JudikaturJustiz12Os53/21t

12Os53/21t – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. Juli 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Juli 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Casagrande in der Strafsache gegen René B***** wegen Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 14 U 26/18z des Bezirksgerichts Hietzing, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des genannten Gerichts vom 25. September 2020, GZ 14 U 26/18z 38, und mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Oberstaatsanwältin Mag. Poppenwimmer, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 14 U 26/18z des Bezirksgerichts Hietzing verletzen

1./ die Durchführung der Hauptverhandlung am 9. August 2019, 18. Oktober 2019, 17. Jänner 2020 und 25. September 2020 sowie die Fällung des Urteils am 25. September 2020 jeweils in Abwesenheit des am 31. Dezember 2000 geborenen Angeklagten § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG;

2./ die ohne beidseitigen Verzicht auf die Wiederholung erfolgte Fortsetzung der Hauptverhandlung bei den Verhandlungsterminen am 9. August 2019, 18. Oktober 2019, 17. Jänner 2020 und 25. September 2020 § 276a zweiter Satz StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO;

3./ die in der Hauptverhandlung am 25. September 2020 ergangene Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche des Michael F*****, des Berkan K***** und der Ö***** ohne zuvor erfolgte Vernehmung des Angeklagten hiezu und an ihn gerichtete Aufforderung zur Erklärung über ein allfälliges Anerkenntnis § 245 Abs 1a StPO iVm § 447 StPO;

4./ die in der Hauptverhandlung am 25. September 2020 vorgenommene Verlesung der Protokolle über die Aussagen der Zeugen Florian T***** und Nicole B***** § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO;

5./ die Verwertung des in der Hauptverhandlung nicht vorgekommenen Inhalts von Aktenstücken, nämlich des Berichts über Jugenderhebungen (ON 5), der Gutachten der Sachverständigen Mag. R***** (ON 9) und Dr. S***** (ON 12) sowie der Strafregisterauskunft (ON 36), im Urteil vom 25. September 2020 (ON 38) § 258 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Hietzing vom 25. September 2020, GZ 14 U 26/18z 38, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Bezirksgericht verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 14 U 26/18z des Bezirksgerichts Hietzing legte die Staatsanwaltschaft Wien dem am 31. Dezember 2000 geborenen René B***** am 8. April 2018 zum Nachteil des Michael F***** und am 17. Jänner 2019 zum Nachteil des Berkan K***** begangene, als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteilte Taten zur Last (ON 3 und ON 3 in ON 14).

[2] Nach Vertagung der Hauptverhandlung am 31. August 2018 zur Einholung eines „psychologischen Gutachtens“ auf unbestimmte Zeit (ON 8 S 8) erschien der Angeklagte zu den nachfolgenden Terminen der Hauptverhandlung am 9. August 2019 (ON 18), 18. Oktober 2019 (ON 24), 17. Jänner 2020 (ON 29) und am 25. September 2020 (ON 37) nicht mehr. Bei letzterem verlas die Einzelrichterin den „Akteninhalt bezüglich der Verletzung des Herrn Michael F*****“ sowie „bezüglich der Verletzung des Herrn Berkan K*****“ (ON 37 S 2). Die Einzelrichterin setzte die Hauptverhandlung bei jedem dieser (dem 31. August 2018 nachfolgenden) Verhandlungstage fort (§ 276a erster Satz StPO).

[3] Mit Abwesenheitsurteil vom 25. September 2020 (ON 37 S 2; ON 38) erkannte das Bezirksgericht Hietzing B***** anklagekonform zweier Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer unter Bestimmung einer Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe. An die Privatbeteiligten F***** und K***** erfolgten Zusprüche in Höhe von jeweils 100 Euro, an die Ö***** in Höhe von (laut Urteilsverkündung [ON 37 S 2]) 555,48 Euro samt 4 % Zinsen ab dem 1. Jänner 2019 (davon abweichend US 2; vgl zur Notwendigkeit einer Leistungsfrist RIS Justiz RS0126774), obwohl der Angeklagte über die privatrechtlichen Ansprüche nicht vernommen und nicht zur Erklärung aufgefordert wurde, ob und in welchem Umfang er sie anerkennt.

[4] Seine Feststellungen gründete das Bezirksgericht Hietzing auf die „Erhebungen der Landespolizeidirektion Wien, die eingeholte Strafregisterauskunft, die Aussagen der Zeugen F*****, Davud E***** und K*****, den Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe sowie die Einholung eines psychologischen Gutachtens der Sachverständigen Mag. R***** und eines psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. S*****“ (US 3).

[5] Das Urteil erwuchs unbekämpft in Rechtskraft (vgl ON 45).

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokurator in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, wurde im bezeichneten Verfahren das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

[7] Vorauszuschicken ist, dass für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht die Bestimmungen für das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht, also jene über die Hauptverhandlung und das Urteil im schöffengerichtlichen Verfahren, gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).

[8] 1./ Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind in Strafverfahren gegen junge Erwachsene die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren nicht anzuwenden. Die Durchführung der Hauptverhandlung am 9. August 2019, 18. Oktober 2019, 17. Jänner 2020, 25. September 2020 und die an diesem Tag erfolgte Urteilsfällung jeweils in Abwesenheit des zu diesen Zeitpunkten 18- oder 19 jährigen Angeklagten waren daher nicht zulässig ( Schroll in WK² JGG § 32 Rz 6 und § 46a Rz 6; RIS Justiz RS0121343 [T1]).

[9] 2./ Nach § 276a erster Satz StPO ist eine vertagte Verhandlung nur dann fortzusetzen , wenn seit der Vertagung nicht mehr als zwei Monate verstrichen sind oder beide Teile auf die Wiederholung wegen Überschreitung der Frist von zwei Monaten verzichten (vgl dazu Danek/Mann , WK StPO § 276a Rz 8). Hinsichtlich der Verhandlungen am 9. August 2019, 18. Oktober 2019, 17. Jänner 2020 und 25. September 2020 lagen diese Voraussetzungen nicht vor. An diesen Tagen wäre daher die Hauptverhandlung (jeweils) zu wiederhol en gewesen (§ 276a zweiter Satz StPO) .

[10] Bleibt zu bemerken, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes und der weit überwiegenden Rechtsprechung (RIS Justiz RS0099052, RS0099022 [T1]) allein nach dem im Verhandlungsprotokoll dokumentierten tatsächlichen Geschehen zu beurteilen ist, ob die Hauptverhandlung fortgesetzt (§ 276a erster Satz StPO) oder wiederholt (§ 276a zweiter Satz StPO) wurde (vgl Danek/Mann , WK StPO § 276a Rz 3). Im Fall der hier zwar gesetzwidrigen, aber wirksamen Fortsetzung der Hauptverhandlung (in tatsächlicher Hinsicht) durften die Verfahrensergebnisse der früheren Verhandlungstermine im Urteil verwertet werden (vgl aber 11 Os 14/16t).

[11] 3./ Nach § 245 Abs 1a StPO, der dem Grundsatz des beiderseitigen Gehörs Rechnung trägt, ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Da B***** zu den privatrechtlichen Ansprüchen des F***** nicht gehört (vgl ON 8 S 6 ff) und über jene des K***** (ON 24 S 3) und der Ö***** (ON 29 S 2) nicht einmal in Kenntnis gesetzt wurde, hätte ein Zuspruch an die Privatbeteiligten nicht erfolgen dürfen ( vgl RIS Justiz RS0101197; Kirchbacher/Sadoghi , WK StPO § 245 Rz 23 mwN ).

[12] 4./ Die in der letzten (mit den früheren eine Einheit bildenden [zur gesetzwidrigen Fortsetzung siehe 2./]) V erhandlung vom 25. September 2020 vorgenommene (entgegen § 271 Abs 1 Z 5 StPO nicht näher bezeichnete) Verlesung des „Akteninhalt[es] bezüglich der Verletzung des Herrn Michael F*****“ und „bezüglich der Verletzung des Herrn Berkan K*****“ steht mit dem Gesetz ebenfalls nicht in Einklang, weil der – davon jedenfalls mitumfasste – kriminalpolizeiliche Abschlussbericht vom 3. Mai 2018 (ON 2) Aussagen der (in der Hauptverhandlung von ihrem Recht nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO Gebrauch machenden [ON 8 S 7]) Zeugen Florian Traba und Nicole Brader enthielt (ON 2 S 25 ff; vgl im Übrigen zur bloß ergänzenden Verlesung früherer Aussagen von in der Hauptverhandlung vernommener Zeugen RIS Justiz RS0110150 [T3]; Kirchbacher/Sadoghi , WK StPO § 252 Rz 31; Ratz , WK StPO § 281 Rz 230), nach der Aktenlage aber keiner der Verlesungstatbestände des § 252 Abs 1 Z 2a und 4 StPO erfüllt war (vgl 14 Os 109/09z; Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 96). Insbesondere konnte aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung sein Einverständnis über die Verlesung (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO) nicht abgeleitet werden (RIS Justiz RS0117012).

[13] 5./ Nach § 258 Abs 1 StPO hat das Gericht bei der Urteilsfällung nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist. Aktenstücke können nur insoweit als

Beweismittel dienen, als sie in der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen (§ 252 Abs 2a StPO) worden sind. Vorgekommen ist ein

Beweismittel dann, wenn es prozessordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt wurde (vgl Lendl , WK StPO § 258 Rz 3 ff).

[14] Von der zu 4./ dargestellten Verlesung waren der Bericht über Jugenderhebungen (ON 5), die (schriftlichen) Gutachten der Sachverständigen Mag. R***** (ON 9) und Dr. S***** (ON 12) sowie die Strafregisterauskunft (ON 36) nicht umfasst, sodass die Verwertung des Inhalts dieser Aktenstücke im Urteil (US 3) unzulässig war.

[15] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

[16] Einer formellen Aufhebung der von dem aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängigen Entscheidungen und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS Justiz RS0100444; Ratz , WK StPO § 292 Rz 28).

[17] Anzumerken bleibt, dass der Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft die iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützte Position der Privatbeteiligten nicht entgegensteht, weil bei – wie hier – untrennbar mit dem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) im Strafverfahren stets der Schutz des Angeklagten prävaliert (RIS Justiz RS0124740; Ratz , WK StPO § 292 Rz 43/1).

Rechtssätze
7
  • RS0124740OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) bedeutet keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst. In Strafsachen ist die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.