JudikaturJustiz15Os100/21a

15Os100/21a – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Oktober 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. Oktober 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart des Mag. Casagrande als Schriftführer in der Strafsache gegen ***** K***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 6. Mai 2021, GZ 32 Hv 41/20m 36, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, des Angeklagten und seines Verteidigers Mag. Bittner, zu Recht erkannt:

Spruch

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der Subsumtion der dem Schuldspruch zu I./ zugrunde liegenden Taten nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB, demzufolge auch im Strafausspruch aufgehoben und im Umfang der Aufhebung in der Sache selbst erkannt:

***** K***** hat durch die ihm zu I./ angelasteten Taten in einem Fall das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (idgF) und darüber hinaus mehrere Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (idgF) begangen.

Er wird hiefür sowie für die ihm weiterhin zur Last liegenden Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (II./) unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach dem ersten Strafsatz des § 207 Abs 3 StGB (idgF) zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Jahren verurteilt.

Der Angeklagte wird mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde, soweit sie den Strafausspruch betrifft, auf diese Entscheidung verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Ihm fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde ***** K***** mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (I./) sowie mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (II./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in W***** und K***** von einem nicht mehr näher festzustellenden Zeitpunkt nach dem 31. Mai 2004 bis zu einem nicht mehr näher festzustellenden Zeitpunkt im Jahr 2010

I./ in zumindest zwölf Angriffen außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person, und zwar an seiner Stieftochter ***** F*****, geboren am ***** 2000, vorgenommen, indem er sie im Genitalbereich unter der Bekleidung berührte und streichelte, wobei sie durch die Taten eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), nämlich eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetyp mit länger als 24 Tage dauernder Gesundheitsschädigung, erlitt;

II./ durch die zu I./ beschriebenen Tathandlungen jeweils mit seinem minderjährigen Stiefkind ***** F***** eine geschlechtliche Handlung vorgenommen.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 8, 10 und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der teilweise Berechtigung zukommt:

[4] Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) verfiel der Antrag auf „Ablehnung“ und „Enthebung“ der Sachverständigen DDr. W***** wegen Zweifeln (des Angeklagten) an ihrer Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit sowie am Ergebnis ihrer Expertise (ON 35 S 6) zu Recht der Abweisung:

[5] D as Erstgericht hatte in der Hauptverhandlung am 9. Oktober 2020 die Einholung eines Gutachtens zur Klärung des Vorliegens einer schweren Körperverletzung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung der ***** F***** beschlossen (ON 15 S 28) und in der Folge DDr. W***** zur Sachverständigen bestellt und beauftragt, hierüber Befund und Gutachten zu erstatten (ON 17). Nach Einlangen des schriftlichen Gutachtens DDris. W***** (ON 24 [= ON 33]) und Äußerung des Angeklagten hiezu (ON 29) stellte der zuletzt Genannte in der Hauptverhandlung am 6. Mai 2021 – vor Befragung der Sachverständigen – den oben beschriebenen Antrag. Diesen gründete er darauf, dass die Sachverständige in einer „die Beweiswürdigung des Gerichts vorwegnehmenden Weise“ von der Richtigkeit der Angaben der Zeugin betreffend den Tatzeitraum ausgegangen sei, obgleich Beweismittel für einen „tatsächlich kürzeren Tatzeitraum“ vorlägen. Da die Sachverständige dies ebenso wenig berücksichtigt habe wie andere – etwa in einer „allfälligen erblichen Vorbelastung“ gelegene – Ursachen für den psychischen Zustand der ***** F*****, stehe die volle Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit der Sachverständigen – zumindest dem äußeren Anschein nach – in Zweifel (ON 35 S 6).

[6] Der Einwand geht fehl. Eine (allenfalls auch nur dem Anschein nach bestehende) Voreingenommenheit der Sachverständigen (§ 126 Abs 4 StPO iVm § 47 Abs 1 Z 3 StPO) läge nach erfolgter Abgabe des schriftlich erstatteten (und regelmäßig eine vorläufige Meinungsbildung zum Ausdruck bringenden) Gutachtens nur vor, wenn Indizien dafür bestünden, dass die Sachverständige ihr Gutachten auch dann nicht ändern würde oder hiezu gewillt wäre, wenn Verfahrensergebnisse dessen Unrichtigkeit aufzeigen (RIS Justiz RS0115712, RS0126626; Hinterhofer , WK StPO § 126 Rz 72 und 107; Ratz , WK StPO § 281 Rz 371). Anhaltspunkte für eine solche Befürchtung bot das Antragsvorbringen jedoch nicht; vielmehr wurde nur eine (aus Sicht des Angeklagten) bislang unzureichende Berücksichtigung ihm erheblich erscheinender Verfahrensergebnisse bemängelt, welche ohne weiteres zum Gegenstand der anschließenden Befragung der Sachverständigen in der Hauptverhandlung gemacht werden konnten und dabei auch Erörterung fanden (ON 35 S 8 ff; Hinterhofer , WK StPO § 125 Rz 31, § 126 Rz 120, 162 f).

[7] Entgegen der Mängelrüge (Z 5) sind die Feststellungen zum Tatzeitraum im rechtlich relevanten Umfang keineswegs undeutlich (Z 5 erster Fall). Der Beginn des deliktischen Verhaltens wurde im Urteil unzweifelhaft mit „im Jahr 2004“, und zwar „nach dem 31. Mai 2004“ angesetzt, die letzte inkriminierte Tat „im Jahr 2010“ begangen (US 3 und 4; vgl insofern auch RIS Justiz RS0117995, RS0098557). Allfällige Ungenauigkeiten bei der Konkretisierung von Taten im Urteilstenor (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) würden sich im Übrigen – der Beschwerde zuwider – zu Gunsten des Angeklagten dahin auswirken, dass im Zweifel eine spätere Verfolgung wegen im Urteil undeutlich bezeichneter Taten nach dem Grundsatz „ne bis in idem“ ausgeschlossen wäre (RIS Justiz RS0120226).

[8] Der (inhaltlich gegen die Annahme mehrerer nach § 207 Abs 3 erster Fall StGB qualifizierter Verbrechen gerichtete) Vorwurf der Anklageüberschreitung (Z 8) ist nicht berechtigt , weil Anklage (ON 3 iVm ON 3 5 S 14) und Urteil (ON 36) denselben Sachverhalt meinen (RIS Justiz RS0113142), der Angeklagte über die Qualifikation betreffende geänderte rechtliche Gesichtspunkte (§ 262 StPO) informiert war (ON 15 S 27, ON 17; ON 25 S 14) und die seitens der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung vom 6. Mai 2021 erklärte „Modifikation“ (ON 35 S 14) den Prozessgegenstand nicht änderte (vgl Lewisch , WK StPO § 262 Rz 96). In Bezug auf den kritisierten Umstand, dass die Sitzungsvertreterin den unter Anklage gestellten Sachverhalt zu I./ als „eine“ (qualifizierte) „Tat“ und „ein Verbrechen“ nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB be zeichnete , während das Erstgericht davon abweichend von mehreren (real konkurrierenden) Taten (und Verbrechen) ausging, war der Beschwerde schon deshalb kein Erfolg beschieden, weil sie keine andere Verteidigungsstrategie plausibel machte, obwohl sich die Urteilsfeststellungen über die Tathandlungen und der Anklagevorwurf im Tatsächlichen überdecken (vgl RIS Justiz RS0126786).

[9] In diesem Umfang w ar die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten – im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zu verwerfen.

[10] Zutreffend zeigt die Subsumtionsrüge (Z 10) allerdings auf, dass – worauf auch das Erstgericht in der Urteilsausfertigung (US 11 f) und die Generalprokuratur in ihrer Stellungnahme hinweisen – die Erfolgsqualifikation des § 207 Abs 3 StGB in rechtlicher Hinsicht nicht mehrfach hätte angelastet werden dürfen: Sind mehrere gleichartige sexuelle Übergriffe nach (hier:) § 207 Abs 1 StGB für eine der Folgen nach § 207 Abs 3 StGB (mit-)ursächlich geworden, darf die Erfolgsqualifikation nur bei einer dieser Taten angelastet werden (RIS-Justiz RS0120828).

[11] Nicht im Recht ist im gegebenen Zusammenhang allerdings die Argumentation, es hätte im vorliegenden Fall hinsichtlich der qualifizierten Tat der Strafsatz des (bis zum 31. Mai 2009 in Geltung stehenden) § 207 Abs 3 erster Fall StGB idF BGBl I 1998/153 (Androhung einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren) zur Anwendung kommen müssen, weil dieser weniger streng ist als das Urteilszeitrecht nach § 207 Abs 3 erster Fall StGB idgF (Androhung einer Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren).

[12] Denn nach den Urteilskonstatierungen waren sämtliche der im Tatzeitraum von Juni 2004 bis zum letzten Vorfall im Jahr 2010 getätigten Übergriffe mitursächlich („zumindest mitkausal“) für die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typ mit einer 24 Tage deutlich übersteigenden Gesundheitsschädigung des Tatopfers (US 4 f, 9, 11 f). Da somit (jedenfalls) auch der letzte Vorfall im Jahr 2010 mitursächlich war, bestand kein Grund, die zu I./ zusammentreffenden Taten in Bezug auf die (wie bereits ausgeführt nur einmal anzulastende) Qualifikation nicht dem zur Tatzeit im Jahr 2010 bereits normierten (strengeren) Strafsatz des § 207 Abs 3 erster Fall StGB wie in der geltenden Fassung zu unterstellen. Hinsichtlich der unqualifizierten Taten sprach unter dem Aspekt des nach §§ 1, 61 StGB (konkret) vorzunehmenden Günstigkeitsvergleichs der unveränderte Strafrahmen des § 207 Abs 1 StGB (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) für die Anwendung des Urteilszeitrechts auch auf die bis zum 31. Mai 2009 verübten Taten (§ 207 Abs 1 StGB idgF; RIS Justiz RS0119085).

[13] Richtigerweise sind dem Angeklagten zu I./ somit (nur) ein Verbrechen nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (idgF) und mehrere damit real konkurrierende Verbrechen nach § 207 Abs 1 StGB (idgF) anzulasten.

[14] D as angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, war somit im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben und es war wie aus dem Spruch ersichtlich zu erkennen.

[15] Zufolge der erforderlichen Aufhebung (auch) des Strafausspruchs erübrigte sich ein Eingehen auf das aus § 281 Abs 1 Z 11 StPO erhobene Vorbringen .

[16] Bei der Strafneubemessung waren als erschwerend zu werten das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit mehreren Vergehen und der lange Tatzeitraum (§ 33 Abs 1 Z 1 StGB; RIS Justiz RS0096654) , als mildernd hingegen der bisher ordentliche Lebenswandel (§ 34 Abs 1 Z 2 StGB), die doch gewichtige teilweise Schadensgutmachung (US 5; § 34 Abs 1 Z 14 StGB), das reumütige Geständnis (§ 34 Abs 1 Z 17 StGB), das lange Zurückliegen der Taten sowie der Umstand, dass sich der Angeklagte seither wohlverhalten (§ 34 Abs 1 Z 18 StGB) und freiwillig eine Psychotherapie zur Aufarbeitung seines Verhaltens begonnen hat (US 5 iVm ON 15 S 3, 6, 10 sowie Beilagen ./1 und ./2) .

[17] In Anbetracht des anzuwendenden Strafrahmens von fünf bis zu fünfzehn Jahren (§ 207 Abs 3 erster Satz StGB idgF) und der angeführten Strafzumessungsgründe war eine dem Unrecht der Tat und der Schuld des Angeklagten angemessene Freiheitsstrafe wie aus dem Spruch ersichtlich zu verhängen.

[18] Im Übrigen war die Nichtigkeitsbeschwerde zu verwerfen und der Angeklagte mit seiner Berufung gegen den Ausspruch über die Strafe auf die Strafneubemessung zu verweisen.

[19] Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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  • RS0115712OGH Rechtssatz

    25. April 2023·3 Entscheidungen

    Die - außer dem Fall des § 252 Abs 1 StPO - in dessen Abhörung bestehende Beiziehung eines Sachverständigen zur Hauptverhandlung kann durch das Vorbringen erheblicher Einwendungen verhindert werden, auch wenn dieser bereits ein schriftliches Gutachten abgegeben hat (EvBl 1997/82). Nach § 248 Abs 1 erster Satz StPO hat das Gericht bei der Beurteilung solcher Einwendungen auf ihre rechtliche Erheblichkeit die für den Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung erteilten Vorschriften zu beobachten, soweit sie nicht ihrer Natur nach als in der Hauptverhandlung unausführbar erscheinen. Auf den Anschein der Befangenheit gestützte Einwendungen sind dabei von solchen zu scheiden, die mit mangelnder Sachkenntnis der als Sachverständiger abzuhörenden Person begründet werden. Ob sich die als Sachverständiger beizuziehende Person schon vor der Hauptverhandlung eine Meinung über den Fall gebildet hat, ist für die Beurteilung des Anscheins der Befangenheit schon deshalb ohne Bedeutung, weil eine vorläufige Meinungsbildung spätestens mit Abgabe des schriftlichen Gutachtens füglich nicht mehr zu bestreiten ist und solcherart ansonsten kein mit der Abgabe eines schriftlichen Gutachtens beauftragter Gutachter in der Hauptverhandlung abgehört werden dürfte - ein Ergebnis das offen den Verfahrensgesetzen widerspricht und den Grundsatz indirekt als zutreffend erweist. Abhörung oder Verlesung des abgegebenen schriftlichen Gutachtens sind infolge Anscheins von Befangenheit vielmehr nur dann unzulässig, wenn zu erkennen ist, dass der Sachverständige sein Gutachten auch dann zu ändern nicht gewillt sein werde oder würde, wenn Verfahrensergebnisse dessen Unrichtigkeit aufzeigen. Allein aus einer vom Gutachtensauftrag nicht erfassten und daher unangebrachten rechtlichen Beurteilung zur Stellungnahme übermittelter Texte kann eine solche Befürchtung jedoch nicht abgeleitet werden. Von vornherein unbedenklich sind Aussagen wissenschaftlicher Publikationen aus dem Sachbereich des Gutachtensauftrages. Sie indizieren Befähigung, nicht Befangenheit. Wurde das schriftliche Gutachten bereits abgegeben, bedarf es zur Beiziehung eines weiteren Sachverständigen wegen fehlender Sachkenntnis des Beauftragten eines an den Kriterien der §§ 125 f StPO ausgerichteten Antragsvorbringens. Denn auch der Untersuchungsrichter hätte sich daran auszurichten (§ 248 Abs 1 erster Satz StPO).