Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser und die Hofräte Mag. Brandl sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision 1. der B S, und 2. der S S, diese vertreten durch B S als gesetzliche Vertreterin, beide in Wien, beide vertreten Dr. Markus Haberfellner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenring 18/10, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Iris Augendoppler, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Apostelgasse 36/10, gegen das am 30. März 2022 mündlich verkündete und am 17. Juni 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zlen. 1. W251 2245308-1/7Z und 2. W251 22453101/7Z, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweitrevisionswerberin, beide sind Staatsangehörige von Afghanistan. Sie stellten am 5. Mai 2021 Anträge auf internationalen Schutz.
2Mit Bescheiden jeweils vom 18. Juni 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ihre Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (jeweils Spruchpunkt I.), erkannte den Revisionswerberinnen gemäß § 8 Abs. 1 bzw. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (jeweils Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (jeweils Spruchpunkt III.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) die Beschwerden der Revisionswerberinnen gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass eine Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
4 Begründend führte das Verwaltungsgericht soweit hier wesentlich aus, die Revisionswerberinnen seien allein aufgrund ihres Geschlechts in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder keiner Lebensgefahr ausgesetzt. Die Erstrevisionswerberin führe in Österreich keine selbstbestimmte („westliche“) Lebensweise, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Der Zweitrevisionswerberin drohe im Hinblick auf die Länderinformationen und ihr Alter zum Entscheidungszeitpunkt, wonach sie in Afghanistan eine Grundschule besuchen könnte und der Besuch einer weiterführenden Schule wegen ihres Alters erst in einigen Jahren in Betracht käme, keine asylrelevante Verfolgung.
Zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan traf das Verwaltungsgericht auf Basis näher genannter Länderberichte Feststellungen zum Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen, der bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig sei. Es zeichneten sich jedoch deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan hätten sich jedoch keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres Geschlechts und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, einer Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe ausgesetzt zu sein. Allein die Eigenschaft des „Frau-Seins“ an sich führe nicht zur Gewährung von Asyl.
5 Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht nicht.
6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet hat. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
7Mit Beschluss vom 15. Dezember 2022, Ra 2022/01/0119, 0120-12, hat der Verwaltungsgerichtshof das gegenständliche Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 ausgesetzt, weil der Beantwortung der vom Verwaltungsgerichtshof mit den Beschlüssen jeweils vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen auch für die Behandlung der vorliegenden Revision Bedeutung zugekommen ist.
8 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C-608/22 und C-609/22, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u.a. (Afghanische Frauen) , hat der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofes entschieden.
Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem gemäß 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zu der in ihrem Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Rechtsfrage, ob allein das Geschlecht der aus Afghanistan stammenden Revisionswerberinnen für die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan ausreiche, zu der (im Zeitpunkt der Einbringung der Revision) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle, zulässig.
10 Nach Erlassung des Urteils des EuGH vom 4. Oktober 2024, C-608/22 und C609/22, sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, ergangen.
11Aus den in diesen Erkenntnissen genannten (gleichlautenden) Entscheidungsgründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ist die vorliegende Revision auch begründet.
12 In Verkennung der dort dargestellten Rechtslage ist das Verwaltungsgericht auch im vorliegenden Fall tragend u.a. davon ausgegangen, dass es für die Asylgewährung auf die Glaubhaftmachung einer persönlichen Wertehaltung der Erstrevisionswerberin im Sinne eines „als ‚westlich‘ bezeichneten Frauenund Gesellschaftsbildes“ ankomme, sowie, dass aus der Berichtslage zur Situation in Afghanistan nicht abzuleiten sei, dass die Personen weiblichen Geschlechts von den faktisch die Staatsmacht ausübenden Taliban auferlegten Einschränkungen eine asylrechtlich relevante Verfolgungshandlung darstellten (vgl. inzwischen etwa VwGH 21.11.2024, Ro 2023/01/0002, Rn. 10, mit Verweis auf VwGH 31.10.2024, Ra 2022/20/0201 bis 0204).
13 Somit war auch vorliegend das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 1 Z 1 VwGG aufzuheben.
14Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich im beantragten Ausmaß auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGHAufwandersatzverordnung 2014. Gemäß § 53 Abs. 1 VwGG ist bei Anfechtung eines Erkenntnisses oder Beschlusses durch mehrere Revisionswerber in einer Revision die Frage des Anspruches auf Aufwandersatz so zu beurteilen, als ob die Revision nur vom erstangeführten Revisionswerber eingebracht worden wäre. Diese Bestimmung gilt jedoch nur für den Fall, dass die Revisionen aller Revisionswerber dasselbe Schicksal teilen, was hier der Fall ist (vgl. etwa VwGH 4.7.2024, Ra 2024/01/0136, 0137, Rn. 28, mwN).
Wien, am 28. November 2024