligen zumutbaren Erkenntnisstand der Ärzte (RIS Justiz RS0038202 [T2]; vgl auch RS0123136 [T2]) und nach den aktuell anerkannten Regeln ärztlicher Kunst (RIS-Justiz RS0123136 [T1]) in der Lage gewesen wäre, das Risiko des Abwanderns abzusehen und ob er über dieses erhebliche Risiko folglich hätte aufklären müssen. Dass das Berufungsgericht den vom Erstgericht festgestellten Inhalt des mit der „Spirale“ ausgelieferten und Warnhinweise enthaltenden Beipackzettels, der der Klägerin vom Erstbeklagten nicht ausgehändigt worden war, als Teil des zumutbaren Erkenntnisstands eines solchen Facharztes betrachtet hat, ist nicht zu beanstanden.

2.5. Auch die Revision ist daher zurückzuweisen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf den § 50 ZPO iVm § 41 ZPO. Die Klägerin hat auf die mangelnde Zulässigkeit der Revision gegen das Teilzwischenurteil mangels erheblicher Rechtsfrage in ihrer Revisionsbeantwortung hingewiesen (RIS-Justiz RS0035979). Ein Kostenvorbehalt kommt in diesem Fall nicht in Betracht (vgl auch RIS-Justiz RS0123222 [T10]; nur teilweise ggt RS0117737). Kosten stehen aber der Höhe nach, weil die Klägerin nicht auch auf die absolute Unzulässigkeit des Rechtsmittelschriftsatzes, soweit er sich gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet, hingewiesen hat, nur auf einer Bemessungsgrundlage von 12.699,49 EUR zu.

Rechtssätze
15
  • RS0123136OGH Rechtssatz

    21. November 2023·3 Entscheidungen

    a) Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Die pränatale Diagnostik dient nicht zuletzt der Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes und soll damit auch der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen, auf § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB beruhenden Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv voraussehbar, weshalb auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst sind. b) Wird beim Organscreening im Rahmen pränataler Diagnostik ein Hinweis auf einen beginnenden Wasserkopf als Folge einer Meningomyelozele nicht entdeckt und unterbleibt eine Wiederbestellung der Schwangeren, obwohl diagnoserelevante Strukturen nicht einsehbar waren, dann liegt ein ärztlicher Kunstfehler vor. Hätten sich die Eltern bei fachgerechter Aufklärung über die zu erwartende schwere Behinderung des Kindes und einen deshalb gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB zu Letzterem entschlossen, haftet der Arzt (der Rechtsträger) für den gesamten Unterhaltsaufwand für das behinderte Kind. In einem solchen Fall stünden sowohl die Ablehnung eines Schadenersatzanspruchs mit der Behauptung, es liege kein Schaden im Rechtssinn vor, als auch der bloße Zuspruch nur des behinderungsbedingten Unterhaltsmehraufwands mit den Grundsätzen des österreichischen Schadenersatzrechts nicht im Einklang.