JudikaturVwGH

Ra 2022/01/0295 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Januar 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Röder, über die Revision 1. der Z F, und 2. der mj. Y H, vertreten durch Z F, beide in W, beide vertreten durch Mag. Hela Ayni Rahmanzai, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Invalidenstraße 11/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. August 2022, Zlen. 1. W220 2214264 1/12E und 2. W220 2225613 1/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 sowie C 609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) sowie EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweitrevisionswerberin. Beide sind afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Die Erstrevisionswerberin reiste im Jahr 2018 nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Die in Österreich geborene minderjährige Zweitrevisionswerberin stellte 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheiden vom 8. Jänner 2019 bzw. vom 31. Oktober 2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Revisionswerberinnen jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Instanzenzug nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 die Anträge der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4 Diese Entscheidung begründete das BVwG soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz damit, dass die Erstrevisionswerberin in Afghanistan nicht von einem Verwandten unter Anwendung von psychischer oder physischer Gewalt bedroht worden wäre. Allein aufgrund ihres Geschlechts drohe den Revisionswerberinnen in Afghanistan keine konkrete und individuelle psychische oder physische Gewalt. Die Erstrevisionswerberin habe keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle und sie im Fall der Rückkehr nach Afghanistan der konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde, mit der Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

5 Die vorliegende außerordentliche Revision rügt die Abweichung von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung von Frauen aus Afghanistan und wendet sich weiters mit näherer Begründung gegen die Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses.

6 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen, der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

- der Zugang zu Bildung gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) verwehrt wird,

- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

- keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

7 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat auszusetzen war (vgl. VwGH 27.10.2022, Ra 2021/01/0171; 18.10.2022, Ra 2022/14/0060, jeweils mwN).

Wien, am 26. Jänner 2023

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