JudikaturJustiz13Os49/07s

13Os49/07s – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. Juni 2007

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. Juni 2007 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Kurz als Schriftführerin in dem beim Landesgericht Klagenfurt zu AZ 10 Ur 97/06b anhängigen Verfahren zur Unterbringung der Dr. Ingrid L***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Grundrechtsbeschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Graz vom 30. März 2007, AZ 10 Bs 108/07v (= ON 203 der Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Aus deren Anlass wird festgestellt, dass Dr. Ingrid L***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde. Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Text

Gründe:

Nach den Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichtes Graz ist Dr. Ingrid L***** dringend verdächtig, in L***** und Umgebung im Zeitraum 2001 bis 23. November 2005 ihre minderjährigen Töchter Viktoria M***** (geboren am 11. Dezember 1991) und Katharina M***** (geboren am 20. September 1988) sowie im Zeitraum 2001 bis zum 17. März 2006 auch die inzwischen volljährige Tochter Elisabeth M***** (geboren am 20. Juli 1986) dadurch vernachlässigt und psychisch sowie körperlich gequält zu haben, dass sie allen drei Mädchen systematisch den Pflichtschulbesuch verweigerte, jegliche Sozialkontakte (hinsichtlich Katharina und Elisabeth M***** sogar zum leiblichen Vater) unterband, sie körperlich und gesundheitlich verwahrlosen ließ und sowohl Katharina als auch Viktoria M***** die notwendige medizinische Hilfe verweigerte.

Diese für sehr wahrscheinlich gehaltenen Taten werden vom Oberlandesgericht Graz einem (gemeint: drei) Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 und Abs 3 erster Fall StGB subsumiert. Über die Genannte wurde mit Beschluss des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes Linz vom 18. März 2006 (ON 12) die „vorläufige Anhaltung" (gemeint: Einweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten) gemäß § 429 Abs 4 StPO wegen des Vorliegens des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO angeordnet.

Mit den angefochtenen Beschluss gab das - zufolge Delegierung durch den Obersten Gerichtshof nunmehr zuständige - Oberlandesgericht Graz einer Beschwerde der Betroffenen gegen die weitere Fortsetzung der vorläufigen Maßnahme nicht Folge und ordnete seinerseits deren Fortsetzung aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO an (ON 203).

Die Staatsanwaltschaft brachte am 2. April 2007 einen Unterbringungsantrag gemäß § 429 Abs 1 StPO ein (ON 198). Gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes wendet sich die von der Betroffenen eingebrachte, nach Behebung des Mangels der fehlenden Verteidigerunterschrift neuerlich vorgelegte Grundrechtsbeschwerde (ON 219).

Rechtliche Beurteilung

Der danach als „Ergänzung meiner Grundrechtsbeschwerde" von Dr. Ingrid L***** eingebrachte, beim Obersten Gerichtshof am 21. Mai 2007 eingelangte Schriftsatz ist unbeachtlich, weil im Grundrechtsbeschwerdeverfahren, das nur eine Ausführung der Beschwerde kennt, eine Ergänzung derselben nicht zulässig ist (RIS-Justiz RS0061430).

Der Beschwerde kommt keine Berechtigung zu.

Soweit die Beschwerde die Dringlichkeit des Tatverdachtes kritisiert, scheitert sie an der Unterlassung einer entsprechenden Bekämpfung in der Beschwerde gegen den Beschluss des Untersuchungsrichters und demgemäß an der Erschöpfung des Instanzenzuges (11 Os 41/06y). Die in der Grundrechtsbeschwerde begehrten Beweisaufnahmen haben unberücksichtigt zu bleiben, weil sich die Entscheidung über die Beschwerde auf den Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung zu beziehen hat (13 Os 69/98).

Die rechtliche Annahme einer der von § 180 Abs 2 StPO genannten Gefahren wird vom Obersten Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens dahin überprüft, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als unvertretbar angesehen werden müsste (RIS-Justiz RS0117806).

Die Beschwerdeführerin zeigt jedoch keinerlei Willkür bei der Annahme der Tatbegehungsgefahr auf. Das Oberlandesgericht leitete den genannten Haftgrund mängelfrei aus dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Univ. Prof. Dr. H***** ab (ON 155). Dieser kam im Rahmen seiner Expertise zu dem Ergebnis, es müsse konkret befürchtet werden, dass die Betroffene ohne Einweisung in eine Anstalt unter dem Einfluss ihrer psychischen Erkrankung auch in Hinkunft gegen Leib und Leben gerichtete Taten mit schweren Folgen begehen werde (S 207/IV). Auf dieser Grundlage aber wurde die Annahme von Tatbegehungsgefahr gesetzmäßig begründet.

Die in der Grundrechtsbeschwerde relevierte Unverhältnismäßigkeit der Anhaltung wurde in der Beschwerde gegen den Beschluss des Untersuchungsrichters vom 16. März 2007 nicht vorgebracht, sodass auch insoweit der Instanzenzug nicht erschöpft wurde. Im Übrigen stand der weiteren Anhaltung mit Blick auf die Massivität der Tatvorwürfe auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 180 Abs 1 zweiter Satz StPO, dessen Prüfung sich im Hinblick auf die fehlende zeitliche Beschränkung einer Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB nur an der Bedeutung der Sache zu orientieren hatte, nicht entgegen. Aus Anlass der Grundrechtsbeschwerde hat sich der Oberste Gerichtshof allerdings in Anwendung des § 10 GRBG iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO davon überzeugt, dass das materielle Strafrecht zum Nachteil der Betroffenen unrichtig angewendet wurde (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO). Unter Quälen iSd des § 92 Abs 1 StGB versteht man das Zufügen körperlicher oder seelischer Qualen, dh einen längeren Zeitraum andauernder oder sich wiederholender Schmerzen, Leiden oder Angstzustände, die mit einer erheblichen Beeinträchtigung des psychischen oder physischen Wohlbefindens verbunden sind (Hauptmann/Jerabek in WK2 § 92 Rz 12; vgl auch Fabrizy StGB9 § 92 Rz 3).

Für eine Strafbarkeit nach Abs 2 leg cit wiederum ist die Herbeiführung eines beträchtlichen Schadens an der Gesundheit oder der geistigen oder körperlichen Entwicklung des Schutzbefohlenen durch die Pflichtverletzung vorausgesetzt.

Weder zum (in rechtlicher Hinsicht ohnehin nicht angenommenen) Quälen noch zu einer beträchtlichen Schädigung der Gesundheit oder der körperlichen oder geistigen Entwicklung noch zu einer - für die Annahme der Qualifikation nach § 92 Abs 3 erster Fall StGB erforderlichen - aus der Tat allenfalls resultierenden Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen (§ 85 StGB) finden sich im angefochtenen Beschluss irgendwelche Sachverhaltsannahmen, sodass auf eine Verletzung des Grundrechtes auf persönliche Freiheit zu erkennen war (15 Os 36/05s, SSt 2005/31 = EvBl 2005/129, 584 = JBl 2006, 669 [Felnhofer-Luksch]).

Eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung war aber nicht angezeigt, ist dem Obersten Gerichtshof doch eine abschließende rechtliche Beurteilung auf Grund der ungenügenden Sachverhaltsgrundlagen verwehrt (§ 7 Abs 1 GRBG; vgl Reiter, Grundrechtsschutz durch den OGH, ÖJZ 2007, 391 [403]). Bei weiterer Fortsetzung der vorläufigen Maßnahme wird zu beachten sein, dass in Ansehung der in § 429 Abs 4 StPO angesprochenen Haftgründe als Bezugspunkt der Tatbegehungsgefahr - dem eindeutigen Sinn der Bestimmung entsprechend - mit Strafe bedrohte Handlungen und nicht strafbare Handlungen gemeint sind (insoweit noch unklar 13 Os 176, 177/03).

Rechtssätze
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