Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident MMag. Maislinger sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des M A, vertreten durch MMag. Dr. Thomas Lechner, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Juli 2023, W294 2239468 2/3E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang und somit im Spruchpunkt A) I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Ghanas, stellte nach seiner illegalen Einreise ins Bundesgebiet am 19. April 2015 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz, der im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 2018 abgewiesen wurde.
2 Mit dem - für das Revisionsverfahren relevanten - angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 9. Dezember 2022 wurde der Antrag des Revisionswerbers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Ghana zulässig sei (Spruchpunkt III.). Ferner wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).
3 Begründend führte das BFA (u.a.) aus, dass für den Revisionswerber kein schützenswertes Familienleben in Österreich vorliege. Während seines Aufenthalts habe er keine nennenswerten Integrationsbemühungen gesetzt. Es habe keine berufliche Integration erkannt werden können und soziale Kontakte könne der Revisionswerber auch vom Ausland aus aufrechterhalten. Auch habe die Befragung des Revisionswerbers ergeben, dass diese Bindungen nicht so intensiv seien, als dass der Abbruch des persönlichen Kontaktes zu einem wesentlichen Eingriff in sein bestehendes Privatleben führen würde.
4 Dagegen erhob der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2022 fristgerecht Beschwerde, in der er auf das Wesentliche zusammengefasst ausführte, dass er sein schützenswertes Privatleben auf acht Jahre Aufenthalt in Österreich stütze, er „Mitglied im Verein HOSI (homosexuelle Initiative Tirol)“ sei, er in diesem Verein sozial integriert sei, er in Österreich nicht in einer homosexuellen Beziehung lebe, sondern mit einem näher bezeichneten Freund an einer näher genannten Adresse lebe und von diesem auch versorgt werde. Das BFA hätte jedenfalls weitere Feststellungen dazu treffen müssen, wie einem Homosexuellen die Wiederansiedelung in Ghana gelinge. Das BFA habe eine Interessenabwägung in unrichtiger rechtlicher Beurteilung überhaupt unterlassen.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis IV. des Bescheides des BFA vom 9. Dezember 2022 als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.). Hinsichtlich Spruchpunkt V. dieses Bescheides gab es der Beschwerde statt und behob diesen Spruchpunkt ersatzlos (Spruchpunkt A) II.). Weiters erklärte es die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
6 Begründend stellte das Verwaltungsgericht u.a. - soweit für das Revisionsverfahren wesentlich - fest, der Revisionswerber lebe mittlerweile seit acht Jahren und drei Monaten in Österreich. Der Revisionswerber verfüge über keine familiären Beziehungen in Österreich. Seinen Unterhalt in Österreich bestreite der Revisionswerber „aus den Mitteln der Grundversorgung bzw. finanziellen Zuwendungen eines Freundes“. Er sei „Mitglied im Verein HOSI, die Homosexuelle Initiative Tirol“. Der Revisionswerber besuche wöchentlich Veranstaltungen dieses Vereins, habe dort Freunde und sei für den Verein unentgeltlich als Kellner tätig. Er verfüge über deutsche Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2 und habe einen Deutschkurs auf dem Niveau B1 besucht, jedoch noch keine Prüfung absolviert.
7 Beweiswürdigend begründete das Verwaltungsgericht die von ihm getroffenen Feststellungen u.a. damit, die Feststellungen zur Volljährigkeit, dem Familienstand, der Staatsangehörigkeit, der Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit und der Sprachkenntnisse des Revisionswerbers würden sich aus seinen diesbezüglichen glaubhaften Angaben ergeben. Es sei im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des Revisionswerbers aufkommen lasse.
8 In rechtlicher Hinsicht hielt das Verwaltungsgericht im Wesentlichen fest, aus den aktuellen Länderinformationen sei ersichtlich, dass es in Ghana erste NGOs gebe, welche die Rechte Homosexueller vertreten würden, oft in Verbindung mit der Bekämpfung von HIV. Es seien im Verfahren jedenfalls auch sonst keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass eine Rückkehr nach Ghana für Homosexuelle generell unzumutbar wäre. Zudem hielten sich in Ghana weiterhin Onkel, Tante und Cousinen auf, sodass der Revisionswerber über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge und angesichts der dargetanen Lebensumstände auch davon auszugehen sein werde, dass er dort überdies über ein soziales Netz an Freunden und Bekannten verfüge. Dass der Revisionswerber strafrechtlich unbescholten sei, vermöge weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen. Im Ergebnis sei davon auszugehen, dass die Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet nur ein relativ geringes Gewicht hätten und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung in den Hintergrund treten würden. Die Nichterteilung des beantragten Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK sei vom BFA daher zu Recht erfolgt.
9 Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass die Voraussetzungen gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG im gegenständlichen Fall erfüllt seien, „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erschein[e].“
10 Gegen Spruchpunkt A) I. dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.
Nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist bereits in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zulässig und begründet.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann nach § 21 Abs. 7 BFA VG von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 14.12.2022, Ra 2021/17/0046; 13.11.2024, Ra 2022/17/0135 bis 0137, jeweils mwN).
13 Ein eindeutiger Fall lag hier nicht vor, zumal der Revisionswerber - wie oben in Rn. 4 näher wiedergegeben - u.a. auch bereits in seiner Beschwerde auf substantiierte Weise seine Homosexualität und die Schwierigkeiten der Wiederansiedlung eines Homosexuellen in Ghana behauptet hatte.
14 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa VwGH 19.3.2025, Ra 2023/17/0070, 0071, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Das Verwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren außerdem zu beachten haben, dass es im angefochtenen Erkenntnis - was die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen als rechtlichen Feststellungsmangel ebenfalls geltend macht - auch keinerlei belastbaren Feststellungen zur im Verfahren mehrfach behaupteten „sexuellen Orientierung (Homo- bzw. Bisexualität)“ des Revisionswerbers getroffen hat.
17 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
18 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 26. Juni 2025