JudikaturOGH

4Ob110/20k – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Juli 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon. Prof. Dr. Brenn, Priv. Doz. Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj S***** H*****, geboren am ***** 2008, wohnhaft bei seinem Vater F***** H*****, dieser vertreten durch Mag. Bettina Baar Baarenfels, Rechtsanwältin in Wien, aus Anlass des außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 2. Juni 2020, GZ 44 R 63/20w, 44 R 64/20t 212, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 7. Jänner 2020, GZ 1 Ps 183/14p 130, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit von Punkt 1 der Rekurs e ntscheidung , mit dem beiden Eltern des mj S***** H***** die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung vorläufig entzogen und die Obsorge in diesem Umfang dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen wurde und Auflagen erteilt wurden, wird ausgeschlossen (§ 107 Abs 2 AußStrG iVm § 44 Abs 1 AußStrG).

2. Gemäß § 71 Abs 2 AußStrG wird der Mutter M***** M***** und dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger die Beantwortung des außerordentlichen Revisionsrekurses freigestellt. Sie ist beim Obersten Gerichtshof einzubringen (§ 68 Abs 4 Z 2 AußStrG).

3. Dem Rekursgericht wird die Vorlage der Akten AZ 44 R 63/20w, 44 R 64/20t aufgetragen (§ 69 Abs 2 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Rekursgericht den Eltern des mj S***** ua die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung vorläufig entzogen, die Obsorge in diesem Umfang dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen und bestimmte Auflagen erteilt. Es hat dabei nach § 44 AußStrG ausgesprochen, dass seine diesbezügliche Entscheidung vorläufig verbindlich und vollstreckbar ist.

Nach § 107 Abs 2 iVm § 44 AußStrG kann bei der vorläufigen Einräumung der Obsorge die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit ausgeschlossen werden.

Das Rekursgericht hat im Sinn des § 44 AußStrG (im Obsorgeverfahren aufgrund des § 107 Abs 2 leg cit allerdings überflüssig) angeordnet, dass seine vorläufige Regelung zu Spruchpunkt 1 vorläufig verbindlich und vollstreckbar ist. Ein solcher Beschluss ist aufgrund des Verweises in § 107 Abs 2 AußStrG auf § 44 leg cit unanfechtbar. Der Rechtsmittelausschluss ändert aber nichts daran, dass der Ausschluss der vorläufigen Verbindlichkeit oder Vollstreckbarkeit nach § 107 Abs 2 AußStrG auch nachträglich erfolgen kann und dafür jeweils das Gericht zuständig ist, bei dem das Verfahren gerade anhängig ist. Im Anlassfall kann der Oberste Gerichtshof daher von Amts wegen oder über Anregung die vorläufige Verbindlichkeit und/oder Vollstreckbarkeit der angefochtenen Entscheidung ausschließen (vgl 1 Ob 157/09h).

Derartiges war hier anzuordnen. Dabei war zu berücksichtigen, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung ist, sodass alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind (RS0106313).

Das Rekursgericht begründete den Obsorgeentzug mit einer Kindeswohlgefährdung, die es zentral auf eine „Gefährdungsmeldung“ der Besuchsbegleiterin stützte, welche darin den Ablauf von erfolglosen Besuchsterminen schilderte. Bereits Tage nach der Rekursentscheidung berichtete die Besuchsbegleiterin von „durchaus positiven Entwicklungen“ und Kontakten zwischen dem Minderjährigen und seiner Mutter. Gegenüber dem Erstgericht äußerte sich die Besuchsbegleiterin zuletzt auch dahin, dass sie das Möglichste tun werde, um dem Kind das Krisenzentrum (des Kinder- und Jugendhilfeträgers) zu ersparen. Von Seiten des Kinder- und Jugendhilfeträgers wurde in einem Schreiben vom 12. Juni 2020 an das Erstgericht ebenfalls auf positive Veränderungen infolge der Kontakte des Kindes zur Mutter hingewiesen. Eine Unterbringung von S***** in einem Krisenzentrum könnte demnach zu einer negativen Reaktion des Minderjährigen führen und den positiven Verlauf unter Umständen beenden. Es werde daher empfohlen, den momentanen Aufenthalt beim Vater bis auf weiteres beizubehalten. Am 21. Juni 2020 berichtete die Besuchsbegleiterin von weiteren Kontakten zwischen Mutter und Sohn.

Bei der Prüfung der Kindeswohlgefährdung durch den Senat werden diese Neuerungen zu berücksichtigen sein. Durch die sofortige Umsetzung des angefochtenen Beschlusses könnten dem Kind aber erhebliche Nachteile drohen, die auch bei einer abändernden oder aufhebenden Entscheidung des Senats nicht beseitigt werden könnten. Hingegen wurde eine mögliche Kindeswohlgefährdung im Zusammenhang mit dem Aufenthalt des Kindes beim Vater durch die neuen Entwicklungen stark relativiert.

Es waren daher die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit in Abänderung des zweitinstanzlichen Ausspruchs nach § 107 Abs 2 AußStrG auszuschließen, zumal im Fall der vorläufigen Wirksamkeit des angefochtenen Beschlusses erhebliche Nachteile für das Kindeswohl drohen und gegenteilige berechtigte Interessen der übrigen Parteien nicht vorliegen.

Gleichzeitig waren der Mutter und dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger die Beantwortung des außerordentlichen Revisionsrekurses freizustellen.

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