JudikaturJustiz2Ob175/20d

2Ob175/20d – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Januar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G* K*, vertreten durch Dr. Rudolf Kathrein, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Gemeinde S*, vertreten durch Dr. Josef-Michael Danler, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 5.325 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 31. März 2020, GZ 1 R 210/19t 22, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 25. September 2019, GZ 26 C 1250/18b 16, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 501,91 EUR (darin 83,65 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Am 14. 9. 2018 kam es in S* kurz vor 10:00 Uhr zu einem Zusammenstoß des vom Kläger gelenkten P KW mit einem von der Beklagten als Straßenhalterin betriebenen, in der Mitte der dort 6,4 m breiten Straße eingebauten, elektronisch gesteuerten und versenkbaren Poller („Pilomat“), der die Fußgängerzone des Ortes von zweispurigen Fahrzeugen freihalten soll. Je ca 1,7 m rechts und links des Pollers befinden sich umlegbare Sperrstangen. Die Beklagte hatte verordnet und ausgeschildert, dass die Fußgängerzone von 6:00 bis 10:00 Uhr für Ladetätigkeiten befahren werden darf. Der Poller ist während dieses Zeitraums versenkt. Eine elektronische Zeitschaltung sollte bewirk en , dass er „gegen 10:00 Uhr“ aus gefahren wird . Voll ausgefahren ist der Poller 80 cm hoch. Seine Ausfahrg eschwindi gkeit beträgt ca 12 cm/sek, hinunter bewegt er sich mit ca 25 cm/sek. An seinem oberen Rand befindet sich ein Kranz mit roten LED Lichtern, die 5 Sekunde vor dem Ausfahren des Pollers zu blinken beginnen. Sie sind aus mindestens 15 m Entfernung sichtbar.

[2] Auf Höhe des Pollers steht nahe zur Hausmauer eine Metallsäule, die in ca 1,5 m Höhe eine Ampel enthäl t. Sie ist verdeckt, wenn Personen nahe vor ihr stehen. Sie zeigt grünes Licht, wenn der Poller im Boden ist. „ R ot“ leuchtet sie 5 Sekunde , bevor der Poller aus dem Boden ausfähr t und so lange er nicht wieder vollständig im Boden versenkt ist. A n der Hausmauer ist darüber in ca 3 m Höhe ein Gefahrenzeichen mit der Zusatztafel „Automatische Absperrung” montiert. Es besteh t grundsätzlich aus mehr als 20 m Entfernung freie Sicht auf die Ampel und auf den Poller.

[3] 3,5 m nördlich und 3,8 m südlich des Pollers sind im Boden Induktionsschleifen angebracht. Kommt bei Rotlicht der Ampel „etwas Ferromagnetisches“ in die Induktionsschleife, senk t sich der Poller. Ist er gerade im Begriff auszufahren , wird er für 0,5 Sekunde gestoppt und senk t sich dann wie festgestellt . Aufgrund dieser Einstellung des Pollers liegt die Grenzgeschwindigkeit dafür, dass ein Lenker vor Erreichen der Sichtgrenze noch keine Aufwärtsbewegung des Pollers erkennen und dann das Absenken des Pollers noch schnell genug ausgeführt werden kann, bevor das Kraftfahrzeug den Poller erreicht, bei etwa 6,8 km/h.

[4] Der Kläger war am Unfallstag i m Begriff, mit seinem PKW die Fußgängerzone zu verlassen und näherte sich etwa zehn Minuten vor 10:00 Uhr dem Poller mit einer Geschwindigkeit von 7 bis 10 km/h. Die Ampel schaltete auf Rotlicht um, als er etwa 22,5 m entfernt war. Er hatte wegen Fußgängern keine Sicht auf die Ampel und auch nicht durchgehend auf die LED-Lichter des Pollers. Als er die aufgrund der Bauart seines PKWs und der Einstellung seines Fahrersitzes gegebene Sichtgrenze erreichte, begann der Poller auszufahren, sodass der PKW in der Folge mit dem Unterboden gegen den Poller stieß und das Auto mit einer hohen Verzögerung so abrupt zum Stillstand gebracht wurde, dass die Airbags auslösten.

[5] Der Kläger erlitt durch den explodierenden Airbag Hautwunden am Unterarm und an der Hand links sowie einen beidseitigen Tinnitus. Die Schäden am PKW wurden über den Kaskoversicherer abgewickelt, es verblieb ein Selbstbehalt von 325 EUR.

[6] D er Kläger begehrt Schmerzengeld von 5.000 EUR sowie den Ersatz des Kasko-Selbstbehalts.

[7] Die Beklagte bestritt d ie behauptete Fehlfunktion der Polleranlage, das Verschulden treffe allein den Kläger.

[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren unter Abweisung des entsprechenden Mehrbegehrens mit 2.825 EUR sA statt. Aus den Feststellungen sei kein Aufmerksamkeits- oder Fahrfehler des Klägers abzuleiten. Seine Fahr g eschwindigkeit „sei belanglos“, weil die Geschwindigkeitsbegrenzung dem Schutz von Fußgängern diene und kein „Risikozusammenhang“ mit „grenzwertig langsam reagierenden Polleranlagen“ bestehe. D ie konkrete Polleranlage samt ihren S ignalen auf „bescheidener Höhe“ sei als gefährlich einzustufen und die B eklagte habe daher für sie zu haften. Dem Kläger stehe der Selbstbehalt und ein Schmerzengeld von 2.500 EUR zu.

[9] Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht erachtete die Berufung des Klägers als teilweise, jene der B eklagten hingegen als nicht berechtigt und sprach dem Kläger neben dem Selbstbehalt ein Schmerzengeld von insgesamt 4.500 EUR zu. Es sprach zunächst aus, dass d ie ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[10] Das Berufungsgericht verwarf die Tatsachenrüge beider Berufungen und gelangte rechtlich zur Ansicht, dass eine Differenzierung zwischen der Haftung nach § 1319 ABGB und jener nach § 1319a ABGB nicht erforderlich sei, weil der Beklagten je denfalls grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei. Die Ampel sei in einer so geringen Höhe montiert gewesen, dass sie durch Fußgänger leicht verdeckt habe werden können. Außerdem sei der Poller so eingestellt gewesen, dass er bereits zehn Minuten vor der ausgewiesenen Zeit hochgefahren sei. Schließlich habe die Polleranlage „grenzwertig langsam“ reagiert. Dagegen sei dem Kläger kein Mitverschulden anzulasten, weil er mit einem Hochfahren des Pollers vor der angegebenen Zeit nicht habe rechnen müssen und er weder Sicht auf die Ampel noch durchgehende Sicht auf den ausfahrenden Poller gehabt habe. Abgesehen vom fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhang wäre die geringfügige Überschreitung der zulässigen Schrittgeschwindigkeit auch vernachlässigbar. Dass der Kläger die Fußgängerzone – mangels Ladetätigkeit – unzulässigerweise befahren hätte, habe die Beklagte in erster Instanz nicht eingewandt.

[11] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nachträglich zu, weil höchstgerichtliche Judikatur zur Frage der im Fall der Aufstellung bzw Verwendung von (automatischen) Pollern einzuhaltenden Sorgfaltsmaßstäbe und Verkehrssicherungspflichten nur vereinzelt vorliege.

Rechtliche Beurteilung

[12] Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision der Beklagten nicht zulässig . Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:

[13] 1. Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

[14] 2. Die Art und Weise und in welcher Höhe die Lichtsignalanlage angebracht war, ist zwischen den Streitteilen unstrittig (AS 23), sodass es eines besonderen Vorbringens nicht bedurfte. Soweit das Erstgericht dennoch Feststellungen traf, sind diese keinesfalls „überschießend“, weil sie jedenfalls in den Rahmen des geltend gemachten Klagegrundes fallen (vgl RS0037972 [T9]). Die Vorinstanzen durften diese Feststellungen daher ihrer rechtlichen Beurteilung zugrunde legen.

[15] 3. Darauf, ob die Beklagte grobe Fahrlässigkeit zu verantworten hat, kommt es nicht entscheidend an:

[16] 3.1 Der Oberste Gerichtshof hat nach vergleichbaren Unfällen mit versenkbaren Pollern („Pilomaten“) die Haftung des Straßenerhalters nicht nach § 1319a ABGB, sondern nach § 1319 ABGB beurteilt (2 Ob 60/11d; 1 Ob 142/13h ZVR 2014/137 [ Huber ] = ZRB 2014, 64 [ Seeber-Grimm/Seeber ]). Die Anspruchskonkurrenz zwischen diesen Bestimmungen ist nämlich dann zu bejahen, wenn ein auf einem Weg aufgeführtes Werk nicht zugleich eine im Zuge des Weges befindliche Anlage iSd § 1319a Abs 2 ABGB ist, somit nicht dem Verkehr dient, sondern diesen nach seiner Zweckbestimmung hindert (vgl 2 Ob 60/11d mwN; 8 Ob 103/17f SZ 2017/112 = RS0131782; 7 Ob 179/19b). Das trifft auch im vorliegenden Fall zu, lag doch der Zweck der Polleranlage in der Absperrung der Fußgängerzone für den zweispurigen Verkehr.

[17] 3.2 Nach herrschender Rechtsprechung trifft den Halter des Werks eine Gefährdungshaftung, von der er sich nur durch den Beweis, alle zur Abwendung der Gefahr erforderliche Sorgfalt aufgewendet zu haben, befreien kann (9 Ob 19/19p mwN; RS0023525 [T14]; RS0116783). Das Maß der Zumutbarkeit geeigneter Vorkehrungen gegen einen Schadenseintritt iSd § 1319 ABGB ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (2 Ob 243/14w; 9 Ob 19/19w; RS0029874; RS0029991).

[18] 3.3 Eine vom Obersten Gerichtshof zu korrigierende Fehlbeurteilung ist dem Berufungsgericht insoweit nicht unterlaufen. Die Beklagte gesteht in ihrem Rechtsmittel selbst ausdrücklich zu, dass ihre Lichtsignalanlage nicht den Vorgaben des von ihr als anwendbar erachteten § 39 Abs 2 StVO entspricht, wonach die Anlagen zur Abgabe von Lichtzeichen deutlich erkennbar sein müssen und der Abstand zwischen dem unteren Rand des Gehäuses und der Fahrbahn nicht weniger als 2 m und nicht mehr als 3,5 m betragen darf. Die Beklagte verweist zwar auf das Gefahrenzeichen mit der Zusatztafel „Automatische Absperrung“, vermag jedoch die Argumentation des Berufungsgerichts, dass der Kläger um 9:50 Uhr angesichts der ebenfalls „ausgeschilderten“ Befahrbarkeit der Fußgängerzone bis 10:00 Uhr mit dem Ausfahren des Pollers nicht rechnen musste (darin unterscheidet sich der Sachverhalt maßgeblich von jenem in den bereits zitierten Entscheidungen 2 Ob 60/11d und 1 Ob 142/13h), nicht zu entkräften. Auch blieb zu Lasten der Beklagten ungeklärt, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass der Poller trotz elektronischer Zeitschaltung bereits deutlich vor 10:00 Uhr automatisch ausgefahren wurde.

[19] 3.4 Die Beklagte hat nicht behauptet, dass für sie die im obigen Sinn mangelhafte Beschaffenheit der Anlage nicht erkennbar gewesen wäre (vgl 7 Ob 26/11s). Da sie die in § 1319 letzter Halbsatz ABGB geforderte objektive Sorgfalt nicht aufgewendet hat, ist die eine Haftung der Beklagten bejahende Rechtsansicht des Berufungsgerichts im Ergebnis nicht zu beanstanden. Sie wirft keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[20] 4. Letzteres gilt auch für die Verneinung eines Mitverschuldens des Klägers durch das Berufungsgericht. Die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Auffassung, den Feststellungen lasse sich keine Unaufmerksamkeit des Klägers entnehmen, ist nicht korrekturbedürftig. Zwar hielt der Kläger in Annäherung an die Polleranlage ein geringfügig über Schrittgeschwindigkeit liegendes Tempo (erwiesen sind 7 km/h) ein. Der Beurteilung der Vorínstanzen, dass die in Fußgängerzonen Schrittgeschwindigkeit anordnende Norm des § 76a Abs 6 StVO lediglich dem Schutz der Fußgänger dient, ein Verstoß gegen diese Bestimmung mit dem eingetretenen Schaden somit nicht im (hier relevanten) Mitverschuldenszusammenhang steht (vgl RS0132048), hält die Revision allerdings nichts entgegen, weshalb auf den Einwand überhöhter Geschwindigkeit nicht mehr weiter einzugehen ist.

[21] 5. Den Zuspruch von Schmerzengeld bemängelt die Beklagte mit der Begründung, dass die Vorinstanzen in der Frage der Unfallskausalität der behaupteten Tinnitus-Beschwerden nicht dem Gutachten des Sachverständigen, sondern der Aussage des Klägers gefolgt sind. Damit wendet sie sich allerdings gegen die Beweiswürdigung, die sich einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof entzieht (§ 503 ZPO). Mit der bloßen Behauptung einer „vollkommen willkürlichen Ausmessung“ wird überdies nicht dargelegt, inwieweit die Höhe des Schmerzengeldes den bisherigen Zusprüchen in vergleichbaren Fällen widersprechen soll (vgl 2 Ob 113/11y mwN).

[22] 6. Die Revision zeigt daher insgesamt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf und ist deshalb zurückzuweisen.

[23] Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

Rechtssätze
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