Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser sowie die Hofräte Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision 1. der Z F und 2. der mj. Y H, vertreten durch die Erstrevisionswerberin als gesetzliche Vertreterin, beide vertreten durch Mag. Hela Ayni Rahmanzai, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Invalidenstraße 11/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. August 2022, Zlen. 1. W220 2214264 1/12E und 2. W220 22256131/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweitrevisionswerberin. Beide sind afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Die Erstrevisionswerberin reiste im Jahr 2018 nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Die in Österreich geborene minderjährige Zweitrevisionswerberin stellte 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheiden vom 8. Jänner 2019 bzw. vom 31. Oktober 2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Revisionswerberinnen jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) im Instanzenzug nach Durchführung einer mündlichen Verhandlungim Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 die Anträge der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
4 Diese Entscheidung begründete das Verwaltungsgericht soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz damit, dass die Erstrevisionswerberin in Afghanistan nicht von einem Verwandten unter Anwendung von psychischer oder physischer Gewalt bedroht worden wäre. Allein aufgrund ihres Geschlechts drohe den Revisionswerberinnen in Afghanistan keine konkrete und individuelle psychische oder physische Gewalt. Die Erstrevisionswerberin habe keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle und sie im Fall der Rückkehr nach Afghanistan der konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde, mit der Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
5 Zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan traf das Verwaltungsgericht auf Basis näher genannter Länderberichte näher dargelegte Feststellungen zum Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen, der bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig sei. Es zeichneten sich jedoch deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan hätten sich jedoch keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, konkreter und individueller physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Die Eigenschaft des „Frau Seins“ an sich führe nicht zur Gewährung von Asyl.
6 Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht nicht näher.
7 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet hat. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
8Mit Beschluss vom 26. Jänner 2023, Ra 2022/01/0295 bis 0296 8, hat der Verwaltungsgerichtshof das gegenständliche Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 ausgesetzt, weil der Beantwortung der vom Verwaltungsgerichtshof mit den Beschlüssen jeweils vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/02/0028), vorgelegten Fragen auch für die Behandlung der vorliegenden Revision Bedeutung zugekommen ist.
9 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u.a. (Afghanische Frauen) , hat der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofes entschieden.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zu der in ihrem Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Rechtsfrage, ob die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Frauen bzw. Mädchen in Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban zur Flüchtlingseigenschaft führe, zu der (im Zeitpunkt der Einbringung der Revision) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle, zulässig.
12 Nach Erlassung des Urteils des EuGH vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C609/22, sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, ergangen.
13Aus den in diesen Erkenntnissen genannten (gleichlautenden) Entscheidungsgründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ist die vorliegende Revision auch begründet.
14In Verkennung der dort dargestellten Rechtslage ist das Verwaltungsgericht auch im vorliegenden Fall tragend u.a. davon ausgegangen, dass die Erstrevisionswerberin keine Lebensweise pflege, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle und sie sich im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan der konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde, mit der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden, sowie dass „zumindest derzeit“ den Länderberichten nicht zu entnehmen sei, dass alle Frauen gleichermaßen bereits allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt wären (vgl. inzwischen etwa VwGH 21.11.2024, Ro 2023/01/0002, Rn. 10, mit Verweis auf VwGH 31.10.2024, Ra 2022/20/0201 bis 0204).
15 Somit war auch vorliegend das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 1 Z 1 VwGG aufzuheben.
16Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGHAufwandersatzverordnung 2014. Gemäß § 53 Abs. 1 VwGG ist bei Anfechtung eines Erkenntnisses oder Beschlusses durch mehrere Revisionswerber in einer Revision die Frage des Anspruches auf Aufwandersatz so zu beurteilen, als ob die Revision nur vom erstangeführten Revisionswerber eingebracht worden wäre. Diese Bestimmung gilt jedoch nur für den Fall, dass die Revisionen aller Revisionswerber dasselbe Schicksal teilen, was hier der Fall ist (vgl. etwa VwGH 4.7.2024, Ra 2024/01/0136, 0137, Rn. 28, mwN).
Wien, am 5. Dezember 2024