9Ob58/24f – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hargassner, Mag. Korn, Dr. Stiefsohn und Dr. Wallner Friedl in der Pflegschaftssache des Minderjährigen S*, über die außerordentlichen Revisionsrekurse des Vaters G*, und der Mutter E*, beide vertreten durch Mag. Wilhelm Lackner, Rechtsanwalt in Eisenstadt, sowie des Minderjährigen, vertreten durch Mag. Florian Astl, Rechtsanwalt in Eisenstadt, gegen den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt als Rekursgericht vom 22. April 2024, GZ 20 R 137/23f 49, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentlichen Revisionsrekurse werden mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Die Eltern des mittlerweile 14 jährigen Minderjährigen sind verheiratet und leben zusammen. Mit Schreiben vom 16. 1. 2023 beantragte die Bezirkshauptmannschaft *, die Obsorge für den Minderjährigen an sie zu übertragen, um das Kindeswohl aus sozialarbeiterischer Sicht zu sichern.
[2] Das Erstgerichtentzog den Eltern gemäß § 107 Abs 2 AußStrG die Obsorge in den Bereichen Pflege, Erziehung und gesetzliche Vertretung vorläufig und übertrug diese dem Land als Kinderund Jugendhilfeträger. Diese Entscheidung wurde gemäß § 107 Abs 2 Satz 3 AußStrG vorläufig verbindlich und vollstreckbar erklärt.
[3] Das von den Eltern angerufene Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung.
Rechtliche Beurteilung
[4]Die außerordentlichen Revisionsrekurse der Eltern und des Minderjährigen sind mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.
I. Zum Revisionsrekurs der Eltern:
[5] 1. Auch im Außerstreitverfahren ist der Oberste Gerichtshof nur Rechts und nicht Tatsacheninstanz ( RS0006737 , RS0007236). Fragen der Beweiswürdigung können daher nicht mehr überprüft werden (RS0007236 [T4]; vgl RS0069246[T2]). Allerdings kann mit Revisionsrekurs geltend gemacht werden, dass das Rekursverfahren an einem Mangel leidet, der eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Sache zu hindern geeignet war (§ 66 Abs 1 Z 2 AußStrG).
[6] Im vorliegenden Fall hat das Rekursgericht zur Erweiterung der Tatsachengrundlage eine mündliche Rekursverhandlung anberaumt, in der die aktuelle Situation in der Wohngemeinschaft durch Berichte und eine Zeugeneinvernahme erhoben wurde. Auch zu allfälligen Veränderungen bei der Mutter wurde eine Zeugin einvernommen. Das erstinstanzliche Gutachten wurde schriftlich ergänzt und in der Tagsatzung mit den Parteien erörtert, wobei die neuen Ergebnisse miteinbezogen wurden. Zu den im Revisionsrekurs angesprochenen vermeintlichen Widersprüchen wurde von der Sachverständigen Stellung genommen. Auf der Basis dieser Erhebungen hat das Rekursgericht ergänzende Feststellungen getroffen und auch begründet.
[7] Dem Revisionsrekurs gelingt demgegenüber weder eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens im Bezug auf die Behandlung der Tatsachenrüge noch eine mangelhafte Begründung der ergänzenden Feststellungen durch das Rekursgericht aufzuzeigen.
[8] 2. Richtig ist, dass die Sachverständige in Vorbereitung der Erörterung des Gutachtens eine schriftliche Stellungnahme erarbeitete, die den Eltern erst im Rahmen der Tagsatzung übergeben wurde. Der Revisionsrekurs zeigt allerdings nicht die rechtliche Relevanz dieses behaupteten Verfahrensmangels auf. Er lässt völlig offen, welche zusätzlichen konkreten Fragen gestellt worden wären oder welches ergänzende Vorbringen bei längerer Vorbereitungszeit erstattet worden wäre.
[9] 3. Soweit der Revisionsrekurs den Vorwurf erhebt, dass seitens der Vorinstanzen keine ausreichende Interessenabwägung zwischen den Vor und Nachteilen der Fremdunterbringung des Minderjährigen erfolgt wäre, übergeht er, dass bereits nach den Feststellungen durch einen Verbleib des Kindes im Haushalt der Eltern dessen Wohl und Entwicklung gefährdet ist und durch den Aufenthalt in einer Wohngemeinschaft diese Entwicklungsgefährdungen abgewendet werden können. Auch zu der Erkrankung des Kindes wurden Feststellungen getroffen, die eine ausreichende Grundlage für die Beurteilung der Erforderlichkeit der Fremdunterbringung bilden.
[10] 4. Über weite Strecken vermengt der Revisionsrekurs die (nicht anfechtbare) Tatsachengrundlage mit der aus den Feststellungen ableitbaren rechtlichen Beurteilung und ist in diesem Umfang nicht gesetzmäßig ausgeführt.
[11]5. Nach § 107 Abs 2 AußStrG kann das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einräumen oder entziehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens) notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert ( RS0129538 [T9]).
[12] Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind somit in dem Sinn reduziert, dass diese nicht erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen ( 5 Ob 144/14h [Pkt 2]; 4 Ob 110/20k [Pkt 3.4] mwN).
[13]6. Die Entscheidung, ob und welche Maßnahme nach § 107 AußStrG zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich ist und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Daher kommt ihr im Regelfall keine Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, sofern nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung verletzt wurden ( RS0130780 ). Ob gelindere Mittel ausreichen, ist eine Frage des Einzelfalls ( RS0132193 [T2]).
[14]7. Richtig ist, dass § 138 ABGB als wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls unter anderem die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit zur Meinungsbildung (Z 5) und die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleiden könnte (Z 6), nennt. So soll einem mündigen Kind womöglich nicht gegen seinen Willen die Erziehung durch einen Elternteil aufgezwungen werden; der Wunsch des Kindes kann allerdings nicht allein den Ausschlag geben ( RS0048818 ). Richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof zu 4 Ob 110/20k (vgl Pkt 4.5) diese Grundsätze auch für den Fall einer (auch dort vorläufigen) Obsorgeentziehung und Übertragung an den Kinder und Jugendhilfeträger angewendet hat. Klargestellt wurde in der Rechtsprechung aber auch, dass auch einem ausdrücklich erklärten Wunsch der Kinder, bei den Eltern zu bleiben, aber dann nicht Rechnung zu tragen wäre, wenn schwerwiegende Gründe gegen die Berücksichtigung dieses Wunsches sprechen und dieser gegen die offenbar erkennbaren Interessen des Kindes gerichtet ist ( RS0048820 ). Davon sind die Vorinstanzen im vorliegenden Fall mit überzeugenden Argumenten ausgegangen.
[15] 8. Das gilt auch für die Frage der Anwendbarkeit gelinderer Mittel. Das Rekursgericht hat darauf hingewiesen, dass die Familie bereits seit der Geburt des Minderjährigen von der Kinder und Jugendhilfe begleitet wird, meist auch durch eine Familienintensivbetreuung unterstützt. Das Veränderungspotenzial der Eltern durch Unterstützung der ambulanten Helfernetzwerke sei ausgeschöpft. Nach den Feststellungen sei die Fremdunterbringung derzeit das einzig mögliche Mittel, um eine Kindeswohlgefährdung hintanzuhalten. Die Ausführungen im Rechtsmittel zu dieser Frage gehen nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.
[16] 9. Zur nunmehr beim Minderjährigen diagnostizierten Neurodiversität in Form des Autismusspektrums wurde von der Sachverständigen im Rekursverfahren Stellung genommen und hat das Rekursgericht dazu auch entsprechende ergänzende Feststellungen getroffen. Dass den sich aus der Erkrankung ergebenden Bedürfnissen des Minderjährigen im Kreis der Familie besser entsprochen werden kann, wie der Revisionrekurs vermeint, ergibt sich aus den auf dieser Basis getroffenen Feststellungen gerade nicht.
[17] 10. Richtig ist, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung ist, sodass alle während des Verfahrens eintretenden unstrittigen und aktenkundigen Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, zu berücksichtigen sind (vgl RS0106313). Es besteht aber keine Pflicht zur ständigen amtswegigen Erhebung der jeweiligen aktuellen Umstände (RS0106313 [T2]).
[18] Das Rekursgericht hat, wie dargelegt, aber ohnehin ein umfangreiches ergänzendes Beweisverfahren durchgeführt. Es ist also nicht richtig, dass der Rekursentscheidung nur ein „über 10 Monate altes“ Gutachten zugrunde liegt. Dass dabei im Rahmen des Ergänzungsgutachtens nicht eine gänzlich neue Befundung vorgenommen wurde, ist nicht zu beanstanden.
[19] 11. Die Feststellungsgrundlage ist nur dann mangelhaft, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind und dies Umstände betrifft, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren. Wurden aber zu einem bestimmten Thema Feststellungen getroffen, mögen diese auch von den Vorstellungen der Rechtsmittelwerberin abweichen, liegen keine rechtlichen Feststellungsmängel vor (vgl RS0053317 [T1, T3]). Soweit der Revisionsrekurs sekundäre Verfahrensmängel geltend macht, übergeht er, dass sowohl zu den Vor und Nachteilen der Fremdunterbringung, als auch den Betreuungsmöglichkeiten des Kindes unter Berücksichtigung seiner Autismuserkrankung Feststellungen vorliegen. Ebenso gibt es Feststellungen dazu, dass Verbesserungen bei den Eltern eingetreten sind, diese aber (noch) nicht ausreichen, die Bedürfnisse des Kindes abzudecken.
[20]12. Insgesamt gelingt es dem Revisionsrekurs der Eltern damit nicht, eine Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG aufzuzeigen, weshalb er zurückzuweisen ist.
II. Zum Revisionsrekurs des Kindes:
[21] 1. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert der vom Revisionsrekurswerber als verletzt erachtete Grundsatz des Parteiengehörs, dass der Partei ein Weg eröffnet wird, auf dem sie ihre Argumente für ihren Standpunkt sowie überhaupt alles vorbringen kann, das der Abwehr eines gegen sie erhobenen Anspruchs dienlich ist. Das rechtliche Gehör einer Partei ist auch dann gewahrt, wenn sie sich nur schriftlich äußern konnte oder geäußert hat (vgl RS0006048 ). Eine mündliche Verhandlung ist im Außerstreitverfahren nicht zwingend vorgeschrieben ( RS0006036 ). Wird im erstinstanzlichen Außerstreitverfahren das rechtliche Gehör verletzt, so wird dieser Mangel auch behoben, wenn Gelegenheit bestand, den eigenen Standpunkt im Rekurs zu vertreten ( RS0006057 ; RS0006048 [T4]). Aus dem Rechtsmittel ergibt sich aber nicht welche konkreten zusätzlichen Anträge bei Teilnahme an der Verhandlung erstattet worden wären oder welche Stellungnahme abgegeben worden wäre, die geeignet gewesen wäre, zu einem anderen Verfahrensergebnis zu führen.
[22] 2. Auch das Kind beruft sich darauf, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung ist, übergeht aber, dass dem Rekursgericht neben dem im Revisionsrekurs zitierten Bericht die in der Rekursverhandlung erstattete Zeugenaussage, somit ein aktuelleres Beweisergebnis zum Entwicklungsprozess während der Fremdunterbringung, zur Verfügung stand.
[23] 3. Auch zur Frage, inwieweit unstrittige und aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, zu berücksichtigen sind, kann auf die Behandlung des Rechtsmittels der Eltern verwiesen werden. Das betrifft sowohl das Vorbringen zu den Veränderungen bei den Eltern als auch die Auseinandersetzung des Rekursgerichts mit der festgestellten Erkrankung des Minderjährigen.
[24] 4. Der in allen Instanzen vom Minderjährigen ausdrücklich erklärte Wunsch, bei den Eltern zu bleiben, ist ein wesentliches Kriterium bei der Entscheidungsfindung. Wie dargelegt muss aber auch berücksichtigt werden, ob schwerwiegende Gründe dagegen sprechen, diesen Wunsch zu berücksichtigen, was vorliegend von den Vorinstanzen aus nachvollziehbaren Gründen angenommen wurde. Aus den vom Rekursgericht getroffenen ergänzenden und für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen ergibt sich, dass die Bedürfnisse des Minderjährigen auch im Hinblick auf seine Erkrankung im Haushalt der Eltern nicht ausreichend abgedeckt werden können.
[25]5. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist auch der außerordentliche Revisionsrekurs des Minderjährigen daher zurückzuweisen.