JudikaturJustiz13Os19/22a

13Os19/22a – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. April 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. April 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Socher, BA, in der Strafsache gegen * H* wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, AZ 29 U 128/19m des Bezirksgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge im Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache AZ 29 U 128/19m des Bezirksgerichts Innsbruck verletzen

1) das Unterlassen der Anordnung der Zustellung einer Ausfertigung des Abwesenheitsurteils an den Angeklagten samt Rechtsmittelbelehrung in der richterlichen Zustellverfügung vom 18. Juni 2020 (ON 20 S 4) § 129 Abs 4 Geo iVm § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO und § 152 Abs 3 Geo sowie

2) das Unterbleiben der Anordnung der Zustellung einer Belehrung des Angeklagten über sein Recht auf Erhebung eines Einspruchs gegen das Abwesenheitsurteil vom 4. Juni 2020 (ON 20) und das Unterbleiben einer Information des Angeklagten über die sich aus der Zustellung des Beschlusses vom 4. März 2021 (ON 28) ergebenden Fristenfolgen für die Rechtsmittelausführung gegen das Abwesenheitsurteil vom 4. Juni 2020 (ON 20) jeweils § 6 Abs 2 StPO.

Alle auf dem Abwesenheitsurteil vom 4. Juni 2020 (ON 20) beruhenden Beschlüsse und Verfügungen werden aufgehoben. Dem Bezirksgericht Innsbruck wird die neuerliche Zustellung des Abwesenheitsurteils an den Angeklagten unter Anschluss einer vollständigen Rechtsmittelbelehrung aufgetragen.

Text

Gründe:

[1] In der Strafsache AZ 29 U 128/19m des Bezirksgerichts Innsbruck legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck * H* mit Strafantrag vom 25. September 2019 ein am 7. Juli 2019 gesetztes und als Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 5).

[2] Mit – gemäß § 427 Abs 1 StPO ergangenem – Abwesenheitsurteil vom 4. Juni 2020 (ON 20) wurde der Angeklagte des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt, welche zum Teil bedingt nachgesehen wurde.

[3] Gegen dieses Urteil meldete der Angeklagte durch seinen ausgewiesenen Verteidiger fristgerecht „volle Berufung“ an (ON 19).

[4] Mit Verfügung vom 18. Juni 2020 ordnete der Richter des Bezirksgerichts die Zustellung einer Urteilsabschrift an den Verteidiger, nicht aber an den Angeklagten, an (ON 20 S 4).

[5] Ebenfalls am 18. Juni 2020 teilte der Verteidiger – noch vor der Zustellung einer Ausfertigung des Abwesenheitsurteils – die Beendigung des Vollmachtsverhältnisses mit und beantragte unter einem, dem Angeklagten zur Ausführung des angemeldeten Rechtsmittels einen Verfahrenshilfeverteidiger beizugeben (ON 21).

[6] Mit Verfügung vom 24. Juni 2020 ordnete der Richter des Bezirksgerichts die Zustellung einer Ausfertigung des Abwesenheitsurteils und des Protokolls über die Hauptverhandlung sowie einer „RMB“ an den Angeklagten an. Diese Belehrung umfasste das Recht, binnen vier Wochen nach Zustellung der Urteilsabschrift die Ausführung der Gründe der Berufung einzubringen (ON 21 S 1, Zustellnachweis ON 18 und ON 20). Eine Belehrung über das Recht auf Erhebung eines Einspruchs gemäß § 478 Abs 1 StPO wurde nicht erteilt.

[7] Den Verfahrenshilfeantrag lehnte der Richter des Bezirksgerichts mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom 4. März 2021 ab (ON 28). Die Auswirkungen der Entscheidung auf den Fristenlauf für die Ausführung von Rechtsmitteln gegen das Abwesenheitsurteil wurden dem Angeklagten nicht erläutert.

[8] Über die Berufung wurde vom Landesgericht Innsbruck als Berufungsgericht noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

[9] Im Verfahren AZ 29 U 128/19m des Bezirksgerichts Innsbruck stehen mehrere Vorgänge – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[10] § 6 Abs 2 StPO verpflichtet das Gericht, den Beschuldigten über seine Rechte zu belehren. Da beim Abwesenheitsurteil eine mündliche Rechtsbelehrung des Angeklagten im Anschluss an die Urteilsverkündung nicht in Betracht kommt, sieht das Gesetz Informationspflichten vor.

[11] Gemäß § 427 Abs 1 letzter Satz StPO ist das Abwesenheitsurteil dem Angeklagten in seiner schriftlichen Ausfertigung zuzustellen, und zwar nach § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO selbst und zu eigenen Handen. Nach § 152 Abs 3 Geo ist dem Abwesenheitsurteil (hier § 427 StPO) stets auch eine – vollständige – Rechtsmittelbelehrung anzuschließen (RIS Justiz RS0096531, RS0059446 [T2] und RS0096533; Bauer , WK StPO § 427 Rz 16 und Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 427 Rz 13). Dies ist vom Richter nach § 152 Abs 3 letzter Halbsatz Geo in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen (§ 129 Abs 4 Geo).

[12] Dem in Abwesenheit Verurteilten steht – unabhängig von einer Rechtsmittelerklärung und Rechtsmittelausführung seines Verteidigers – auch die mittels Zustellung des Abwesenheitsurteils zu seinen eigenen Handen gesicherte Möglichkeit eines Einspruchs offen, um allenfalls vorbringen zu können, dass ihm die Vorladung zur Hauptverhandlung nicht gehörig zugestellt oder dass er von der Teilnahme an der Hauptverhandlung durch ein unabwendbares Hindernis abgehalten wurde (RIS Justiz RS0114633). Eine unvollständige Rechtsmittelbelehrung, die keinen Hinweis auf die in (hier) § 478 Abs 1 StPO vorgesehene Einspruchsmöglichkeit sowie auf die dreitägige Präklusivfrist des § 466 Abs 2 StPO enthält, ist gesetzwidrig (RIS Justiz RS0096531), hindert aber den Ablauf der Rechtsmittelfrist nicht (RIS Justiz RS0096136). Ein bei der Zustellung des Abwesenheitsurteils unterlaufener Verstoß gegen § 152 Abs 3 Geo kann daher nicht dadurch behoben werden, dass die Zustellung in richtiger Form wiederholt wird (RIS Justiz RS0059452).

[13] Soweit vom Richter des Bezirksgerichts anlässlich der richterlichen Zustellverfügung vom 18. Juni 2020 die Anordnung der Zustellung einer Urteilsausfertigung samt Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten verabsäumt wurde (ON 20 S 4), liegt ein Verstoß gegen § 129 Abs 4 Geo iVm § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO und § 152 Abs 3 Geo vor (zur Wahrnehmung der Verletzung nicht auf Gesetzesstufe stehender Bestimmungen siehe RIS Justiz RS0102164 [T1]).

[14] Die unterlassene Belehrung des Angeklagten im Sinn des § 478 Abs 1 StPO (Zustellnachweis ON 18 und ON 20) bei der am 24. Juni 2020 veranlassten Urteilszustellung (ON 21 S 1) bewirkt einen Verstoß gegen § 6 Abs 2 StPO.

[15] Gemäß § 63 Abs 1 StPO hat die Zustellung des – einen Verfahrenshilfeantrag abweisenden – Beschlusses den Neubeginn des Fristenlaufs zur Rechtsmittelausführung zur Folge. Hierüber wäre der (unvertretene) Angeklagte anlässlich der Zustellung des Beschlusses vom 4. März 2021 (ON 28) in Kenntnis zu setzen gewesen. Die unterbliebene Information verletzt ebenfalls § 6 Abs 2 StPO.

[16] Da nicht auszuschließen ist, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten auswirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Rechtssätze
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