JudikaturVwGH

Ra 2022/17/0061 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
14. August 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des A K, vertreten durch Mag. Nikolaus Rast und Mag. Mirsad Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. März 2022, W105 2251618 1/6E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, wurde im Jahr 1995 im Bundesgebiet geboren.

2 Zwischen 2010 und 2020 wurde der Revisionswerber mehrfach wegen des (teilweise versuchten) Diebstahls, der (teilweise fahrlässigen) Körperverletzung, der (teilweise versuchten) Nötigung, der gefährlichen Drohung, des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften, des unbefugten Gebrauches von Fahrzeugen und der Sachbeschädigung strafgerichtlich verurteilt. Die letzte Verurteilung erfolgte am 29. Jänner 2020 wegen gefährlicher Drohung gemäß § 107 Abs. 1 und Abs. 2 StGB. Der Revisionswerber wurde zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt.

3 Mit Bescheid vom 11. Jänner 2021 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, stellte die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina fest, erließ gegen ihn ein auf sieben Jahre befristetes Einreiseverbot, erkannte einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab und räumte ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise ein.

4 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber im Wesentlichen vor, es sei im Hinblick auf die fehlerhaften Feststellungen des BFA im angefochtenen Bescheid seine neuerliche Einvernahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung notwendig, insbesondere hätte das BFA feststellen müssen, dass der Revisionswerber abgesehen von seiner Staatsbürgerschaft keinerlei Bindungen zu Bosnien und Herzegowina habe. Die Tatsachen, u.a. dass der Revisionswerber sehr gut Deutsch spreche, hier aufgewachsen sei und sozialisiert worden sei, „hätten zu der Feststellung führen müssen, dass es für einen Außenstehenden nicht erkennbar wäre, dass der [Revisionswerber] nicht die österreichische Staatsbürgerschaft, sondern die bosnische Staatsbürgerschaft“ habe.

5 Mit rechtskräftigem Teilerkenntnis vom 15. Februar 2022 erkannte das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 5 BFA VG nicht zu (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass gegen dieses Teilerkenntnis die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

6 Mit dem nun angefochtenen Erkenntnis vom 7. März 2022 wies das Verwaltungsgericht die „Beschwerde gemäß §§ 57 und 10 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA VG sowie gemäß §§ 46, 52, 53 und 55 FPG und § 18 BFA VG als unbegründet“ ab (Spruchpunkt A)I.) und sprach aus, dass Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG dahingehend abgeändert werde, dass gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen werde (Spruchpunkt A)II.). Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht neuerlich für nicht zulässig (Spruchpunkt B). Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass es von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG habe ausgehen können. Auch unter Berücksichtigung der vom Verwaltungsgerichtshof immer wieder postulierten Wichtigkeit der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung über ein Einreiseverbot stelle sich der vorliegende Fall als ein eindeutiger dar, in dem bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten sei, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft hätte.

7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit u.a. vorbringt, das Verwaltungsgericht sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Erfordernis der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zulässig und begründet.

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß dem hier maßgeblichen ersten Tatbestand des ersten Satzes des § 21 Abs. 7 BFA VG („wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“) dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Verwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 8.5.2024, Ra 2021/17/0207, mwN).

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur zudem wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann nach § 21 Abs. 7 BFA VG von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 12.6.2023, Ra 2021/17/0004, mwN).

11 Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist zwar nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 27.10.2023, Ra 2023/17/0109, mwN).

12 Es trifft zu, dass trotz derartiger integrationsbegründender Faktoren dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen wäre, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. etwa VwGH 23.2.2024, Ra 2021/22/0256, mwN). Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können (vgl. wiederum VwGH 27.10.2023, Ra 2023/17/0109, mwN).

13 Ein eindeutiger Fall, der ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gerechtfertigt hätte, lag ausgehend von diesen Rechtsprechungsgrundsätzen des Verwaltungsgerichtshofes hier nicht vor, zumal der Revisionswerber in der Beschwerde die Beurteilung des BFA zu seiner Integration substantiell bestritten hatte (vgl. dazu etwa neuerlich VwGH 8.5.2024, Ra 2021/17/0207, mwN), er in Österreich geboren wurde und er nach der Aktenlage hier auch sein gesamtes Leben verbrachte. Er hatte u.a., nicht nur basierend auf diesem Vorbringen außerdem seine Einvernahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung beantragt.

14 Bereits im Hinblick auf dieses Beschwerdevorbringen (vgl. näher auch oben Rn. 4), das den Feststellungen des BFA teilweise entgegensteht und zudem sekundäre Feststellungsmängel moniert, konnte das Verwaltungsgericht nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen, bei dem es ausnahmsweise von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen.

15 Das Verwaltungsgericht ist somit zu Unrecht von einem im Sinne des ersten Tatbestandes des ersten Satzes des § 21 Abs. 7 BFA VG hinreichend geklärten Sachverhalt ausgegangen. Das Verwaltungsgericht hätte sich vielmehr ausgehend von den erwähnten Rechtsprechungsgrundsätzen des Verwaltungsgerichtshofes vom Revisionswerber einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen.

16 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und wie hier des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa VwGH 12.2.2024; Ra 2021/17/0121, mwN).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Verletzung der Verhandlungspflicht gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014 und dem im Revisionsfall geltend gemachten Aufwand.

Wien, am 14. August 2024

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