JudikaturVwGH

Ro 2022/18/0003 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie den Senatspräsidenten Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Oktober 2022, W131 2256520 1/9E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: N M, vertreten durch J M), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

1 Die minderjährige Mitbeteiligte ist afghanische Staatsangehörige. Sie stellte am 6. Mai 2022, vertreten durch ihren Vater als gesetzlichen Vertreter, einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30. Mai 2022 wurde der Antrag der Mitbeteiligten hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen, ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten im Familienverfahren zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

3 Der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten gab das BVwG mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis statt, erkannte der Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für zulässig.

4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligten drohe als minderjährigem Mädchen aufgrund der sich stetig verschlechternden Lage für Frauen in Afghanistan die reale Gefahr, Opfer von insbesondere auch kinderspezifischen, und dabei vor allem Mädchen betreffenden Handlungen, Eingriffen sowie erheblichen Diskriminierungen wie etwa Zwangsverheiratung oder der Verweigerung des Zugangs zu Bildung zu werden und medizinische Versorgung erschwert in Anspruch nehmen zu können.

5Die Zulässigerklärung der Revision begründete das BVwG damit, dass eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliege, da sich der Verwaltungsgerichtshof im Wege der Vorabentscheidungsersuchen vom 14. September 2022, EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028) und EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425), hinsichtlich der Frage der Gewährung von Asyl aufgrund der Kumulierung von einschränkenden Maßnahmen gegen Frauen und ob dafür einzig die Betroffenheit aufgrund des Geschlechtes ausreichend oder eine Prüfung der individuellen Situation erforderlich sei, an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gewandt habe.

6 Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit geltend macht, das BVwG habe seine Begründungspflicht verletzt, da es weder Feststellungen zu den „genauen Begebenheiten für Säuglinge in Afghanistan“, noch zu der Frage, ob auch Mädchen im Säuglingsalter von den für die Asylzuerkennung herangezogenen Handlungen betroffen seien, getroffen habe. Es fehle an konkreten Feststellungen, die eine Beurteilung ermöglichen würden, ob diese Gefahren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohten und eine asylrelevante Intensität erreichten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens durch das BVwG (eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet) in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig, sie ist aber nicht begründet.

8 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seinem Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, AH und FN, erkannt, dass diskriminierende Maßnahmen gegen Frauen, wie sie auch nach dem Vorbringen der Mitbeteiligten vom Taliban-Regime in Afghanistan gesetzt werden, sowohl aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für die betroffenen Frauen haben, als „Verfolgung“ von Frauen im asylrechtlichen Sinn zu verstehen sind. Sie führen dazu, dass afghanischen Frauen in den Worten des EuGH „in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsstaat verwehrt wird.“ (Rn. 44). Unter Bezugnahme auf einschlägige Richtlinien und Stellungnahmen von EUAA und UNHCR, denen zufolge afghanische Frauen und junge Mädchen in Afghanistan angesichts der vom Taliban-Regime seit dem Jahr 2021 ergriffenen Maßnahmen allein aufgrund des Geschlechts Verfolgung drohe (Rn. 56), folgerte der EuGH, unter diesen Umständen könnten die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind (Rn. 57).

9Bei dieser Ausgangslage zeigt die Amtsrevision nicht auf und ist auch sonst nicht zu erkennen, dass es für die Beurteilung des Asylanspruchs einen (relevanten) Unterschied macht, ob die weibliche Antragstellerin bereits ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat, ist sie doch schon von Geburt an mit ihre Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen des Taliban-Regimes konfrontiert. In diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung die Erwägungen des EuGH zur Beurteilung der Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an afghanische Frauen unterschiedslos auch auf ein Mädchen im Säuglingsalter angewendet (vgl. dazu VwGH 31.10.2024, Ra 2023/20/0524).

10Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 4. Dezember 2024