Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Lodi Fè, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 11. Jänner 2022, VGW 151/053/9515/20199, betreffend Wiederaufnahme von Verfahren nach dem NAG (mitbeteiligte Partei: S K), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein im Jahr 1978 geborener Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, stellte am 12. März 2015 - unter Berufung auf seine am 6. Dezember 2014 in Bosnien und Herzegowina geschlossene Ehe mit S.I., einer im Jahr 1963 geborenen und in Österreich unbefristet aufenthaltsberechtigten serbischen Staatsangehörigen - beim Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde, Revisionswerber) einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß RotKarte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
2Mit Schreiben vom 31. März 2015 ersuchte die belangte Behörde die Landespolizeidirektion Wien um Überprüfung gemäß § 37 Abs. 4 NAG wegen des aufgrund des großen Altersunterschiedes der Eheleute entstandenen Verdachts auf Vorliegen einer Aufenthaltsehe.
3 Mit Erhebungsbericht vom 26. Mai 2015 teilte die Landespolizeidirektion Wien mit, dass der Verdacht der belangten Behörde auf Vorliegen einer Aufenthaltsehe nicht habe entkräftet werden können. Zu mehreren Zeitpunkten im April 2015 seien Hauserhebungen an der angeführten Wohnadresse der Eheleute durchgeführt worden. Es sei jedoch niemand angetroffen worden.
4 Am 17. August 2015 händigte die belangte Behörde dem Mitbeteiligten die beantragte „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ persönlich aus. Aufgrund der Verlängerungsanträge vom 7. Juli 2016 und vom 6. Juli 2017 des Mitbeteiligten wurden die Titel zuletzt mit Gültigkeit bis August 2018 verlängert.
5Nachdem am 22. Oktober 2018 E.K., eine Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina und die nunmehrige Ehefrau des Mitbeteiligten, einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG gestellt hatte ,nahm die belangte Behörde mit Bescheid vom 12. Juni 2019 die rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren über den Erstantrag vom 12. März 2015 und die Verlängerungsanträge vom 7. Juli 2016 und vom 6. Juli 2017 gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm 3 AVG wegen Vorliegens einer Aufenthaltsehe von Amts wegen wieder auf und wies unter einem den Erstantrag gemäß § 30 Abs. 1 NAG (§ 11 Abs. 1 Z 4 NAG) sowie die Verlängerungsanträge mangels Vorliegens eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 Abs. 1 NAG ab.
6 In ihrer Begründung ging die belangte Behörde davon aus, dass es sich bei der am 6. Dezember 2014 geschlossenen und am 18. Dezember 2017 wieder geschiedenen Ehe zwischen dem Mitbeteiligten und S.I. um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe. Diese Annahme stützte die belangte Behörde im Wesentlichen auf Widersprüche in den Aussagen der von der belangten Behörde am 26. April 2019 und 6. Mai 2019 einvernommenen ehemaligen Eheleute zum Zustandekommen der Ehe und ihrem Eheleben. Der Mitbeteiligte habe bereits seit Sommer 2016 eine Beziehung mit E.K., seiner jetzigen Ehefrau geführt.
7 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis statt und hob den Bescheid der belangten Behörde auf. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8Das Verwaltungsgericht begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass bei der belangten Behörde bereits im Verfahren über den Erstantrag des Mitbeteiligten Verdachtsmomente im Hinblick auf das Vorliegen einer Aufenthaltsehe bestanden hätten. Die belangte Behörde habe die Landespolizeidirektion Wien um weitere Erhebungen ersucht. Diese hätten lediglich ergeben, dass einer im Wohnhaus der Ehefrau des Mitbeteiligten befragten Nachbarin der Mitbeteiligte nicht bekannt gewesen sei. Die belangte Behörde sei demnach davon ausgegangen, dass eine Aufenthaltsehe nicht erwiesen habe werden können, und habe den beantragten Aufenthaltstitel erteilt. Sofern sich die belangte Behörde für ihre Annahme, dass es sich bei der Ehe zwischen dem Mitbeteiligten und S.I. um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe, nunmehr auf Widersprüche in den Aussagen der früheren Eheleute im Jahr 2019 beziehe, stellten diese keine zur Wiederaufnahme berechtigenden neu hervorgekommenen Tatsachen dar. Es sei nämlich der belangten Behörde zumutbar gewesen, bereits vor Erledigung des Erstantrages des Mitbeteiligten die Eheleute im Hinblick auf den bereits damals bestehenden Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe zu befragen, sodass von keinem Erschleichen iSd § 69 Abs. 1 Z 1 AVG gesprochen werden könne.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeitsbegründung - unter dem Gesichtspunkt einer Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zusammengefasst geltend macht, die im Zuge des Erstantragsgemäß § 37 Abs. 4 NAG ersuchte - Landespolizeidirektion Wien habe Erhebungen betreffend das Vorliegen einer Aufenthaltsehe durchgeführt. Diese Erhebungen hätten ergeben, dass der Mitbeteiligte und S.I. nicht gemeinsam an der angegebenen Adresse wohnten. Es seien vom Revisionswerber vorerst keine weiteren Ermittlungen durchgeführt worden, weil der Mitbeteiligte im Rahmen des visumfreien Aufenthalts in Österreich aufhältig gewesen sei. Die vorläufige Ergebnislosigkeit von Erhebungen hindere die Behörde nicht daran, den Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe später aufzugreifen. Vorliegend seien neue Tatsachen hervorgekommen, sodass entsprechende Ermittlungen durchgeführt und folglich die Aufenthaltstitelverfahren wiederaufgenommen worden seien. Das Verwaltungsgericht hätte weitergehende Ermittlungen tätigen und zu begründen gehabt, weshalb keine Aufenthaltsehe vorliege.
10 Eine Revisionbeantwortung wurde nicht erstattet.
11Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revision erweist sich aus dem von ihr dargelegten Grund als zulässig. Sie ist auch begründet.
13Gemäß § 30 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, dürfen sich Ehegatten oder eingetragene Partner, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht führen, für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen.
14Gemäß dem hier maßgeblichen § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist. Gemäß § 69 Abs. 3 AVG kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden.
15Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt ein „Erschleichen“ im Sinn von § 69 Abs. 1 Z 1 AVG vor, wenn die betreffende Entscheidung in einer Art zustande gekommen ist, dass die Partei gegenüber der Behörde objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht hat oder maßgebliche Angaben unterlassen hat und der so festgestellte Sachverhalt dann der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, sofern die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen ist und ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere Erhebungen durchzuführen. Von einem „Erschleichen“ kann daher nicht gesprochen werden, wenn die Behörde es verabsäumt hat, von den ihr ohne besondere Schwierigkeiten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung Gebrauch zu machen. Dem betreffenden Verfahren darf also kein ein „Erschleichen“ ausschließender relevanter Ermittlungsmangel hinsichtlich des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe anhaften (vgl. etwa VwGH 28.8.2024, Ra 2024/22/0070, mwN).
16Hingegen steht der Umstand bereits zuvor vorhandener, jedoch trotz durchgeführter Ermittlungen vorläufig nicht bestätigter Verdachtsmomente hinsichtlich des Eingehens einer Aufenthaltsehe einer späteren Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen (vgl. VwGH 14.7.2021, Ra 2018/22/0017, mwN). Die vorläufige Ergebnislosigkeit von Erhebungen betreffend den Nachweis einer Aufenthaltsehe aus Anlass einer Verständigung gemäß § 37 Abs. 4 NAG hindert die Behörde somit nicht daran, den Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe (etwa) im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens erneut aufzugreifen (vgl. VwGH 8.10.2019, Ra 2018/22/0299).
17 Vorliegend hat sich der Mitbeteiligte in den (rechtskräftig positiv erledigten und in der Folge vom Revisionswerber wieder aufgenommenen) Aufenthaltstitelverfahren auf die in Rede stehende Ehe mit S.I. berufen, die im Bescheid des Revisionswerbers vom 12. Juni 2019 als Aufenthaltsehe qualifiziert wurde.
18 Nach dem zuvor Gesagten wäre die Wiederaufnahme wegen „Erschleichens“ dann ausgeschlossen gewesen, wenn der Revisionswerber die ihm bereits zu einem früheren Zeitpunkt ohne Weiteres mögliche und zumutbare Sachverhaltsermittlung wegen des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe unterlassen hätte. Eine solche Konstellation ist jedoch fallbezogen entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht gegeben:
19Der Revisionswerber ersuchte zunächst die Landespolizeidirektion Wien im Verfahren über den Erstantrag des Erstmitbeteiligten gemäß § 37 Abs. 4 NAG um Erhebungen wegen des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe. Die Landespolizeidirektion Wien führte Ermittlungen durch und teilte dem Revisionswerber mit Bericht vom 26. Mai 2015 mit, dass bei Hauserhebungen an der angeführten Wohnadresse der Ehefrau des Mitbeteiligten niemand angetroffen worden sei. Aufgrund der Aussagen von den Nachbarn könne angenommen werden, dass die Eheleute nicht gemeinsam an der Wohnadresse wohnten. Somit habe der Verdacht einer Aufenthaltsehe nicht entkräftet werden können. Zudem wies die Landespolizeidirektion Wien in ihrem Bericht darauf hin, dass sie der Staatsanwaltschaft Wien gemäß § 100 Abs. 3a StPO eine Sachverhaltsdarstellung übermittelt habe, wobei die Staatsanwaltschaft Wien von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgesehen habe, zumal kein Anfangsverdacht bestehe.
20Das Verwaltungsgericht legte im angefochtenen Erkenntnis nicht dar, aufgrund welcher konkreten Umstände der Revisionswerber in der gegenständlichen Konstellation zu weiteren Erhebungen verhalten gewesen wäre. Dies wäre aber erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, inwiefern dem betreffenden Verfahren ein eine spätere Wiederaufnahme ausschließender Ermittlungsmangel hinsichtlich des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe anhafte (vgl. etwa VwGH 22.2.2018, Ra 2018/22/0032, und VwGH 14.10.2022, Ra 2018/22/0227).
21 Der Revisionswerber weist zutreffend darauf hin, dass der Mitbeteiligte bis zur Titelerteilung nur aufgrund eines visumfreien Aufenthaltes und somit lediglich für kürzere Zeiträume in Österreich aufenthaltsberechtigt gewesen war. Vor diesem Hintergrund ist dem Revisionswerber nicht vorzuhalten, dass er aufgrund der Aussagen der Nachbarn, die den Mitbeteiligten nicht gekannt hatten, für sich genommen, ohne Hinzutreten anderer Anhaltspunkte im Sinn von näheren Verdachtsmomenten für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe keine weiteren Ermittlungen durchführte. Fallbezogen ergaben sich für den Revisionswerber neue konkrete Hinweise für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe erst durch die abermalige Eheschließung des Mitbeteiligten mit E.K. die Scheidung von S.I. im Dezember 2017 gab der Mitbeteiligte dem Revisionswerber nicht bekannt und die darauffolgende Beantragung eines Aufenthaltstitels durch diese im Oktober 2018.
22 Der Revisionswerber hat demnach nicht verabsäumt, von einer ihm bereits früher ohne Schwierigkeiten möglichen und zumutbaren Sachverhaltsermittlung entsprechend Gebrauch zu machen. Ein diesbezüglicherein „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ausschließender relevanter Ermittlungsmangel hinsichtlich des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe liegt somit nicht vor.
23 In der vorliegenden Konstellation wäre das Verwaltungsgericht vielmehr gehalten gewesen, zur Frage des Bestehens einer Aufenthaltsehe eigene Ermittlungsschritte zu setzen und auf Basis schlüssiger beweiswürdigender Erwägungen entsprechende Feststellungen zu treffen.
24Da das Verwaltungsgericht mithin das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastete, war dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 17. November 2025
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