JudikaturOGH

5Ob98/25k – OGH Entscheidung

Entscheidung
Kindschaftsrecht
05. August 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Mag. Wurzer als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Painsi, Dr. Weixelbraun Mohr, Dr. Steger und Dr. Pfurtscheller als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen I* O*, geboren * 2009, vertreten durch Hon. Prof. Dr. Bernhard Fink, Dr. Peter Bernhart, Mag. Klaus Haslinglehner, Dr. Bernd Peck, Mag. Kornelia Kaltenhauser, LL.M., Mag. Michael Lassnig, Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 10. April 2005, GZ 2 R 277/24y 29, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Der mittlerweile 16 Jahre alte Minderjährige stellte den Antrag, den Eltern die Obsorge zu entziehen und diese dem Land als dem Kinder und Jugendhilfeträger zu übertragen.

[2] Das Erstgericht entzog den Eltern vorläufig (bis zur endgültigen Entscheidung über den Antrag) die Obsorge und übertrug diese dem Land. Dieser Entscheidung erkannte das Erstgericht vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu.

[3] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Eltern Folge und wies den Antrag, die Obsorge den Eltern vorläufig zu entziehen und dem Land zu übertragen, ab. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[4] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Minderjährigen zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf; dieser ist daher zurückzuweisen.

[5] 1. Nach § 107 Abs 2 AußStrG kann das Gericht die Obsorge nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig entziehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen notwendig sind, aber eine rasche Regelung für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert (RS0129538 [T9]).

[6] Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind somit in dem Sinn reduziert, dass diese nicht erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (RS0129538 [T3]). Allerdings erfordert auch eine vorläufige Entziehung der Obsorge eine ausreichende Tatsachengrundlage und auch bei einer solchen Entscheidung ist äußerste Zurückhaltung geboten, weil auch eine vorläufige Entziehung der Obsorge einen Grundrechtseingriff bedeutet und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert (5 Ob 145/24w mwN; RS0129538 [T6, T7]; RS0133261). Dem Pflegschaftsgericht steht mit § 107 Abs 3 AußStrG ein gesetzlicher Katalog an Unterstützungs und Sicherungsmaßnahmen zur Verfügung, gerade auch um – als gelinderes Mittel – Entziehungsmaßnahmen nach § 181 ABGB zu verhindern (5 Ob 145/24w).

[7] 2. Die Entscheidung, ob eine und gegebenenfalls welche Maßnahme nach § 107 AußStrG zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich ist und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, ist grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Daher kommt ihr im Regelfall keine Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, sofern nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung verletzt wurden (9 Ob 45/25w; RS0097114 [T9, T18, T22]; RS0130780) und dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde (RS0007101 [T3, T12, T13, T18]; RS0007009 [T4]; RS0115719 [T5, T7]).

[8] 3. Eine Verletzung leitender Grundsätze der Rechtsprechung oder eine ungenügende Bedachtnahme auf das Kindeswohl zeigt der Revisionsrekurs des Minderjährigen nicht auf.

[9] Das Rekursgericht sah hier keinen ausreichenden Grund für eine vorläufige Obsorgeentscheidung iSd § 107 Abs 2 AußStrG. In seiner Begründung hob es auf der Tatsachenebene hervor, dass die Eltern schon wenige Tage nach der Antragstellung die Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung freiwillig dem Kinder und Jugendhilfeträger übertrugen und der Unterbringung in einer Wohngemeinschaft zustimmten. Die Eltern hätten sich auch sonst kooperativ gezeigt, insbesondere gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie den Abschluss eines Lehrvertrags für die vom Minderjährigen angestrebte Lehre verweigerten. Die vom Minderjährigen erhobenen Gewaltvorwürfe habe schon das Erstgericht seiner Entscheidung nicht zugrunde gelegt, der Reisepass des Minderjährigen befinde sich beim Kinder und Jugendhilfeträger. Die vorläufige Entziehung der Obsorge sei daher zur Förderung des Kindeswohls nicht erforderlich.

[10] Diese Beurteilung des Rekursgerichts ist keine vom Obersten Gerichtshof auch im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung. In seinem Versuch, eine solche aufzuzeigen, geht der Revisionswerber nicht von dem Sachverhalt aus, den die Vorinstanzen im Verfahren über die vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG angenommen haben. So „musste“ der Minderjährige nach der vom Erstgericht getroffenen Feststellung zwar in der Vergangenheit eine Islamschule besuchen, dass sich die Eltern auch aktuell immer noch gegen die Absolvierung einer Lehre durch den Minderjährigen stellen, steht aber nicht fest. Die vom Minderjährigen erhobenen Gewaltvorwürfe finden in dem der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt ebenso wenig Deckung, wie die behauptete Gefahr einer von den Eltern initiierten Verbringung des Minderjährigen ins Ausland.

[11] Richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof den Grundsatz, dass einem mündigen Minderjährigen die Obsorge durch einen Elternteil möglichst nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werden soll, auch bereits für den Fall einer vorläufigen Obsorgeentziehung und Übertragung an den Kinder und Jugendhilfeträger angewendet hat (9 Ob 58/24f). Nach dieser Rechtsprechung ist aber auch klar, dass selbst bei mündigen Minderjährigen deren Wunsch nicht allein den Ausschlag geben kann und diesem daher nicht zwingend zu folgen ist (vgl RS0048981; RS0048818; RS0048820). Wenn das Rekursgericht daher vor dem Hintergrund der konkreten Umstände des hier zu beurteilenden Einzelfalls zum Ergebnis gelangte, dass angesichts der faktischen Ausübung der Pflege und Erziehung durch den Kinder und Jugendhilfeträger und der Kooperationsbereitschaft der Eltern der sofortige vorläufige Entzug der Obsorge ungeachtet des Wunsches des Minderjährigen zur Förderung des Kindeswohls nicht erforderlich ist, so ist diese Entscheidung nicht korrekturbedürftig. Eine vorläufige Entscheidung soll nicht ohne sachlich überzeugenden Grund der endgültigen Entscheidung vorgreifen (RS0129538 [T4]).

[12] 4. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).