JudikaturJustiz2Ob191/13x

2Ob191/13x – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Oktober 2013

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. I***** A*****, vertreten durch Dr. Manfred Schiffner und andere Rechtsanwälte in Köflach, gegen die beklagten Parteien 1. U***** M*****, 2. M***** M*****, und 3. A*****Aktiengesellschaft, *****, sämtliche vertreten durch Bartl Partner Rechtsanwälte KG in Graz, wegen 6.822 EUR sA, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 10. Juni 2013, GZ 6 R 117/13i 18, womit das Urteil des Bezirksgerichts Graz Ost vom 5. März 2013, GZ 205 C 608/12v 14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 642,70 EUR (darin 107,12 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Am 8. 8. 2012 ereignete sich im Gemeindegebiet von Weinitzen an der Kreuzung der Landesstraße 387 mit einer als „Waldweg“ bezeichneten Straße ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Lenkerin ihres Pkws Skoda Fabia und der Zweitbeklagte als Lenker des von der Erstbeklagten gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws Renault Scenic beteiligt waren.

Die Unfallstelle liegt im Freilandgebiet. Die Landesstraße verläuft im näheren Unfallbereich in Ost-West-Richtung, wobei sie aus einer Rechtskurve in ein gerades Stück und danach in eine Linkskurve übergeht. Aus nördlicher Richtung mündet im rechten Winkel der „Waldweg“ in die Landesstraße ein. Diese weist zwei durch eine Leitlinie getrennte Fahrstreifen von 3 m bzw 2,7 m Breite auf. Die Fahrbahn ist asphaltiert. Der ebenfalls asphaltierte Mündungstrichter des „Waldweges“ erstreckt sich über eine Länge von 15 m (7 bis 22 m östlich der Bezugslinie, die als Normale zum Fahrbahnrand durch den ersten „Straßenstipfel“ westlich der Kreuzung gezogen wurde), wobei die Asphaltierung ab der Verschneidungslinie (Schnittlinie) der beiden Straßen bis zu einer Tiefe von 25 m in den „Waldweg“ reicht. Danach wird der „Waldweg“ als Schotterweg weitergeführt. Der Asphalt der Landesstraße unterscheidet sich etwas von jenem des Mündungstrichters. Von der Verschneidungslinie aus sind keine Häuser zu sehen. Rund 15 m nördlich der Verschneidungslinie befindet sich am östlichen Fahrbahnrand des „Waldweges“ eine Fahrverbotstafel mit der Aufschrift „Privatstraße“ und einer Zusatztafel mit der Aufschrift „Privatstraße, Begehen und Befahren verboten ausgenommen Berechtigte, Eltern haften für ihre Kinder“. Darunter ist das Schild „Waldweg“ angebracht. Der „Waldweg“ wurde vor ein paar Jahren als Zufahrt zu einer damals neu gebauten Siedlung errichtet.

Auf der Landesstraße besteht eine Geschwindigkeitsbegrenzung mit 60 km/h. Nähert man sich der Kreuzung aus östlicher Richtung, ist nur der asphaltierte Mündungstrichter des „Waldweges“ erkennbar, nicht aber der anschließende geschotterte Bereich und auch nicht die Fahrverbotstafel. Aus einer Position 2 m nördlich der Verschneidungslinie kann die Landesstraße ca 70 m in Richtung Osten eingesehen werden.

Die Klägerin fuhr auf der Landesstraße in westliche Richtung. Als sie merkte, dass sie sich verfahren hatte, bog sie nach rechts in den „Waldweg“ ein, um dort umzudrehen. Sie vollzog dieses Fahrmanöver ganz langsam im Bereich des Mündungstrichters. Als sie sich wieder der Landesstraße annäherte, blickte sie nach links, dann nach rechts und dann wieder nach links. Während dieses Vorgangs kam das Klagsfahrzeug nie zum Stillstand. Als die Klägerin zum zweiten Mal nach links blickte, befand es sich bereits auf der Landesstraße.

Unterdessen näherte sich auch der Zweitbeklagte aus östlicher Richtung der Kreuzung. Seine Geschwindigkeit betrug etwa 60 km/h. Er sah das Klagsfahrzeug erstmals, als sich dieses langsam auf die Landesstraße zubewegte. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich ca 50 m östlich der Bezugslinie. Als das Klagsfahrzeug über die Verschneidungslinie in die Landesstraße einfuhr, war das Beklagtenfahrzeug noch etwa 30 m entfernt. Der Zweitbeklagte reagierte umgehend mit einer Vollbremsung, vermochte die Kollision aber nicht mehr zu vermeiden. Der Kollisionswinkel betrug annähernd 90°, der Kollisionspunkt lag ziemlich genau in der Fahrbahnmitte. Die Klägerin hätte vor dem Überqueren der Verschneidungslinie das sich von links der Kreuzung nähernde Beklagtenfahrzeug sehen und durch Stehenbleiben die Kollision verhindern können.

Der Zweitbeklagte ist ortskundig und weiß, dass der „Waldweg“ eine Privatstraße ist. Er weiß auch, dass sich ca 100 m westlich der Unfallstelle ein Schild „Achtung gefährliche Ausfahrt“ befindet. Hätte der Zweitbeklagte auf ein vom „Waldweg“ kommendes Fahrzeug unfallvermeidend reagieren wollen, hätte er seine Geschwindigkeit in Annäherung an die Kreuzung auf 10 bis 15 km/h reduzieren müssen, weil die Sicht in nördliche Richtung durch Bäume stark eingeschränkt ist.

Die Klägerin begehrte den Ersatz ihres mit 6.822 EUR sA bezifferten Schadens. Sie steht auf dem Standpunkt, der Zweitbeklagte habe ihren Rechtsvorrang verletzt.

Die beklagten Parteien bestritten das Klagebegehren nur dem Grunde nach, wandten aufrechnungsweise eine Gegenforderung von 5.954,81 EUR ein und brachten vor, die Klägerin habe den Vorrang des Zweitbeklagten verletzt. Bei dem „Waldweg“ handle es sich um eine iSd § 19 Abs 6 StVO benachrangte Verkehrsfläche. Der Klägerin sei auch ein Aufmerksamkeitsfehler vorzuwerfen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es ging vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt aus und erörterte in rechtlicher Hinsicht, beim „Waldweg“ handle es sich um eine Privatstraße, auf der ausgenommen Berechtigte Fahrverbot herrsche. Er führe durch einen Wald und sei nur im Einmündungsbereich asphaltiert. Es sei daher davon auszugehen, dass es sich um eine benachrangte Verkehrsfläche iSd § 19 Abs 6 StVO handle. Die Klägerin habe sich somit im Nachrang befunden, weshalb sie das Alleinverschulden an dem Unfall treffe. Anhaltspunkte für ein Mitverschulden des Zweitbeklagten lägen nicht vor.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es die Klagsforderung als zu Recht, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend erkannte und dem Klagebegehren stattgab. Es sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Es vertrat die Ansicht, die Landesstraße und der „Waldweg“ seien gleichrangig, es sei daher vom Rechtsvorrang der Klägerin auszugehen. Der Mündungstrichter des „Waldwegs“ sei über eine Länge von 15 m und eine Tiefe von 25 m asphaltiert. Aus der Annäherungsrichtung des Zweitbeklagten sei nur dieser asphaltierte Mündungstrichter zu erkennen, nicht jedoch der anschließende geschotterte Bereich und auch kein Verkehrszeichen. Bei der gebotenen objektiven Betrachtung unterscheide sich der in die Landesstraße einmündende „Waldweg“ in seiner sichtbaren Anlage nicht (zumindest nicht mit der gebotenen Deutlichkeit) von der Landesstraße, weshalb zumindest im Zweifel Rechtsvorrang als gegeben anzunehmen sei. Dem Zweitbeklagten sei daher eine Vorrangverletzung anzulasten. Da die Klägerin darauf vertrauen habe dürfen, dass ihr Vorrang gewahrt werde und sie auf den Vorrang auch nicht verzichtet habe, treffe ihn das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls. Ein Mitverschulden der Klägerin sei nicht erkennbar; ein unzulässiges Umkehrmanöver hätten ihr die beklagten Parteien nicht zum Vorwurf gemacht.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision über Antrag der beklagten Parteien nachträglich doch für zulässig. Die beklagten Parteien hätten eine uneinheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs aufgezeigt.

Rechtliche Beurteilung

Die von den beklagten Parteien gegen das Berufungsurteil erhobene Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig. Weder in der Begründung des zweitinstanzlichen Zulassungsausspruchs noch im Rechtsmittel der beklagten Parteien wird eine derartige Rechtsfrage dargetan:

1. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verkehrsfläche nach § 19 Abs 6 StVO benachrangt ist, kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Sie begründet daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO. Es ist nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofs sich zu jeder im Lichte des § 19 Abs 6 StVO zweifelhaften Einschätzung einer konkreten Verkehrsfläche zu äußern (2 Ob 160/03y; 2 Ob 28/09w mwN; RIS Justiz RS0074506).

2. Die Beurteilung, ob eine Verkehrsfläche den in § 19 Abs 6 StVO nicht taxativ (RIS Justiz RS0074560) -aufgezählten Verkehrsflächen gleichzuhalten ist, ist nach objektiven Kriterien vorzunehmen (RIS Justiz RS0074521). Bei der Lösung dieser Frage kommt es daher nicht auf die jeweilige subjektive Betrachtungsweise der beteiligten Lenker oder auf ihre besondere Ortskenntnis an, sondern darauf, ob sich die betreffende Verkehrsfläche in ihrer gesamten Anlage deutlich von sonstigen öffentlichen Straßen unterscheidet (2 Ob 28/12z; 2 Ob 216/12x; RIS Justiz RS0074490). Die Verkehrsbedeutung und -frequenz ist dabei nicht entscheidend (2 Ob 4/92; 2 Ob 32/94; 2 Ob 28/12z; RIS Justiz RS0074563). Demzufolge wurden auch Sackgassen, die sich in ihrer Anlage von anderen öffentlichen Straßen nicht deutlich unterscheiden, nicht als iSd § 19 Abs 6 StVO nachrangige Verkehrsflächen behandelt (2 Ob 4/92 mwN; 2 Ob 155/99d; RIS Justiz RS0074535). Was für Sackgassen gilt, gilt grundsätzlich auch für Straßen mit eingeschränktem Fahrverbot (8 Ob 24/78 = ZVR 1978/280; 2 Ob 11/81; 2 Ob 155/99d mwN; RIS Justiz RS0074545). Es gibt auch keinen Rechtsgrundsatz, wonach eine ausdrücklich als Privatweg (hier: Privatstraße) bezeichnete Zufahrt jedenfalls als Verkehrsfläche gemäß § 19 Abs 6 StVO beurteilt werden müsste (2 Ob 38/93). Vielmehr kommt es auch in diesen Fällen auf das äußere Erscheinungsbild der Verkehrsfläche an (8 Ob 212/76 = ZVR 1978/9 = RIS Justiz RS0074641). Im Zweifel ist der Rechtsvorrang als gegeben anzunehmen (2 Ob 28/12z; RIS Justiz RS0074522).

3. Für die Beurteilung der Beschaffenheit einer Verkehrsfläche in ihrer Gesamtheit (RIS Justiz RS0074625) ist von wesentlicher Bedeutung, dass die dafür maßgeblichen objektiven Kriterien (zB Befestigung, Asphaltierung, Verkehrszeichen, Fahrbahnbreite, Straßenverlauf, Widmung etc) ohne Rücksicht auf Ortskenntnisse für die Benützer der betreffenden Fläche und die Benützer der Straße, in die sie einmündet, während ihrer Fahrt deutlich erkennbar sind (2 Ob 4/92 mwN; 2 Ob 38/93; 2 Ob 32/94; 2 Ob 283/98a; 2 Ob 28/12z; RIS Justiz RS0074597). Denn diese müssen ja danach beurteilen können, ob sie Vorrang haben oder wartepflichtig sind (2 Ob 154/72 = ZVR 1974/36). Vor allem in der jüngeren Rechtsprechung wurde auf die Erkennbarkeit der erwähnten objektiven Kriterien für beide am Unfallgeschehen beteiligte Straßenbenützer abgestellt (2 Ob 4/92; 2 Ob 38/93; 2 Ob 32/94; 2 Ob 28/12z; anders noch 2 Ob 41/87). Insoweit liegt eine ständige, gefestigte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor.

4. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass es sich bei dem in die Landesstraße einmündenden „Waldweg“ um keine nachrangige Verkehrsfläche iSd § 19 Abs 6 StVO handle und daher im Zweifel vom Rechtsvorrang der Klägerin auszugehen sei, hält sich noch im Rahmen der erörterten Judikatur:

Nach der vom Erstgericht festgestellten objektiven Beschaffenheit des „Waldweges“ (Schotterbelag außerhalb des Mündungstrichters, Kennzeichnung als Privatstraße mit eingeschränktem Fahrverbot; Bezeichnung als „Waldweg“; Zufahrt zu Siedlung) könnte für einen Benützer desselben zwar zweifelhaft sein, ob er sich tatsächlich auf einer im Verhältnis zur Landesstraße gleichrangigen Verkehrsfläche bewegt. Jene Umstände, die zu diesen Zweifeln Anlass geben, sind aber wie ebenfalls festgestellt wurde für einen die Landesstraße benützenden, aus der Annäherungsrichtung des Zweitbeklagten kommenden Verkehrsteilnehmer während der Fahrt nicht erkennbar. Auf die Ortskundigkeit des Zweitbeklagten kommt es dabei nicht an. Unter diesen Prämissen ist, bezogen auf die konkreten Umstände des Einzelfalls, die Lösung der Vorrangfrage durch das Berufungsgericht vertretbar und nicht krass falsch; sie wirft keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

5. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen hätte die Klägerin das Beklagtenfahrzeug schon vor dem Überfahren der (gedachten) Verschneidungslinie sehen und die Kollision „durch Stehenbleiben“ verhindern können. Dass das Beklagtenfahrzeug zu diesem Zeitpunkt objektiv bereits als Gefahr erkennbar gewesen wäre, geht aus den Feststellungen allerdings nicht hervor. Zum Stehenbleiben hatte die Klägerin als Vorrangberechtigte aber so lange keinen Anlass, als sich das Beklagtenfahrzeug in unbedenklicher Entfernung befand. Ein unfallskausaler Aufmerksamkeitsmangel der Klägerin, der zu einer gegenüber der Vorrangverletzung des Zweitbeklagten auch ins Gewicht fallenden (vgl 1 Ob 154/11w mwN; RIS Justiz RS0026775; RS0027312; RS0058756 [T8]) verspäteten Reaktion führte, ist aus den erwähnten Feststellungen daher nicht mit Sicherheit ableitbar. Diese Unklarheit geht zu Lasten der für das behauptete Mitverschulden beweispflichtigen beklagten Parteien.

Dem Berufungsgericht ist daher nicht als unvertretbare Rechtsansicht vorwerfbar, dass es der Klägerin kein Mitverschulden anlastete. Aspekte, die zu einer abweichenden Beurteilung führen müssten, werden in der Revision nicht dargelegt.

6. Da keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO zu lösen sind, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die Klägerin hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

Rechtssätze
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