JudikaturJustiz5Ob10/18h

5Ob10/18h – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. Februar 2018

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj 1. Martin J***** und 2. Manuel J*****, beide *****, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Karin S*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar, Dr. Norbert Marschall, Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 29. November 2017, GZ 48 R 145/17b 50, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzung des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung:

Das Erstgericht hielt die im Scheidungsvergleich 2007 vereinbarte gemeinsame Obsorge beider Eltern für die Minderjährigen aufrecht, sprach aber in dessen Abänderung über Antrag des Vaters aus, dass der Hauptaufenthalt der Kinder nunmehr beim Vater liege.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf.

1. Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, welchem Elternteil bei Gegenüberstellung der Persönlichkeit, Eigenschaften und Lebensumstände die Obsorge für das Kind übertragen werden soll, ist immer eine solche des Einzelfalls, der in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zuerkannt werden kann (RIS Justiz RS0007101), wenn durch die Entscheidung nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung oder das Kindeswohl verletzt wurden (RIS Justiz RS0115719). Auch welchem Elternteil bei der Entscheidung nach § 180 Abs 2 ABGB die hauptsächliche Betreuung zukommen soll, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, sodass regelmäßig keine Frage iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu beantworten ist (6 Ob 200/16d; 4 Ob 226/16p). Maßstab für die Entscheidung über die Obsorge und der Frage, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird (§ 180 Abs 2 ABGB) ist das Kindeswohl. Dabei darf nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden, sondern es sind auch Zukunftsprognosen zu stellen (RIS Justiz RS0048632). Neben dem materiellen Interesse an möglichst guter Verpflegung und guter Unterbringung des Kindes sind auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, sorgfältiger Beaufsichtigung und möglichst günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen (RIS Justiz RS0047832). Als wichtiges Kriterium des Kindeswohls erwähnt § 138 Z 5 ABGB die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit der Meinungsbildung. Der Wille des Kindes bildet somit ein relevantes Kriterium (RIS Justiz RS0048820), wobei die Rechtsprechung im Regelfall ab dem 12. Lebensjahr von der Urteilsfähigkeit eines Kindes bezüglich einer Obsorgezuteilung ausgeht (RIS Justiz RS0048820 [T9; 10 Ob 53/16s = iFamZ 2016/180). § 180 Abs 3 ABGB idF des KindNamRÄG ist auch anzuwenden, wenn die Eltern – wie hier – nach ihrer Trennung vor Inkrafttreten des KindNamRÄG die Obsorge beider und die hauptsächliche Betreuung bei einem Elternteil vereinbarten. Voraussetzung für eine Änderung der Bestimmung des Aufenthaltsorts ist somit nur die in § 180 Abs 3 ABGB genannte „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ (vgl RIS Justiz RS0128809 [T3]; 3 Ob 212/14v).

2. Die Vorinstanzen sind mit ihren Entscheidungen nicht von den Grundsätzen der Rechtsprechung abgewichen. Das Erstgericht setzte sich mit dem Willen der Kinder in einer ausführlichen Vernehmung intensiv auseinander und veranlasste die Einholung einer fachlichen Stellungnahme der Familiengerichtshilfe speziell zu dieser Frage. Sie kam zum Ergebnis, der hauptsächliche Aufenthalt der beiden Minderjährigen beim Vater und deren vorwiegende Betreuung durch ihn entspreche ihrem Wohl. Auch wenn die Stellungnahme eines Psychologen der Familiengerichtshilfe nicht mit einem Sachverständigengutachten gleichzusetzen ist, schließt dies im Einzelfall nicht aus, dass sie im Zusammenhalt mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bildet (RIS Justiz RS0087024 [T12]; RS0131463), kommt doch im Verfahren Außerstreitsachen mit seinem Grundsatz der Unbeschränktheit der Beweismittel (§ 31 AußStrG) als Beweismittel alles in Betracht, was zur Feststellung des Sachverhalts geeignet und zweckdienlich ist (RIS Justiz RS0006272 [T1]). Für die von der Mutter wiederholt ins Treffen geführte Beeinflussung des Willens der Kinder durch den Vater fehlt jede Feststellungsgrundlage, zumal die Minderjährigen schon einigen Jahren den Wunsch hatten, beim Vater zu leben und diesen ihm gegenüber bereits vor längerer Zeit äußerten. Da der Vater sich wenig Chancen ausrechnete, den Hauptaufenthalt der Kinder zu bekommen, erklärte er ihnen damals, sie seien dafür noch zu klein. Aufgrund des massiv geäußerten Wunsches der beiden Minderjährigen versuchte der Vater zunächst noch eine Lösung im Einvernehmen mit der Mutter zu erzielen und ein gemeinsames Gespräch beim Jugendamt zu führen. Dass das Erstgericht den Eltern zwar die gemeinsame Obsorge beließ, den Hauptaufenthalt der Minderjährigen in Übereinstimmung mit ihrem mehrfach ausdrücklich geäußerten Willen aber beim Vater anordnete, ist somit nicht als im Einzelfall korrekturbedürftige Fehlbeurteilung zu werten.

3. Die gerügte Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens liegt nicht vor; das Rekursgericht hat unter Hinweis auf das Beweisaufnahmeermessen des Erstgerichts die Notwendigkeit weiterer Erhebungen verneint. Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz kann grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund bilden (RIS Justiz RS0050037; RS0030748), dieser Grundsatz erfährt im Pflegschaftsverfahren nur dann eine Durchbrechung, wenn das die Interessen des Kindeswohls erfordern (RIS Justiz RS0050037 [T1, T4]), was insbesondere im Obsorge und Kontaktrechtsverfahren Bedeutung hat (RIS Justiz RS0050037 [T8]). Ausreichende Gründe für eine Durchbrechung dieses Grundsatzes im konkreten Obsorgeverfahren, in dem letztlich nur mehr die Bestimmung des Aufenthalts iSd § 180 Abs 2 ABGB strittig blieb, zeigt der Revisionsrekurs nicht auf. Abgesehen davon, dass Anhaltspunkte für eine Beeinflussung der bei ihrer Befragung bereits 15 bzw 12 Jahre alten Minderjährigen durch den Vater fehlen und die Frage, welche Beweisaufnahmen notwendig sind, bevor das Gericht eine (Obsorge )entscheidung treffen kann, grundsätzlich einzelfallbezogen und daher nicht revisibel ist (vgl RIS-Justiz RS0114147 [T1]; 4 Ob 226/16p), ist nicht einsichtig, weshalb selbst ein vom Vater allenfalls beeinflusster Wille der Minderjährigen, künftig primär bei ihm zu leben, ihrem Wohl widersprechen sollte. Nach den Feststellungen fühlen sich die Kinder, die seit August 2016 beim Vater leben, bei diesem wohler als bei der Mutter, die sie jedes zweite Wochenende von Freitag bis Sonntag und jede zweite Woche am Donnerstag sehen. Das belastete Verhältnis zur Mutter hat sich dadurch entspannt. Der Hauptaufenthalt beim Vater hat keine negativen Folgen für die psychosoziale Entwicklung der Kinder.

4. Die Frage der Verwertung der Tonbandaufnahme und der in diesem Zusammenhang allenfalls anzustellenden Interessensabwägung (vgl zum streitigen Verfahren 1 Ob 172/07m) kann dahingestellt bleiben. Da sich nach der nicht revisiblen Beweiswürdigung des Rekursgerichts sämtliche Feststellungen aus den übrigen Beweisergebnissen ableiten lassen und auch das Erstgericht, das sich primär auf die Angaben der Kinder und die Stellungnahme der Familiengerichtshilfe stützte, die Tonbandaufnahme nur als zusätzliches Argument verwendete, ist eine nähere Erörterung unter Bedachtnahme auf den im Außerstreitverfahren geltenden Grundsatz der Unbeschränktheit der Beweismittel nicht erforderlich. Auch die Relevanz der in diesem Zusammenhang geltend gemachten Gehörverletzung (vgl RIS-Justiz RS0120213) für die Entscheidung ist somit nicht ersichtlich.

5. Der Maxime des Kindeswohls ist im Obsorgeverfahren dadurch zu entsprechen, dass der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, ungeachtet des im Revisionsrekursverfahren an sich herrschenden Neuerungsverbots auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS Justiz RS0122192; vgl auch RS0048056). Im Übrigen sind neue Tatsachenbehauptungen in einem Rechtsmittel nicht zu berücksichtigen, zumal bei wesentlicher Änderung der für die Obsorgefrage maßgeblichen Umstände den Parteien ohnehin die Möglichkeit einer neuerlichen Antragstellung offen steht (RIS Justiz RS0122192 [T3]). Die von der Mutter in ihrem Revisionsrekurs erstmals ins Treffen geführten schulischen Probleme der beiden Minderjährigen begründen keine die Tatsachengrundlage wesentliche verändernde und daher vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Entwicklung. Der ältere Sohn hat beide Nachprüfungen bestanden und das Schuljahr letztlich positiv abgeschlossen. Dass ein 13 jähriger wegen einer erfolglosen Nachprüfung in Mathematik eine Klasse wiederholen muss, ist für sich allein noch kein Hinweis auf mangelnde Erziehungsfähigkeit des Vaters oder eine Gefährdung des Kindeswohls im Fall eines primären Aufenthalts bei ihm.

6. Der außerordentliche Revisionsrekurs war somit zurückzuweisen, ohne dass dies einer weiteren Begründung bedürfte (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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