JudikaturVwGH

Ra 2023/17/0070 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
19. März 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen des 1. J A O, und der 2. O V O, beide in W, beide vertreten durch Dr. Irene Welser, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Parkring 2, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag. Dr. Günther Harrich, Rechtsanwalt in 1130 Wien, Gloriettegasse 17 19/1/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. März 2023, 1. I412 2217433 2/6E und 2. I412 22174372/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Erstrevisionswerber, geboren 2003, und die Zweitrevisionswerberin, geboren 2001, sind Geschwister und Staatsangehörige von Nigeria; sie halten sich seit Juli 2017 durchgehend im Bundesgebiet auf.

2Mit Erkenntnis vom 4. Februar 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) in der Sache die Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3Mit Beschluss vom 30. März 2022, Ra 2020/19/0212 bis 0213, wies der Verwaltungsgerichtshof den Antrag der Revisionswerber auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision zurück.

4Am 18. August 2022 stellten die Revisionswerber die für den Revisionsfall relevanten Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gemäß § 56 Abs. 1 AsylG 2005.

5 Mit Bescheiden jeweils vom 13. Oktober 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber auf Erteilung eines Aufenthaltstitels jeweils „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ zurück (Spruchpunkt I.), wies den Mängelheilungsantrag gemäß § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 iVm § 8 AsylG DV 2005 ab (Spruchpunkt II.), erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.) und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Zudem wurde den Revisionswerbern eine 14 tägige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt V.).

6 Dagegen erhoben die Revisionswerber gemeinsam Beschwerde, in der sie u.a. vorbrachten, sich nicht nur außerordentlich gut integriert, „sondern assimiliert“ zu haben. Dazu verwiesen sie (unter wörtlicher Wiedergabe) auf eine im Verfahren vor dem BFA erstattete Stellungnahme und auf schon bei der Antragstellung vorgelegte Dokumente, aus denen sich (gemeint: jeweils) ergebe, dass ein Arbeitsvorvertrag vorhanden sei, die „A2 Deutsch Qualifkation [...] bei weitem übererfüllt“ werde und ein Wohnplatz mit behördlicher Meldung vorhanden sei. Die Revisionswerber würden den künftigen Aufenthalt „durch die Berufstätigkeit sichern“. Sie beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Begründung, es habe im Verfahren vor dem BFA „keine geeignete mündliche Befragung“ gegeben und eine mündliche Beschwerdeverhandlung sei die einzige Möglichkeit, das Verwaltungsgericht „durch den persönlichen Eindruck“ zu überzeugen.

7 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht „die Beschwerden“ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

8In beweiswürdigender Sicht begründete das Verwaltungsgericht die Feststellungen zur Schulbildung der Revisionswerber und deren familiären Anknüpfungspunkten mit dem rechtskräftigen Erkenntnis des Verwaltungsgerichts vom 4. Februar 2020. Es sei kein davon abweichendes Vorbringen im Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 erstattet worden. Ein substantiiertes Vorbringen, welches auf eine maßgebliche Änderung der im genannten Erkenntnis getroffenen Feststellung zur Integration der Beschwerdeführer in beruflicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht schließen lassen würde, sei nicht erstattet worden.

9 Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass der Sachverhalt durch das BFA vollständig erhoben worden sei. Es seien keine strittigen Sachverhalts oder Rechtsfragen vorgelegen und es seien auch keine Beweise aufzunehmen gewesen. Daher habe aufgrund der Aktenlage entschieden werden können.

10 Gegen dieses Erkenntnis richten sich die vorliegenden, zwar in getrennten Schriftsätzen eingebrachten, aber weitestgehend wortidenten Revisionen. Nach Verbindung zur gemeinsamen Behandlung und Erledigung hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattetin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revisionen sind bereits in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zulässig und begründet.

12Nach § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, durch die in das Privatund Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist; bei der Beurteilung des Privatund Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Aspekte zu berücksichtigen. Eine Grundlage dafür, bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung von einer derart gebotenen Interessenabwägung dann absehen zu können, wenn bereits zuvor eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen worden ist und seit Erlassung dieser Rückkehrentscheidung kein maßgeblich geänderter Sachverhalt hervorgekommen ist, findet sich aber weder in § 9 BFAVG noch in einer Bestimmung des 7. Hauptstückes des AsylG 2005 (vgl. zum Ganzen VwGH 19.10.2022, Ra 2021/22/0228, mwN [ebenfalls zur Abweisung eines Heilungsantrags]).

13Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann nach § 21 Abs. 7 BFAVG von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 13.11.2024, Ra 2022/17/0135 bis 0137, mwN).

14 Vorliegend haben die Revisionswerber bereits in ihrer (gemeinsamen) Beschwerde eine hervorragende Integration nicht bloß pauschal, sondern substantiiert behauptet, indem sie sich (u.a.) als „assimiliert“ bezeichnet haben (vgl. näher oben Rn. 6). Schon über diese Behauptung(en) hätte sich das Verwaltungsgericht, das keine mündliche Verhandlung durchgeführt hat, nicht ohne Weiteres hinwegsetzen dürfen. Ausgehend davon erachtet der Verwaltungsgerichtshof die Begründung des Verwaltungsgerichts, wonach eine nachhaltige Aufenthaltsverfestigung der Revisionswerber weiterhin nicht erkannt werden könne, weil dazu kein substantiiertes Vorbringen erstattet worden sei, als nicht nachvollziehbar.

15Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und wie hierdes Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa VwGH 14.8.2024, Ra 2022/17/0061, mwN).

Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänzegemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG, insbesondere § 53 Abs. 1 und Abs. 2 VwGG, in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. März 2025