JudikaturJustiz7Ob233/08b

7Ob233/08b – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Dezember 2008

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein für Konsumenteninformation, 1060 Wien, Linke Wienzeile 18, vertreten durch Kosesnik Wehrle Langer Rechtsanwälte KEG in Wien, gegen die beklagte Partei Manfred M*****, vertreten durch Dr. Michéle Grogger Endlicher, Rechtsanwältin in Wien, wegen 339 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 25. August 2008, GZ 50 R 117/07y 14, womit das Versäumungsurteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 25. September 2007, GZ 8 C 304/07z 10, als nichtig aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 445,83 EUR (darin enthalten 74,31 EUR an USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Der Kläger macht einen an ihn von einem Konsumenten abgetretenen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises für einen DVD Recorder geltend, weil der Kaufvertrag infolge Fehlens der ausdrücklich vereinbarten „Show View"- Funktion zu wandeln sei; hilfsweise wird das Begehren auf Irrtumsanfechtung gestützt.

Der Beklagte beantragt die Klagsabweisung. Die spezifische Funktion des Recorders sei nicht vereinbart worden. Im Fall der Berechtigung des Klagebegehrens habe die Zahlung nur Zug um Zug gegen Herausgabe des unbeschädigten Geräts zu erfolgen.

Der Beklagte war im erstinstanzlichen Verfahren nicht vertreten und wurde auch über eine Anwaltspflicht nicht belehrt. Er selbst verfasste den Einspruch und nahm an der vorbereiteten Tagsatzung vom 24. 5. 2007, zu der er unter anderem mit dem Hinweis „Sie können unvertreten vor Gericht auftreten" geladen worden war, und der erstreckten Tagsatzung vom 25. 9. 2007 teil. In letzterer wies der Klagevertreter erstmals darauf hin, dass absolute Anwaltspflicht herrsche und beantragte die Fällung eines Versäumungsurteils.

Das Erstgericht erließ antragsgemäß das Versäumungsurteil.

Das Berufungsgericht hob das Versäumungsurteil und die beiden Tagsatzungen als nichtig auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Verhandlung und Entscheidung in der Rechtssache auf. Die Kosten für das nichtig erklärte Verfahren hob es gegenseitig auf. Es vertrat die Rechtsansicht, dass der Nichtigkeitsgrund nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO vorliege, weil der Beklagte entgegen § 131 Abs 2 ZPO in der ersten Ladung nicht aufgefordert worden sei, rechtzeitig einen Rechtsanwalt als Vertreter zu bestellen. Bis vor Fällung des Versäumungsurteils sei der Beklagte niemals über die Anwaltspflicht und die aus der Nichtbestellung eines Anwalts resultierenden Säumnisfolgen aufgeklärt worden. Die Anwaltspflicht bestehe deshalb, weil der Kläger ein in § 29 KSchG genannter Verein sei und nach § 27 Abs 1 ZPO in derartigen Rechtsstreitigkeiten Rechtsanwaltspflicht bestehe. Diese Bestimmung sei auch dann anzuwenden, wenn keine Musterprozesse geführt würden. Eine langwierige Überprüfung eines Allgemeininteresses habe zu unterbleiben. Der Kläger habe innerhalb seines statutarischen Aufgabenbereichs die Klage eingebracht, weil er Verbraucherinteressen selbst bei Geltendmachung von Kleinstforderungen gegen Unternehmer fördere. Unbeschadet des in den Materialien ersichtlichen Zwecks der Privilegierung von Verbandsklagen zur Führung von „Musterprozessen" sei klargestellt, dass der Gesetzgeber auch solche Verbandsklagen § 502 Abs 5 Z 3 ZPO unterstelle, bei denen sich keine Klärung von Rechtsfragen von Allgemeininteresse ergebe. Andernfalls hätte er wohl Verbandsklagen generell vom Erfordernis des § 502 Abs 1 ZPO ausgenommen und für derartige Klagen eine uneingeschränkte Zugangsmöglichkeit zum Obersten Gerichtshof eingeräumt. Dies führe zu dem Schluss, dass die Privilegierung des Klägers alle ihm abgetretenen Ansprüche betreffe, selbst wenn diese keine „Musterprozesse im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO" darstellten. Ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht führe nicht zur Mangelhaftigkeit des Verfahrens, sondern zur Nichtigkeit des dennoch erlassenen Versäumungsurteils nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO zulässig sei, weil die Frage der teleologischen Reduktion des § 502 Abs 5 Z 3 ZPO auf „Musterklagen" oberstgerichtlich noch nicht behandelt worden und das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen § 131 Abs 2 ZPO von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen sei.

Dagegen richtet sich der Rekurs des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Versäumungsurteil wiederherzustellen; hilfsweise wird beantragt, den Beschluss dahingehend abzuändern, dass der Nichtigkeitsgrund verneint werde.

Der Beklagte beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

Vor den Bezirksgerichten herrscht in Rechtsstreitigkeiten nach § 502 Abs 5 Z 3 ZPO absolute Anwaltspflicht (§ 27 Abs 1 ZPO). In § 502 Abs 5 Z 3 ZPO wird geregelt, dass die Revisionsbeschränkungen des § 502 Abs 2 und 3 ZPO nicht für Rechtsstreitigkeiten gelten, in denen ein in § 29 KSchG genannter Verband einen ihm zur Geltendmachung abgetretenen Anspruch gegen eine Partei klageweise geltend macht. Dass der Kläger ein in § 29 KSchG genannter Verband ist, ist unstrittig. Er macht einen ihm von einem Konsumenten abgetretenen Anspruch aus einem Kaufvertrag über einen DVD Recorder geltend. Nach dem dazu bisher erstatteten Parteienvorbringen ist die Frage entscheidend, ob die Parteien des Kaufvertrags eine bestimmte Eigenschaft (Funktion) des Recorders vereinbart haben oder nicht. Es handelt sich nicht um einen sogenannten Musterprozess, sondern um einen Rechtsstreit im Einzelfall, bei dem eine Tatfrage im Vordergrund steht.

Mit der ZVN 2004, BGBl I 2004/128, wurde der § 55 Abs 4 JN, der für sogenannte Musterprozesse einen fiktiven Mindeststreitwert normierte, aufgehoben. Nach der Regierungsvorlage (RV 613 BlgNR 22. GP, 3, 7 f) war es das Ziel, Testverfahren zur Abklärung der materiellrechtlichen Rechtslage im Interesse breiter Bevölkerungskreise im Rahmen von „Musterprozessen" der in § 29 KSchG genannten Verbände zu ermöglichen. Nicht nur die Erzielung der Fallgerechtigkeit, sondern das öffentliche Rechtspflegeinteresse sei ausschlaggebend. Es sollten auch bei im Einzelnen geringwertigen Ansprüchen, die aber wirtschaftlich gesehen insgesamt von erheblicher Bedeutung seien, richtungsweisende Entscheidungen herbeigeführt werden können. Auch der Verfassungsgerichtshof (VfGH 15. 12. 1994, G 126/93) habe in einem Gesetzesprüfungsverfahren zu § 55 Abs 4 JN ausgesprochen, dass die sachliche Rechtfertigung eines erhöhten Streitwerts, der zu Begünstigungen im Verfahrensrecht für bestimmte Verbandsklagen führe, im Konsumentenschutz aufgrund der überindividuellen Interessen an einer oberstgerichtlichen Rechtsprechung zu Rechtsfragen von allgemeiner Bedeutung bestehe. Die Besserstellung der abtretenden und die Schlechterstellung aller übrigen Gläubiger sei aus diesem Grund ein Nebeneffekt, dem keine ausschlaggebende Bedeutung zukomme. Durch die ZVN 2004 seien nicht nur Geldforderungen, sondern auch Ansprüche anderer Art, sofern abtretbar, in gleicher Weise Gegenstand eines Testverfahrens.

Die Aufhebung des § 55 Abs 4 JN bewirkte die Änderung des § 27 Abs 1 ZPO, in dem ausdrücklich die Anwaltspflicht für Klagen nach § 502 Abs 5 Z 3 ZPO normiert wurde. Nach der RV 613 BlgNR 22. GP 8 wäre eine Aufgabe der Anwaltspflicht bei Wegfall des Streitwerts nach § 55 Abs 4 JN aus der Sicht des Gleichheitssatzes äußerst bedenklich, weil die sachliche Rechtfertigung der Begünstigungen im Rechtsmittelrecht eben nur darin bestehen könne, dass es sich um Verfahren mit über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung handle, die schon aufgrund der Vorbildfunktion eine besonders sorgfältige Behandlung in rechtlicher Hinsicht benötigten. Desgleichen wurde im Hinblick auf die Aufhebung des § 55 Abs 4 JN der § 502 Abs 5 Z 3 ZPO geschaffen. Damit gilt die Sonderbestimmung über die Zulässigkeit der Revision für alle abtretbaren Ansprüche, deren Wahrnehmung in den Aufgabenbereich der in § 29 KSchG genannten Verbände fällt (RV aaO 4 und 7).

Die Zulässigkeit der Revision in Verbandsprozessen hängt auch von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO ab ( Zechner in Fasching/Konecny ², § 502 ZPO Rz 186). Dass grundsätzlich die Geltendmachung von an den Verband von Konsumenten abgetretenen Ansprüchen aus Kaufverträgen des täglichen Lebens zum Verbandszweck gehört, ist nicht zweifelhaft (vgl die hier nicht relevante Abgrenzung bei Zechner aaO § 503 ZPO Rz 200, nach dem zB Ansprüche, die im Erb- oder Familienrecht wurzeln, ausgeschlossen sein sollen).

Auch wenn sich aus den Erläuterungen ergibt, dass Motiv für die Sonderbestimmungen die Führung von Musterprozessen durch die in § 29 KSchG genannten Verbände war, ergibt sich die Einschränkung auf Musterprozesse aus dem Gesetz selbst nicht. Dass keine solche Einschränkung normiert wurde, ist auch zweckmäßig. Eine die Allgemeinheit betreffende Rechtsfrage kann sich potentiell bei jeder und auch bei jeder von einem Verband nach § 29 KSchG eingebrachten Klage stellen, wenn auch möglicherweise erst im Laufe eines Verfahrens. Eine Überprüfung nur zu Beginn des Verfahrens, ob ein Musterprozess vorliegt, würde zu kurz greifen, weil spätere Entwicklungen von der Betrachtung ausgeschlossen wären. Eine Änderung der anzuwendenden Prozessvorschriften während des Verfahrens wegen des Auftauchens einer die Allgemeinheit interessierenden Rechtsfrage wäre aber kaum praktikabel. Zudem ist dem weiteren Argument des Berufungsgerichts beizupflichten, dass die Förderung von Verbraucherinteressen auch darin bestehen kann, Unternehmer daran zu hindern, Ansprüche von Konsumenten sanktionslos abzulehnen, weil diese den Aufwand und das Risiko eines Prozesses - vor allem wenn es um kleinere Forderungen geht - scheuen. Die Regierungsvorlage nennt nur das Motiv für die Bestimmung, das Gesetz geht aber darüber hinaus. Dieses Auslegungsergebnis wird - worauf bereits das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat - durch die Revisionsbeschränkungen gestützt. Die Revision ist auch bei einer Verbandsklage nur zulässig, wenn sie eine erhebliche Rechtsfrage geltend macht. Diese Regelung wäre obsolet, wenn ohnedies nur Musterprozesse als Verbandsklagen zu qualifizieren wären.

Es ist also davon auszugehen, dass die zivilprozessualen Sonderbestimmungen für die in § 29 KSchG genannten Verbände auch dann anzuwenden sind, wenn sie die ihnen von Konsumenten abgetretenen Ansprüche im Rahmen ihres Verbandszwecks geltend machen, auch wenn es keine „Musterprozesse" sind.

Damit besteht absolute Anwaltspflicht nach § 27 Abs 1 ZPO. Durch sie wird auch in Verfahren, die keine „Musterprozesse" sind, die Waffengleichheit gesichert. Der Beklagte, der einem in § 29 KSchG genannten Verband gegenübersteht, soll nicht ohne rechtsanwaltliche Vertretung in das Verfahren gehen.

Der Beklagte wurde weder in der ersten Ladung noch zu einem anderen Zeitpunkt im erstinstanzlichen Verfahren aufgefordert, einen Rechtsanwalt als Vertreter zu bestellen und es wurden ihm auch nicht die Nachteile bekannt gegeben, die das Gesetz mit der Nichtbestellung eines Rechtsanwalts und mit der Versäumung einer Tagsatzung verbindet. Im Gegenteil, der Beklagte wurde zunächst bereits zu einer Tagsatzung zugelassen, bevor der Klagevertreter erstmals in der zweiten Tagsatzung auf die Postulationsunfähigkeit des Beklagten hinwies. Das Erstgericht erließ also unter Verletzung der Belehrungspflicht nach § 131 Abs 2 ZPO das Versäumungsurteil.

Bei der Beurteilung, welche Rechtsfolgen die mangelnde Postulationsfähigkeit hat, ist zu unterscheiden: Wird die Postulationsunfähigkeit einer Partei nicht erkannt und wird sie zur Verhandlung zugelassen und mit ihr das Verfahren abgewickelt, so begründet dies nach ständiger Rechtsprechung keine Nichtigkeit, sondern einen Verfahrensmangel (RIS Justiz RS0110666, RS0041957, RS0110667, RS0120327; Pimmer in Fasching/Konecny 2, § 477 ZPO Rz 60; Zechner aaO § 503 ZPO Rz 84; Zib in Fasching/Konecny2, § 27 ZPO Rz 87; Fasching , Lehrbuch Rz 363). Anders gelagert ist jedoch der vorliegende Fall, in dem die Postulationsunfähigkeit erkannt und aufgegriffen wurde und daraus Säumnisfolgen abgeleitet wurden. Der Nichtigkeitsgrund nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO ist gegeben, wenn einer Partei die Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln, durch einen ungesetzlichen Vorgang entzogen wird. Der Nichtigkeitsgrund ist nur bei völligem Ausschluss von der Verhandlung gegeben (RIS Justiz RS0107383). Dies ist hier geschehen. Das Unterbleiben der Belehrung nach § 131 ZPO führte dazu, dass der Beklagte vom Erstgericht in den zwei Tagsatzungen als postulationsunfähig und damit als nicht erschienen angesehen wurde, fällte es doch ein Versäumungsurteil, ohne sein bis dahin erstattetes Vorbringen zu beachten und ohne dem Beklagten nach Erkennen des Belehrungsfehlers die Möglichkeit einzuräumen, einen Rechtsanwalt beizuziehen. Er wurde also durch einen ungesetzlichen Vorgang völlig vom Verfahren ausgeschlossen, sodass eine Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO vorliegt (vgl 5 Ob 226/06f, wonach das Gebot des rechtlichen Gehörs nicht ausreichend erfüllt wird, wenn die Ladung bloß zu einer auf die Erörterung und Entscheidung einer Prozesseinrede eingeschränkten Verhandlung erfolgt und anschließend in der Sache selbst verhandelt und entschieden wird; Pimmer aaO § 477 ZPO Rz 50; Fasching , Lehrbuch² Rz 570; Gitschthaler in Rechberger2, § 131 ZPO Rz 2; Buchegger in Fasching/Konecny ² § 132 Rz 2).

Der vom Berufungsgericht vermutete Widerspruch seiner Entscheidung zur ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist nicht gegeben. Das Versäumungsurteil wurde zu Recht als nichtig aufgehoben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO. Es handelt sich um die Kosten eines Zwischenstreits.

Rechtssätze
6